Wann ist ein Staat totalitär?

Scarlett

Mitglied
Also die obige Frage beschreibt ja, was mir grad auf den Nägeln brennt und ich würde gerne Eure Meinungen dazu hören. Kann man die Totalismustheorie(n) noch überzeugend anwenden?
Und wo zieht man die Grenze zwischen autoritären Regimen und totalitären?

Kann man das nach bestimmten Merkmalen abprüfen? Etwa: Einparteienstaat / Führer, Ideologie, Terror?

Habe nämlich nach der Durchsicht diverser Aufsätze das Gefühl, dass manche Autoren nicht klar genug herausstellen, warum sie die Bezeichnung totalitär für manche Regime verwenden und für andere nicht.

:grübel:

(..bewege mich ein bißchen abseits der standardbeispiele nazi-D und USSR..)
 
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Ein Staat ist dann totalitär, wenn er alle Lebensbereiche seiner Untertanen durchdringt. So die allgemeine Definition.

Konkret heißt das: Die Bürger, oder zumindest ein Teil davon - der Rest ist dann ausgegrenzt - wird in staatliche oder staatsparteiliche Organisationen gezwungen. In der Arbeit, in der Freizeit, in der Nachbarschaft.
 
Ein totalitäres System will nicht nur herrschen, sondern auch, dass die Beherrschten beherscht werden wollen.

El Quijotes Punkt ist noch sicherer: Sind die Machthaber nur an der Politik interessiert oder auch an anderen Bereichen menschlichen Lebens.
Wird sozusagen der Alltag politisiert.
 
Ein totalitäres System will nicht nur herrschen, sondern auch, dass die Beherrschten beherscht werden wollen.

El Quijotes Punkt ist noch sicherer: Sind die Machthaber nur an der Politik interessiert oder auch an anderen Bereichen menschlichen Lebens.
Wird sozusagen der Alltag politisiert.
Kann man daher die Diktaturen der Frühen Neuzeit als nicht totalitär ansehen, da ihnen eventuell die technologischen Mittel zur Durchdringung bis in den Alltag des einzelnen Menschen fehlten?
 
Ich denke, dass Technik ein wichtiger Aspekt ist.
Oder hat es damit zu tun, dass der Totalitätsbegriff von Wissenschaftlern der Geschichtsbetrachtung des 20.Jh. insbesondere geprägt wurde?

Ich denke auch, dass das Differenzieren schwer fällt. Wann greift der Staat genau tief genug in die Lebenswirklichkeit, den Lebensalltag ein in der Form ein, dass wir es mit einem totalitären System zu tun haben? Ist es schon der Geistliche von der Kanzel? Die Geheimpolizei kombiniert mit gezielter Propaganda wie unter Napoléon I? Oder können wir den technischen Fortschritt des 20.Jh. als Grundlage für ein System betrachten, welches wir als Totalitären Staat begreifen? Stimmt Letzteres, dann hätten wir andere UFs, wohin wir den Thread verschieben dürften.
 
Es sind zwei sehr gute Romane über totalitäre Regimes geschrieben worden:
"Brave New World" und "1984"; beides früher Schulstoff, also sicherlich gut bekannt. Ich habe da vier wesentliche Eigenschaften herausgezogen:

- Die "Normierung" jedweden Verhaltens
- Die Indoktrination dieser Verhaltensmuster ("Erziehung")
- Die konsequente Beobachtung jedes Verhaltens (zum Erkennen einer Abweichung)
- Die Korrektur der Abweichung (durch "Umerziehung" oder simple "Vernichtung")

Totalitär muss nicht sachlich "Gut" oder "Böse" sein. Platons Staat war offensichtlich ziemlich "totalitär". Jede regions-basierte Staatsform ist tendenziell "totalitär", soweit sie es eben kann. Moderne Technik ist "hilfreich", und wir immer hilfreicher hierzu. Es reicht aber auch schon ein "Blockwart". Die Inka Kultur war recht totalitär aufgebaut.

Ich empfinde das Wort "totalitär" als direkt diametral zu "freiheitlich-demokratisch"; dazwischen ein weites Spektrum.

Man kann den Gegenpol aber auch in "anarchistisch" sehen...
 
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Wenn also "früher" (FNZ) Bestrebungen bestanden hätten, einen totalitären Staat zu schaffen, wäre dies aufgrund der nicht zur Verfügung stehenden technischen Mittel unmöglich gewesen. Und wenn Technik ein konstituives Merkmal ist, dann dürfte das 20 Jahrhundert ja geradezu dazu prädestiniert gewesen sein - ein bißchen Zynismus, sry - ein Testfeld solcher Bestrebungen zu sein.

Im Projekt eines "Neuen Menschen" würde sich dann auch die völlige Durchdringung des Privaten durch das Politische äußern, nicht wahr?
 
Außerdem.. bestand bei früheren politischen Systemen denn ein in ihrer "Propaganda" verheißene Utopie, die als politische Zielsetzung / Sinngebung der eigenen Handlungen fungierte?
 
Ich denke, "Technik" ist kein "konstitutives Element", sie macht es einem totalitären Staat nur viel einfacher. Nimm meine 4 Elemente:
- Die Definition des Normverhaltens ist Technik unabhängig
- "Schulen" sind eine reine Organisationsleistung; ebenfalls die Vermeidung abweichender Indoktrination ("Internate")
- Beobachtung des abweichenden Verhaltens und Denunziation liegt sozusagen in der menschlichen Natur (da muss gar kein Kamerasystem im Schlafzimmer zu installiert sein)
- Korrektur des unerwünschten Verhaltens: So High-Tech waren die Koreanischen Gehirnwäscheverfahren des 2. Weltkriegs gar nicht. Und es bleibt immer noch die simple "Vernichtung"

Calvins Genf ist da durchaus studierenswert...
 
Eine andere interessante Frage ist: "Warum überhaupt?"

In unserer naiven Rationalität würden wir sagen: Es sollte dem "Staat" doch genügen, wenn wir Steuern zahlen und keinen Aufruhr machen; also: "Ewiger Landfriede", "Reichspfennig", basta!

Irgendwie funktioniert ein Staat nicht so - ich weiß allerdings nicht, warum nicht... Ein Staat will meist wie eine Glucke seine Bürger oder Untertanen detailliert zu ihrem "Glück" zwingen: Von der Wiege bis zur Bahre, vom Montag bis Sonntag, von 7 bis 7. Die Konstruktion eines "totalitären" Staats war wohl selten sofort darauf angelegt, Bürger/Untertanen wie eine Zitrone auszupressen oder ihr "Aufstandspotenzial" zu begrenzen.

Dies ergab sich nur sehr schnell, wegen der in ideologisch überregulierten Staaten üblichen verfehlten Wirtschaftpolitik.

Erst der nächste (verzweifelte) Schritt sind dann die häufig beobachteten Unterdrückungsmaßnahmen: Enteignung und Terror.

Mit einigem Glück bricht danach ein totalitäres Regime zusammen.
 
Totalitarismus - eine Gruppe von Menschen herrscht in einem Gebiet über alle anderen Menschen auf Grundlage der eigenen Unfehlbarkeit und der selbst aufgestellten unverrückbaren Wahrheit.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Totalitarismus - eine Gruppe von Menschen herrscht in einem Gebiet über alle anderen Menschen auf Grundlage der eigenen Unfehlbarkeit und der selbst aufgestellten unverrückbaren Wahrheit.
Das scheint mir nun aber alle Arten von Diktatur* (oder "Tyrannis"*) zu beschreiben.

Das Hauptaugenmerk des Tyrannen muss der Erhalt seiner (illegitimen) Macht sein. Hierzu KANN Terror ein Mittel sein, aber auch die Ausbildung von ablenkenden Freiräumen.

Totalitarismus hingegen wünscht die Regulierung (fast) aller Lebensbereiche: Verhalten, Kleidermode, Sprache, Körperform...
Meist als vereinheitlichende Gleichschaltung, aber durchaus auch als Klassengesellschaft.

Interessant am Totalitarismus ist seine enge Beziehung zu psychischen Defekten (Zwangsneurosen, Verfolgungswahn, Wahrnehmungsverzerrungen, Kontrollneurosen, Größenwahn)

---
*) Beide Begriffe unterlagen schon in der Antike einem Bedeutungswandel; ich verwende sie jetzt so wie der heutige "Volksmund"
 
Jede Diktatur (Diktator) herrscht totalitär.
Gängige Definition eines totalitären Regimes ist, wie das nun schon mehrere Mitglieder beschrieben haben, dass sie alle Lebensbereiche durchdringt. Das war im NS-Regime so, dass war in der DDR so.
In lateinamerikanischen Diktaturen oder den Militärdiktaturen in der Türkei, Myanmar und in Griechenland war dem aber nicht so. Hier stützte sich die Elite weniger auf den Rückhalt in der Bevölkerung, sondern auf die Streitkräfte. Es mögen hier im kleinen auch Mischformen aufgetreten sein - natürlich haben die Faschisten, dort wo sie herrschten auch Macht durch Militarisierung ihrer Parteien erreicht und in nichtfaschistischen bzw. nichtstalinistischen Diktaturen hat es auch die Zwangs- oder Pressmitgliedschaft in staatsparteilichen Organisationen gegeben, aber sie waren nicht totalitär. Der Zusatz wäre geradezu absurd, wenn alle Diktaturen totalitär wären. Und so muss man sogar davon ausgehen, dass es nichttotalitäre Diktaturen geben könnte, in denen die Staatsmacht vom Volk angenommen ist. Eine fiele mir sogar ein, aber das ist formell eine Monarchie.
 
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Wohl eher würde jede Diktatur gern totalitär herrschen wollen.
Was ich mir grad dachte, besteht in der totalitären Ausprägung einer Diktatur nicht ein besonderer Grad der Effektivität? Das Maximum an Kontrolle, die konkrete Ideologie ist hierbei eigentlich egal, die für die Herrschenden ein Maximum an Herrschaftsdauer
bedeuten?

Die politische Konnotation, in Verbindung mir inflationärem Gebrauch des Wortes "totalitär" ist etwas, dass mir ein bißchen Schwierigkeiten bereitet. Kroatische und serbische Historiker behaupten, dass das Jugoslawien vor (und auch danach) dem Stalinkonflikt ein totalitäres Regime war (gestützt von amerikan. Historikern). Dem neige ich zuzustimmen, nur wie "beweise" ich es?

Andere zählen Standardbeispiele auf, wie NS-D, Spanien unter Franco und Italien unter Mussolini --- und natürlich mit der UdSSR. Bei letzterem Beispiel wird gelegentlich behauptet, die USSR war eigentlich der einzige Staat, der wirklich totalitär war.
(Die Behauptung macht mich fertig :D )
Nur führt kaum jemand wirklich aus, welche Kriterien er für die Bezeichnung anlegt und warum er genau meint, dieser oder jener Staat sei totalitär.
 
Ich kann da auch nicht mit Referenzen dienen, mir aber sehr wohl die herrschende Verwirrung vorstellen.

Wie Scarlett sagte (und ich weiter oben auch), ist eine Diktatur erst einmal an der Stabilisierung der Herrschaft (eventuell einer "Dynastie") interessiert. Methodisch gibt es hierzu viele Möglichkeiten. Die vollständige Indoktrination der Beherrschten ist die weitreichendste.
Ein "unpolitischer" Freiraum ist natürlich auch möglich (und eventuell auch ein Teil der diktatorischen Methodik: "Ein fettes, faules Volk wird keinen Aufstand machen..")
Faktisch führt Reichtum allerdings zum Streben nach politischer Macht.
Andere Knackpunkte, die einem Diktator zu denken geben:
- Kritisches öffentliches Denken (Pressefreiheit, Universitäten, Intellektuelle)
- Ausländischer "subversiver" Einfluss
- Alternative (= nicht staatstragende) Ideologien (Religionen)

Es ist klar, wie eine "gefestigte" Diktatur auszusehen hat: Gemäßigte Freiräume in politisch unbedenklichen Gebieten, Staats(quasi)religion, Zensur (Medien, Schule), Verbot von "Reichtum", strikte Kontrolle von Ein- und Ausreise.

Diese Maßnahmen kommen aus der "defensiven Ecke", sie dienen der Aufrechterhaltung des Macht. Man KANN so ein Regime als "totalitär" bezeichnen.

Der Diktator handelt aber sinnvollerweise wie ein "Machiavellischer Fürst".

Ich sehe da einen prinzipiellen Unterschied zu religiös-ideologisch begründeten Herrschaften (Cavins Genf, einige "fundamentalistische" Staaten, Nordkorea, die Herrschaft der "Roten Khmer", Reich der Inka, die UdSSR,..)
- Das Reglement durchzieht ALLE "privaten" Bereiche
- Die Herrschaft ist prinzipiell nicht an die Person gebunden (=der Herrscher ist ein "Symbol"), d.h. es gibt ÜBER den Diktatoren stehendes GESETZE, die ihre Nachfolge, möglicherweise sogar Absetzung (!) regelt.

Diese beiden Herrschaftsformen benutzen (natürlich) die gleichen Methoden zur Herrschaftsabsicherung, und sind auf dieser Basis kaum voneinander zu trennen...

Eine interessante Unterscheidung ist auch, ob ein Diktator eine Ideologie als Staatsreligion erfindet (Mussolini, Hitler), oder nur ihr ausführendes Organ ist...

Es gibt auch noch das Problem der "Verrückten Diktatoren", die sich also nicht - wie ein Machiavllischer Fürst" - extrem rational verhalten...

Häufig findet man auch "Staatsterror". Terror (="Furcht und Schrecken") ist eine Demonstration absoluter (="regellosen") Macht, die die Wirtschaftbasis eines Staates aufs äußerste schädigt. Kein gutes Mittel, weder für eine Diktatur, noch für ein totalitäres Regime.
 
Die Ideologie könnte hier etwas Entscheidendes sein, da sie doch gleichermaßen die Weichen zu einem längerfristigen Projekt stellt, die das Eindringen des Staates in die Privatsphäre "legitimiert".
Wenn der Bürger eingespannt wird in so ein ideologisches Projekt (und Staat für sich in Anspruch nimmt, die Interessen dieses Bürgers zu "vertreten" ) dann entstünde fast automatisch das "Recht" zur ausgreifenden Kontrolle. Jede Handlung wäre dann politisch und obläge der "rechtmäßigen" Kontrolle des Staates, der ja nur über die Einhaltung der Ideologie wacht, die per se immer im Recht ist.

Hier könnte auch ein Unterschied zu einer "normalen" Diktatur sein, hinter der kein so ein längerfristiges Projekt steckt.


In der Theorie klingt das toll und logisch, wenn man es jedoch auf die Praxis anwenden möchte.................. *haare'rauf*
 
Ein "unpolitischer" Freiraum ist natürlich auch möglich (und eventuell auch ein Teil der diktatorischen Methodik: "Ein fettes, faules Volk wird keinen Aufstand machen..")

Das könnte eben auch ein Ansatzpunkt sein, einem totalitärem Regime gäbe es keine solchen Freiräume.
Einem Diktator könnte bei dies bei gesicherter Machtstellung eigentlich schnurz sein, weil er die totale Durchdringung der Privatsphäre gar nicht beabsichtigt.
 
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