War das Wilhelminische Kaiserreich ein demokratischer Rechtsstaat?

Konnte ein vom Kaiser eingesetzter Kanzler auch gegen Mehrheiten im Reichstag regieren? Gab es eine de-facto-Kontrolle der Regierung?

Meines Wissens gab es eine de-facto-Kontrolle der Regierung durch den Reichstag, die sich im Laufe der Jahre seit 1871 noch verstärkte. Die Haushaltshoheit und die Gesetzgebungsgewalt lag ohnehin beim Reichstag. Dagegen konnte ein vom Kaiser ernannter Reichskanzler nicht wirklich regieren.
 
Meines Wissens gab es eine de-facto-Kontrolle der Regierung durch den Reichstag, die sich im Laufe der Jahre seit 1871 noch verstärkte. Die Haushaltshoheit und die Gesetzgebungsgewalt lag ohnehin beim Reichstag. Dagegen konnte ein vom Kaiser ernannter Reichskanzler nicht wirklich regieren.

Die Reichsgesetzgebung erfolgte gemäß Verfassung "in Übereinstimmung von Bundesrat und Reichstag". Der Reichstag besaß lediglich das Recht der Gesetzesinitiative, doch galt ein Gesetz nur dann als beschlossen, wenn der Bundesrat - also die Vertretung der deutschen Fürsten - ebenfalls zugestimmt hatte. Allerdings war der Reichskanzler in diesem Verfahren auf die Mehrheit des Reichstags angewiesen, die er sich immer wieder neu suchen musste.

Auf die Regierungsbildung hatte der Reichstag keinen Einfluss, da der Reichskanzler allein vom Kaiser berufen oder entlassen wurde. Außerdem konnte der Kaiser den Reichstag jederzeit auflösen und Neuwahlen anberaumen.

Allerdings wurden die öffentlichen Debatten im Reichstag für die politische Meinungsbildung in Deutschland zunehmend wichtiger. Die öffentliche Meinung, die etwa in Zeitungen zum Ausdruck kam, beeinflusste politische Entscheidungen immer stärker. Der Bundesrat, der formal ein starkes Mitspracherecht hatte, trat demgegenüber im Bewusstsein der Bevölkerung immer mehr in den Hintergrund.
 
Der Bundesrat früher und heute

(...) wenn der Bundesrat - also die Vertretung der deutschen Fürsten - ebenfalls zugestimmt hatte. Allerdings war der Reichskanzler in diesem Verfahren auf die Mehrheit des Reichstags angewiesen, die er sich immer wieder neu suchen musste.(...).

Danke für diese Info.
Im Zusammenhang mit dem Bundesrat ist es interessant, dass der damalige Bundesrat im Kaiserreich ähnlich konstituiert war, wie der heutige Bundesrat. Im Gegensatz zu anderen Zweikammersystemen bestand weder der alte Bundesrat noch besteht der heutige Bundesrat aus vom Volk gewählten Vertretern, sondern aus delegierten Vertretern der Landesregierungen. Diese vertreten natürlich die Mehrheitsverhältnisse in den jeweiligen Ländern. Die zweiten Kammern in vielen anderen Ländern z.B. der US-Senat oder der schweizerische Ständerat bestehen aber aus direkt vom Volk gewählten Abgeordneten. Unser System gab und gibt den Landesregierungen eine besonders starke Position.
 
Unser System gab und gibt den Landesregierungen eine besonders starke Position.

Das mag ein Erbe des Bundesrats im Kaiserreich oder des Reichsrats der Weimarer Republik sein.

Allerdings hatte der Reichsrat insofern weniger Macht als der heutige Bundesrat, als er keine eigenen Gesetzesentwürfe einbringen konnte.
 
Das mag ein Erbe des Bundesrats im Kaiserreich oder des Reichsrats der Weimarer Republik sein.

Allerdings hatte der Reichsrat insofern weniger Macht als der heutige Bundesrat, als er keine eigenen Gesetzesentwürfe einbringen konnte.


Das wäre vielleicht auch heute besser. :still: Aber das ist wohl schon Tagespolitik, die man hier lassen sollte. Geschichtlich kann man die Frage stellen, ob die Länder eine solch starke Rolle in der Verfassung spielen würden, würde man heute eine neue deutsche Verfassung ausarbeiten, ohne Vorgaben der Siegermächte.
 
Das wäre vielleicht auch heute besser. :still: Aber das ist wohl schon Tagespolitik, die man hier lassen sollte. Geschichtlich kann man die Frage stellen, ob die Länder eine solch starke Rolle in der Verfassung spielen würden, würde man heute eine neue deutsche Verfassung ausarbeiten, ohne Vorgaben der Siegermächte.

Die Frage kann man stellen, aber dann in einem anderen Thread. Falls ich mich nicht vollkommen irre, gab es auch bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes Überlegungen zu einem Zentralstaat. In der DDR wurden übrigens die Länder in den frühen 50er Jahren aufgelöst und ein Zentralstaat gebildet.

Zurück zum Kaiserreich: Wir haben demokratische Elemente, wie den Reichstag, in dem über die Politik des Reiches debattiert wurde, Gesetze und das Staatsbudget beschlossen wird. Darüber bildete sich auch in einer freien Gesellschaft eine öffentliche Meinung. Zu untersuchen wäre, wie weit der Kaiser bzw. die Reichseregierung auf das Parlament und die öffentliche Meinung Rücksicht genommen haben. Undemokratisch ist die Ernenung des Kaisers, der den Kanzler ernennt und entlassen kann. Undemokratisch ist die Institution des Kaisers bzw. der Landesfürsten, die "von Gottes Gnaden" eingesetzt worden sind.

Übrigens auch zu beachten, wäre das Wechselspiel zwischen dem Kanzler von Kaisers Gnaden und dem Kaiser von Gottes Gnaden. Hatte nicht Wilhelm I sich beklagt, wie schwierig es sei Kaiser unter Kanzler Bismarck zu sein?:rofl:
 
(...)Undemokratisch ist die Ernenung des Kaisers, der den Kanzler ernennt und entlassen kann. Undemokratisch ist die Institution des Kaisers bzw. der Landesfürsten, die "von Gottes Gnaden"

Die Tatsache, dass der Kaiser nicht demokratisch gewählt wurde ist kein Argument. Monarchen werden in der Regel nicht gewählt (Ausnahmen waren die polnischen Könige und die deutschen Kaiser im alten Reich). Auch heute noch gibt es Staaten, die untadelige Demokratien sind, deren Könige nach dem Prinzip der Erbfolge gekrönt werden.
Das Demokratiedefizit des zweiten Kaiserreiches bestand nicht wegen der Erbfolge des Kaisers, sondern wegen der beschränkten Rechte des Reichstages.
 
Die Tatsache, dass der Kaiser nicht demokratisch gewählt wurde ist kein Argument. Monarchen werden in der Regel nicht gewählt (Ausnahmen waren die polnischen Könige und die deutschen Kaiser im alten Reich). Auch heute noch gibt es Staaten, die untadelige Demokratien sind, deren Könige nach dem Prinzip der Erbfolge gekrönt werden.
Das Demokratiedefizit des zweiten Kaiserreiches bestand nicht wegen der Erbfolge des Kaisers, sondern wegen der beschränkten Rechte des Reichstages.

Damit (mit dem von mir hervorgehobenen) stimme ich überein. Auch damit, dass auch die heutigen konstitutionellen Monarchien Demokratien sind.

Ein undemokratisches Element sehe ich in der Ernennung des Reichskanzlers, der nicht vom Reichstag gewählt bzw. abgewählt werden kann, sondern vom Kaiser ernannt wird. Ein Gegensatz zu den heutigen Monarchien. Königin Elisabeth II in London oder König Philipp IV in Madrid oder Carl-Gustav XVI in Stockholm können nicht ohne oder gegen das Parlament den jeweiligen Regierungschef bestimmen.
 
Nun, und das ist ein wichtiger Punkt, hat der Reichstag jedoch nicht das Recht den Kanzler zu wählen und daher keinen unmittelbaren Zugriff auf die Exekutive.

Der Kanzler wird vom Kaiser eingesetzt, und damit auch das Kabinett, also die Ministerriege.

Das sind unmittlabr wichtige Aspekte, die nicht nur die normative Seite der Verfassungswirklichkeit in Preußen und im Deutschen Reich betreffen, sondern auch die deutlich komplexere Seite der Realpolitik.

Im "Machtstaat vor der Demokratie" (T. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. II, S. 741 ff) beschreibt Nipperdey die zunehmenden Probleme von Bethmann Hollweg, einen Ausgleich zwischen KW II und den Parteien im Reichstag herzustellen. Gleichzeitig aber auch eine Majorität im Reichstag für seine Politik zu erzielen durch Koalitionen von bündnisfähigen Parteien.

In diesem Sinne war der Kanzler zunehmend, obwohl durch den Kaiser ernannt, bereits den Mechanismen der parlamentarischen Demokratie unterworfen (J. Retallack: The Authoritarian State and the Political Mass Market, in: Müller & Torp: Imperial Germany Revisited, 2011, S. 83 ff). Er konnte gar nicht mehr ohne die Zustimmung durch das Parlament in einzelnen Politikarenen effektiv regieren und war somit, trotz seiner Ernennung durch den Kaiser, sowohl der öffentlichen Meinung und der Meinungsbildung in den Parteien und den jeweiligen sehr aktiven Pressure Groups unterworfen.

Eines der daraus resultierenden demokratietheoretischen Probleme war, dass sich im DR ein problematisches Rollenverständnis der Parteien bzw. der Parlamentarier entwickelte, die sich primär als Interessenvertreter definierten und nicht als einer Regierungspartei zugehörig fühlten. Und nur so lange bereit waren die Politik der Kanzlers im Rahmen von Partei-Bündnissen zu unterstützen, wie der Kanzler ihren Interessen Aufmerksamkeit schenkte. In diesem Umfeld instabiler parlamentarischer Unterstützung konnten notwendige Reformen nicht durchgesetzt werden.

Dieses Verhalten des Reichstags wird ein massives Problem für die Weimarer Republik werden. Da die Parteien sich weder im DR noch in der WR als Fraktionen des Kanzlers mit dem entsprechenden "Fraktionszwang" bei Abstimmungen definiert haben, konnten stabile Mehrheiten schwer zustande kommen. Ein Aspekt, der vor allem die Arbeit der Kanzler in der WR belastet hat und auch erklärt, warum Präsidial-Kabinette überhaupt erst denkbar werden konnten.

In diesem Sinne zeigt sich an der Tatsache der Ernennung des Kanzlers durch den Monarchen im DR nicht nur die Antiquiertheit des politischen Systems, sondern beeinflusst noch das Verhalten des Parlaments in der Weimarer Republik.

Dem Parlament war im DR die Rolle und die Erfahrung vorenthalten worden, für die Politik des Kanzlers und seiner Regierung, Verantwortung zu übernehmen. Eine folgenschwere Hypothek m.E.
 
Zuletzt bearbeitet:
Schon klar, nur war der erste Weltkrieg ja im Grunde der Todesstoß für das alte Europa, so dass man sagen kann, im friedlichen wilhelminischen Zeitalter konnte, oder wollte man die Folgen nicht abschätzen. Ich dachte, die zivile, kaiserliche Gesellschaft sei in diesem Thread gefragt gewesen. ;)
dann waren es deiner Ansicht nach eindeutige Friedenstaubenüberlegungen, welche das Kaiserreich bewogen, schon vor 1914 monströse Riesenfestungen (wie Metz, Köln, Diedenhofen, Mutzig, Thorn, Graudenz etc.) zu bauen, eine moderne Kriegsflotte zu installieren, Brisanzartillerie zu perfektionieren (z.B. die monströse "dicke Bertha") ??? ;)
 
Dieses Verhalten des Reichstags wird ein massives Problem für die Weimarer Republik werden. Da die Parteien sich weder im DR noch in der WR als Fraktionen des Kanzlers mit dem entsprechenden "Fraktionszwang" bei Abstimmungen definiert haben, konnten stabile Mehrheiten schwer zustande kommen.

Ein Aspekt, der vor allem die Arbeit der Kanzler in der WR belastet hat und auch erklärt, warum Präsidial-Kabinette überhaupt erst denkbar werden konnten.

In diesem Sinne zeigt sich an der Tatsache der Ernennung des Kanzlers durch den Monarchen im DR nicht nur die Antiquiertheit des politischen Systems, sondern beeinflusst noch das Verhalten des Parlaments in der Weimarer Republik

Kann man so weit gehen, hier eine "Hypothek" zu sehen, sozusagen "antrainiert"?

Sicher, es gab Kontinuitäten in dem Sinne, dass im Weimarer Parlament auch Vertreter der Eliten des Kaiserreichs saßen.

Dagegen sprechen veränderte politische Konstellationen bzw. Koalitionen, situative Einflüsse der mannigfachen Probleme in der WR und letztlich personelle Einflüsse in den Regierungen und sie stützende Parteien etc.
 
Kann man so weit gehen, hier eine "Hypothek" zu sehen, sozusagen "antrainiert"?

Das ist m.E. eines der zentralen Probleme bei der "implantierten" Demokratie in vielen Ländern. Und auch für die WR.

Zur Demokratie, die im DR aus den formulierten Gründen defizitär war, gehören nicht nur Verfassungsnormen, sondern die Fähigkeit in einem demokratischen Diskurs Kompromisse zu finden und diese dann auch zu vertreten.

Und auch diese Kompromisse parteienübergreifend zu vertreten, wie das in vielen "älteren" Demokratien gerade auch im Bereich der Außenpolitik zu erkennen ist.

Und wenn man den Bogen noch weiter spannen möchte, dann liegt gerade in der "Begleitung" des Lernens der Demokratie nach 1945 durch die West-Deutschen vor allem durch die USA und durch GB das große und bleibende Verdienst dieser beiden Länder.

Dagegen sprechen veränderte politische Konstellationen bzw. Koalitionen, situative Einflüsse der mannigfachen Probleme in der WR und letztlich personelle Einflüsse in den Regierungen und sie stützende Parteien etc.

Aber es gab kein parlamentarisches Selbstverständnis, auch organsiert als Fraktionszwang, das stabile Mehrheiten gerade in der Spätphase, ab 1928, in der WR erzeugt hätte. Der Parlamentarier gehörte zwar Parteien oder Fraktionen an, aber fühlte sich frei in seinem Stimmenverhalten. Was positive und negative Seiten hat. Für Weimar eher negative m.E.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist eine interessante Sichtweise auf politische Kultur bzw. Fähigkeiten. War mir so nicht bewusst.

Was ist aber mit den situativen und personellen Diskontinuitäten? Frankreich und Großbritannien, die den aufkommenden Extremismus überstanden haben, gehörten zu den Siegern des Weltkrieges. Die Ausgangslage der Verlierer war da schlechter.

Ich bin nicht sicher, dass man diese Entwicklungen auf diese Hypothek zurückführen kann.

Das kann aber ein Faktor gewesen sein.
 
(...)weder im DR noch in der WR(...)

Danke Thanepower für den detaillierten und hoch interessanten Beitrag.

Eine kleine Bemerkung kann ich mir doch nicht verkneifen: Das "DR", also das Deutsche Reich bismarckscher Prägung, bestand von 1871 bis 1945. Nicht nur das wilhelminische Kaiserreich, sondern auch die Weimarer Republik ("WR") hatte den offiziellen Staatsnamen "Deutsches Reich".
 
(...)Und wenn man den Bogen noch weiter spannen möchte, dann liegt gerade in der "Begleitung" des Lernens der Demokratie nach 1945 durch die West-Deutschen vor allem durch die USA und durch GB das große und bleibende Verdienst dieser beiden Länder.(...)

Tut mir leid, aber bei dieser Bemerkung sträuben sich mir die Haare. Es wird leider immer wieder so getan, als hätten die Deutschen (genau genommen die Westdeutschen) erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Hilfe der westlichen Siegermächte die Demokratie so richtig gelernt. Das ist meiner Meinung nach Unsinn. Unsere parlamentarische und rechtsstaatliche Tradition geht zurück bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es gab nach der Revolution 1848 eine demokratische Nationalversammlung. Selbst das Zweite Kaiserreich war zwar kein perfekter demokratischer Staat, aber er hatte weitreichende demokratische Züge, wie hier in diesem Strang immer wieder diskutiert. Die Weimarer Republik war ohne jeden Zweifel eine Demokratie. Also machen wir uns nicht schlechter als wir sind, was unsere demokratische und rechtsstaatliche Tradition anbelangt.

Zu dem Verdienst "dieser beider Länder" (USA und GB) kann ich nur sagen, dass sie nach dem Krieg ganz andere Ziele Deutschland betreffend hatten. Ich wage mir nicht vorzustellen, was passiert wäre, hätte nicht der Ost-West-Konflikt Ende der 40er Jahre begonnen und hätte man nicht die Westdeutschen plötzlich gebraucht.
 
dann waren es deiner Ansicht nach eindeutige Friedenstaubenüberlegungen, welche das Kaiserreich bewogen, schon vor 1914 monströse Riesenfestungen (wie Metz, Köln, Diedenhofen, Mutzig, Thorn, Graudenz etc.) zu bauen, eine moderne Kriegsflotte zu installieren, Brisanzartillerie zu perfektionieren (z.B. die monströse "dicke Bertha") ???

Rüstung muss man nicht immer gleichsetzen mit Kriegserwägung, oder gar -vorbereitung. Alle Länder Europas waren 1914 und davor hoch gerüstet. In Frankreich existierte seit dem mittleren bis späten 19. Jahrhundert die Barrière de fer, eine Festungskette nahe Paris um verschiedene Städte Ostfrankreichs. Die nützte zwar nie was, war aber da.
Man könnte in Sachen Rüstung Deutschland nur die lange Tradition bei den Preußen vorwerfen, die eventuell dazu geführt hat, dass es hier ein wenig übertrieben hat. Aber Deutschland als Agressor oder gar Haupt - Kriegsschuldigen vor dem WK1 hinzustellen, halte ich für arg gewagt, auch wenn wir sicher eine (relativ geringe) Teil-Schuld am WK1 haben. Ich halte den Blankoscheck für unsere Hauptsünde, weil wir uns da jegliche Verhandlungsmöglichkeit und diplomatische Wege, die Krise zu lösen, verbaut haben und uns komplett in die Hände K.u.K. - Österreichs begaben. Dummsinnige Aktion.
 
Ist das von Retallack?

Teilweise. Im Prinzip wird für das DR festgestellt, dass es eine starke sozio-ökonomische Polariserung gab, wie Beispielsweise im "sozial-moralischem" Milieu-Modell von Lepsius, die sich auf die politische Repräsentanz auswirkte. Zudem, folgt man Dahrendorf, ergab sich eine starke schichtensprezifische Reproduktion für das DR und in der Folge auch für die WR (7, S. 248)

Soziales Milieu ? Wikipedia

Das ergab, neben allen politischen und sozialen Brüchen, zunächst eine relativ hohe Konstanz zwischen Wählern und Gewählten.

Bei Retallack (4) findet sich der Hinweis auf das "Lernen" von politischen Mechanismen und Werte und gibt diesem real vorhanden Prozess der Politisierung im DR die Beurteilung mit, dass sie "avant la lettre" erfolgte und somit die Übernahme demokratische Spielregeln ansatzweise äußerlich blieb und die politische Kultur des autoritären Staates sich durch diesen Prozess nicht veränderte(8)

Diesen Aspekt habe ich beim Zitieren von Retallack aufgegriffen und als problematisch Konstanz im Selbstverständnis vom DR in die WR auf der Ebene der parlamentarischen Praxis zwischen Legislative und Exekutive thematisiert.

Wie Retallack, in Anlehnung an die Diss on Fairbain (The German Elections of 1898 an 1903) feststellt, gab es lediglich eine geringe Bereitschaft der politischen Eliten ihre Konflikte zu lösen oder zeitlich zu beschränken (3, S. 224)

Für die Übergangsphase vom Kaiserreiche zur WR (1918-1919) sind es zwei Faktoren, die bei Wehler auch als „strukturelle Belastungen“ thematisiert werden und die politische Kultur von Weimar prägen sollten.

1.Der Zusammenbruch des wilhelminischen politischen Systems ohne eine umfassende Veränderung des politischen Systems. Und mit der Konsequenz, das die politische Machtbasis der ostelbischen, nicht selten aristokratischen, Großagrarier weitgehend intakt geblieben ist und vor allem das reaktionäre politische Selbstverständis des preußischen "Drei-Klassen-Wahlrechts" in die WR übernommen worden ist.

2.Der verlorene Krieg und seine vertragliche Festschreibung des Schuldeingeständnisses im VV inklusive der Formulierung der Dolchstoßlegende eines angeblich unbesiegten Heeres im Felde. Und der Möglichkeit zur innen- und außenpolitischen Instrumentalisierung. Und das Potential barg, die monarchischen oder zunehmende nationalsozialistische Traditionen in den Vordergrund zu stellen.

In jedem Fall aber im Kern deutliche anti-demokratische Strömungen aus dem DR in die WR übernommen worden sind und im Kern systemüberwindende, diktatorische Zielrichtungen hatten.

Für die Gründungsphase der WR (1918-1923)sind es zusätzlich zwei normative Aspekte, die über ihren unmittelbaren zeitlichen Bezug für die WR Geltung gewinnen sollten und sich destabilisierend in der Schlussphase auswirken sollten.

3. Mit der Verfassung der WR wurde einem „jakobinischen, Parlamentarismus" der Riegel vorgeschoben, der die Legislative und die sie tragenden Parteien gegenüber anderen Organen der Verfassung schwächte. Verstärkt durch das tradierte wilhelmische Verhaltensmuster, das auf eine relativ starke Distanz zwischen den jeweiligen Vertretern der Parteien in der Regierung und ihren eigenen Parteien hinauslief (1, S. 500).

Dieses strukturelle Missverständnis des Parlamentarismus lief auf eine vertikale Trennung zwischen Exekutive und Legislative hinaus, anstatt die horizontale Trennung nach Regierungsparteien und Oppositionsparteien zu betonen, wie bereits im DR (6). Die Konsequenz für die WR war, dass es die Formulierung eines übergreifenden, die Parteien bzw. ihre Vertreter im Reichstag bindenden Konsens deutlich erschwerte.

Und stattdessen fast alle Parteien im Reichstag in enger Anbindung an die Interessenstrukturen Ihrer Klientel agierten, auf der Ebene des Reichstags dennoch integriert durch ein mehr oder minder ausgeprägtes nationales Pathos und nicht unerheblich durch eine anti-sozialistische Sammlungsbewegung der konservativen Kräft(6).

1.Büttner, U. Weimar. Die überforderte Republik 1918 – 1933, 2008
2.Wehler, H-U: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1914 – 1949, 2008
3. J. Retallack: Liberals, Conservatives and the Modernization State. in: G. Eley (ed): Society, Culture and the State in Germany 1870-1930, 1997, S. 221f
4. J. Retallack: The Authoritarian State and the Political Mass Market, in: Müller & Torp: Imperial Germany Revisited, 2011, S. 83 ff
5. M. Hewitson: Wilhelmine Germany: in J. Retallack: Imperial Germany 1871-1918, 2008
6. T. Kühne: Political Culture and democratization: in J. Retallack: Imperial Germany 1871-1918, 2008
7. R. Dahrendorf: Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965
8. T. Kühne: Die Jahrhundertwende, die lange Bismarckzeit und die Demokratisierung der politischen Kultur, in: L. Gall: (ed) Otto von Bismarck und Wilhelm II. Repräsentaten eines Epochenwechsels, 2000, S. 85 ff
 
Rüstung muss man nicht immer gleichsetzen mit Kriegserwägung, oder gar -vorbereitung.

Das ist nicht richtig und deckt sich kaum mit dem - gerne zitierten - aktuellen Forschungsstand. Der Rüstungswettlauf nach 1908 ist ein zentrales Element für die Fachhistoriker, dass als strukturelles Merkmal erst erklären hilft, wie eine kriegerische Sicht überhaupt in praktische Kriegsführung übersetzt wurde. Und wieso kleine Gruppen in den jeweiligen Hauptstädten überhaupt über Instrumente verfügten, die über ein bis dahin nicht gekanntes Zerstörungspotential verfügten.

Nur durch diese gezielte und intensivierte Rüstung im Vorfeld von 1914 waren die europäischen Nationen bereit, Krieg zu führen.

Wie man leicht, wenn man den will, bei Hermann (The Arming of Europe and the making of the First World War, 1996, S. 225), der schriebt:

" Between 1904 and 1914 a major change came about in the way European statesmen perceived military power, and that change made war a more likely outcome of the 1914 crisis than of those in the preceeding decade."

Zu ähnlichen Feststellungen kommt D. Stevenson (Armaments and the coming of War. Europe, 1904 -1914, 1996.

Allerdings war dieser Prozess der deutlichen Zunahme an Rüstung nicht so zwingend, den Ausbruch zu erklären (D. Stevenson: Was a peacefull Outcome thinkable? The European Land Armanent Race before 1914, in: Afflerbach & Stevenson: An improbable War. 2007)

Deswegen ist obige Ausage von "Rebellution" wohl eher als eine sehr subjektive Sicht zu verstehen. Und in der Regel führt eine intensivierte "Rüstung" in einen Krieg, wenn man mal vom "Sonderfall" des atomaren Wettrüstens absieht. Allerdings ist da das letzte, entscheidende Kapitel noch gar nicht geschrieben.
 
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