Wir sollten zunächst einmal "Militarismus" definieren.
Hier eine Kurzfassung aus Wikipedia:
Als Militarismus wird die Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben bezeichnet, wie sie etwa durch die einseitige Betonung des Rechts des Stärkeren und die Vorstellung, Kriege seien notwendig oder unvermeidbar, zum Ausdruck kommen oder durch ein strikt hierarchisches, auf Befehl und Gehorsam beruhendes Denken vermittelt werden.
Du hast recht, die Verhältnisse in Deutschland, Großbritannien und Frankreich waren unterschiedlich, so wie du sie beschreibst. War nun aber Deutschland "militaristischer" als die beiden Rivalen. Das wird ja immer behauptet. Wenn man zwei weitere Begriffe hinzufügt: "Imperialismus" und "Nationalismus", die ja beide eng mit dem "Militarismus" zusammenhängen, wird die Sache schon differenzierter. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich waren wohl "imperialistischer" als das saturierte Deutsche Reich. "Nationalistisch" waren wohl alle drei Staaten. War nun Deutschland "militaristischer" als die beiden anderen? Ich bin mir zumindest nicht sicher. Dieser Vorwurf begründet sich auch nicht unwesentlich aus der Kriegspropaganda der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, die auch als Begründung für den Versailler Vertrag herhalten musste.
Schon zur Zeit des Soldatenkönigs sagte ein Zeitgenosse "Andere Staaten unterhalten eine Armee, in Preußen ist es eine Armee, die einen Staat unterhält. Preußen wurde dank seiner militärischen Schlagkraft zu einer europäischen Großmacht, und es war das Militär, dass die 1848er Revolution niedergeschlagen hatte, und das Deutsche Reich ging aus den Einigungskriegen von 1864-1871 hervor. Die Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles war eine rein militärische Schaustellung. Im preußischen Verfassungskonflikt von 1862-66 setzte sich der Monarch gegen das Parlament durch, und es behielt die Armee ihre Sonderstellung als monarchistisches Instrumentarium. Hatten die 1848er noch an eine Demokratisierung der Armee und einer Vereidigung auf die Verfassung gedacht, so machten sich weite Teile des Bürgertums nach der Reichsgründung 1871 die fragwürdigen Umgangsformen der Junkerkaste zu eigen. Die Armee wurde von Heinrich von Treitschke als "Schule der Nation" gepriesen. "Die Armee eine das Volk und gewiss nicht der deutsche Reichstag. Die allgemeine Wehrpflicht sei das Fundament zur politischen Freiheit und die Erziehung zum blinden Gehorsasm die beste Charakterschule."
Militärische Umgangsformen machten sich auch in Schulen und Hochschulen, Betrieben und Werkstätten bemerkbar. Das Reserveoffizierspatent galt als Eintritt in die "bessere Gesellschaft", nur die Sozialdemokraten übten Kritik daran, und die "vaterlandslosen Gesellen" sollten durch das Militär in Schach gehalten werden.
Doch nicht nur Sozialdemokraten gerieten ins Visier. Wer nicht den Anforderungen soldatischer Werte entsprach, hatte Glück, wenn er die Wehrpflicht gesund überstand. Schikanen und Übergriffe waren an der Tagesordnung, und es desertierten jedes Jahr bis zu 20.000 junge Männer, die Drill und Schikanen nicht ertrugen. Auch die Zahl der Selbstmorde war recht hoch.
Als Wilhelm II. 1893 einer Rekrutenvereidigung beiwohnte, sagte er den Rekruten "Ihr seid jetzt meine Soldaten, ihr habt euch mir mit Leib und Seele ergeben. Es gibt für euch nur einen Feind und zwar meinen Feind. Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, dass ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, ja Brüder und Eltern zu erschießen- was ja Gott verhüten möge- aber auch dann müsst ihr meine Befehle ohne Murren befolgen".
Es war ein Ungeist, den Heinrich Mann in seinem Roman "Der Untertan" beschrieb und der von den meisten nie in Frage gestellt wurde. In der Politik des wilhelminischen Reichs, aber auch der Donaumonarchie galt nicht das Primat der Politik, sondern das des Militärs. Und wenn alles futsch war, konnte man ja noch "ehrenvoll untergehen" wie Franz Joseph I. sagte.
Sicher waren nicht nur die deutschen Eliten vom Fieberwahn des Imperialismus infiziert, und nicht nur deutsche und österreichische Kirchenfürsten segneten Waffen und riefen zur Vernichtung des Gegners auf wie der Erzbischof von Canterbury. Dass die Kriegspropaganda dem Gegner das Menschsein absprach, habe ich in einem früheren Beitrag geschrieben.
Der Rüstungsetat des Deutschen Reichs verdoppelte sich von 1900 bis 1914 auf mehr als 2,4 Milliarden Reichsmark. Die Verflechtung von Militär und Schwerindustrie- allein Krupp beschäftigte Hunderte von ehemaligen Militärs als Lobbyisten.
Der fatale Glaube, mit Kanonenbootdiplomatie und militärischer Schlagkraft die zunehmende diplomatische Isolierung des Reichs durchbrechen zu können und die Bereitschaft, militärischen Aspekten den Vorrang vor politischen Fragen einzuräumen, und zuzuschlagen, solange man noch glaubte, die Gegner niederwerfen zu können trug schließlich zu einer Radikalisierung bei, die in den Weltkrieg führte.