War das Wilhelminische Kaiserreich ein demokratischer Rechtsstaat?

scorpio schrieb:
Dass Deutschland und die Deutschen unter dem Weltkrieg sehr gelitten haben, steht außer Frage. Es sind im 1. Weltkrieg einige Zehntausend Deutsche verhungert, und die Seeblockade GB wurde auch nach dem Waffenstillstand aufrecht erhalten.

Es waren etwas über 700.000 .

Scorpio schrieb:
Es blieb aber das Deutsche Reich von Kampfhandlungen im Großen und Ganzen verschont, während Westflandern und große Teile der Picardie und des Artois einer Mondkraterlandschaft glich. Im neutralen Belgien hatte die Zivilbevölkerung nicht nur unter Flucht und Vertreibung, sondern auch unter Kriegsverbrechen und zu massiven Übergriffen zu leiden. Die Zerstörung Löwens war eine schwere Hypothek für Deutschlands Ansehen als "Kulturnation. Weniger präsent im Geschichtsbewusstsein sind die Kriegsverbrechen, die von der K.K Militärbürokratie in Serbien und Galizien verübt wurden.

Unbestritten alles korrekt. Noch weniger bekannt und noch weniger wird über allierte Kriegsverbrechen gesprochen.

Dass ein Verständigungsfrieden scheiterte, war nicht zuletzt auf das Phänomen zurückzuführen, dass Annexionen innere Probleme lösen oder zumindest kompensieren sollten.

Sicher auch um Deutschland, zumindest vorübergehend, als Machtfaktor und Gefahr auszuschalten. Denn ansonsten hätte man sich wohl einigen können. Mit der 3.OHL wurde dies aber unwahrscheinlich und bei den Alliierten galt das Prinzip warten auf die USA und dann die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches erzwingen, denn alleine war man dazu ja anscheinend nicht in der Lage.
 
[...]Es waren etwas über 700.000 [...]

Es ist tragisch, daß gerade die Bevölkerungsteile, die am wenigsten mit dem Krieg im DR zu tun hatten, Kinder und ältere Menschen unter der Blockade leiden mussten.
Die Lebensmittelverteilung war aber auch trotz mangelnder Importe für gewisse gesellschaftliche Kreise kein Problem. Ncht umsonst gab es als Spiegel der Gesellschaft die Matrosenaufstände im Sommer 1917, die im Grunde nur auf die verschiedenen Lebensmittelzuteilungen innerhalb der Hierarchie der Marine reagierten.

Ich dachte bisher auch immer, daß die englische Blockade, trotz ihrer Völkerrechtswidrigkeit vor allem nach der Kapitulation Nov 1918 immer Klein geredet wird, aber wie konnte es geschehen, daß hohe Beamte und Offiziere während des gesamten Krieges trotz der Blockade keine Einbusen ihrer Lebensqualität hatten?
 
Die Tendenz mag zutreffend sein, dennoch ist die Darstellung nicht korrekt. Ähnlich wie in Russland, das einen revolutionären Umgestaltungsprozess 1917 durchlaufen hat, war der WW 1 auch im DR der Katalysator, der die Weichen in Richtung einer verstärkten Demokratisierung gestellt hat. Im Zentrum der Kritik stand dabei das preußische Dreiklassenwahlrecht (vgl. Kühne: Dreiklassenwahlrecht und Wahlkultur in Preußen 1867-1914, 1994).

Einige Anmerkungen dazu:
1. Man kann die Entwicklung in Russland beim besten Willen nicht mit der Deutschlands vergleichen. Russland war weitgehend ein rückständiger Feudalstaat, Deutschland damals einer der am weitesten entwickelten und zivilisiertesten Staaten in der Welt.
2. Auch die Revolutionen kann man nicht vergleichen. In Russland führte diese zu einer despotischen Schreckensherrschaft. In Deutschland scheitere sie im Grunde genommen und dank der SPD konnte die demokratische und rechtsstaatliche Weimarer Republik entstehen.
3. Das preußische Dreiklassenwahlrecht betraf nur Preußen. Der Reichstag wurde schon seit Beginn in gleichen, geheimen und demokratischen Wahlen gewählt.
4. Der Krieg war sicher ein Katalysator für eine bessere demokratisch Ordnung, aber dieser Effekt setzt schon 1914 ein. Ich denke er hätte auch die Demokratie des Kaiserreiches verbessert, wäre diese im Krieg erfolgreich gewesen. Einmal erkämpfte Rechte kann man in eine so entwickelten Gesellschaft, wie es die deutsche war, nicht mehr einfach zurückdrehen.
 
Einmal erkämpfte Rechte kann man in eine so entwickelten Gesellschaft, wie es die deutsche war, nicht mehr einfach zurückdrehen.

Doch, das ging ganz hervorragend nach dem 30. Januar 1933. Innerhalb weniger Wochen waren alle die erkämpften Rechte futsch. Dazu mußten die Nazis nicht einmal putschen, das ging alles ganz legal. Und weite Teile der traditionellen Eliten machten mit, die die Nazis zwar vielleicht nicht besonders mochten, aber die Demokratie noch mehr haßten. Ein paar Kommunisten wanderten in den Knast oder ins Arbeitslager, ein paar Sozialdemokraten stimmten noch resigniert dagegen; ansonsten kein nennenswerter Widerstand.
 
Doch, das ging ganz hervorragend nach dem 30. Januar 1933. Innerhalb weniger Wochen waren alle die erkämpften Rechte futsch. Dazu mußten die Nazis nicht einmal putschen, das ging alles ganz legal. Und weite Teile der traditionellen Eliten machten mit, die die Nazis zwar vielleicht nicht besonders mochten, aber die Demokratie noch mehr haßten. Ein paar Kommunisten wanderten in den Knast oder ins Arbeitslager, ein paar Sozialdemokraten stimmten noch resigniert dagegen; ansonsten kein nennenswerter Widerstand.

Ja, du hast recht, dass ist ein Argument. Aber die Situation wäre nach dem von mir skizzierten Fall eines erfolgreichen Krieges, oder eines Ausgleichsfriedens für das Kaiserreich eine völlig andere gewesen, als 1933. Ich denke man kann nicht alle, die 1933 Hitler unterstützten und vor allem unterschätzten, pauschal als "Feinde der Demokratie" oder der Verfassung und des Rechtsstaates bezichtigen. Die Situation war sehr komplex und hinterher ist man sowieso immer klüger.
 
Dafür hatten wir 1989/90 richtig Glück. Das die Wiedervereinigung und Wiedererlangung der Souveränität Deutschland so schnell kommen würde, hat niemand erwartet.
Letzteres stimmt, aber die Geschichte erklärt sich nicht mit Glück oder Pech.

Die Entwicklung vor dem ersten Weltkrieg wurde von einer relativ kleinen Gruppe in Deutschland getragen, weite Teile der Bevölkerung konnten nur geringen Einfluss nehmen.
 
3. Das preußische Dreiklassenwahlrecht betraf nur Preußen. Der Reichstag wurde schon seit Beginn in gleichen, geheimen und demokratischen Wahlen gewählt. .

Nur Preußen ist gut. Preußen machte fast 2/3 des deutschen Kaiserreichs aus.
 

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Nur Preußen ist gut. Preußen machte fast 2/3 des deutschen Kaiserreichs aus.

Natürlich weiß ich das. Was ich sagen wollte, es betraf nicht den Reichstag. Immer wieder hört man diesen Vorwurf, das Dreiklassenwahlrecht hätte im Reich gegolten. Es passt halt so gut zu den negativen Vorurteilen die immer noch bei uns gepflegt werden, wenn es um die wilhelminische Periode geht.

P.S. Dir werfe ich das natürlich nicht vor.
 
Natürlich weiß ich das. Was ich sagen wollte, es betraf nicht den Reichstag. Immer wieder hört man diesen Vorwurf, das Dreiklassenwahlrecht hätte im Reich gegolten. Es passt halt so gut zu den negativen Vorurteilen die immer noch bei uns gepflegt werden, wenn es um die wilhelminische Periode geht.

P.S. Dir werfe ich das natürlich nicht vor.

Das "Dreiklassenwahlrecht" war dennoch dominierend.
Es galt zwar nicht im "Reich", bestimmte aber dessen Geschick, da Preussen, in welchem es galt, nicht nur bevölkerungsmäßg weit bestimmend war, sondern auch entschied wer dem Staat vorstand.
Ebenso beherrschte Preussen, aufgrund seiner Größe, die zweite Kammer des DR, "Bundesrat", welcher auch hier nach dem "Dreiklassenwahlrecht" überwiegend bestimmt wurde, und für jegliche Gesetzeseinbringung, seitens des Reichstages, über ein Blockaderecht verfügte und somit als, überwiegend nicht freigewähltes, Organ weit höhere Befugnisse hatte als unser heutiger "Bundesrat"
 
Grundsätzlich natürlich korrekt. Ich erwähne aber Mal das Mirakel des Hauses Brandenburg.

Mirakel des Hauses Brandenburg ? Wikipedia


Dazu hatten wir schon einen guten Thread, als noch mehr Mitglieder aktiv im GF waren. Was wäre die Geschichte ohne Wunder?

Z. B. Das Blitz- oder Regenwunder im Land der Quaden 173.

Das Wunder an der Marne 1914.

Das Wunder von Bern 1954,

das nicht nur sporthistorisch bedeutsam war, sondern auch mentalitäts- und kulturgeschichtlich für das Bewusstsein der jungen Bundesrepublik.
 
Einige Anmerkungen dazu:
1. Man kann die Entwicklung in Russland beim besten Willen nicht mit der Deutschlands vergleichen. Russland war weitgehend ein rückständiger Feudalstaat, Deutschland damals einer der am weitesten entwickelten und zivilisiertesten Staaten in der Welt.
2. Auch die Revolutionen kann man nicht vergleichen. In Russland führte diese zu einer despotischen Schreckensherrschaft. In Deutschland scheitere sie im Grunde genommen und dank der SPD konnte die demokratische und rechtsstaatliche Weimarer Republik entstehen.
3. Das preußische Dreiklassenwahlrecht betraf nur Preußen. Der Reichstag wurde schon seit Beginn in gleichen, geheimen und demokratischen Wahlen gewählt.
4. Der Krieg war sicher ein Katalysator für eine bessere demokratisch Ordnung, aber dieser Effekt setzt schon 1914 ein. Ich denke er hätte auch die Demokratie des Kaiserreiches verbessert, wäre diese im Krieg erfolgreich gewesen. Einmal erkämpfte Rechte kann man in eine so entwickelten Gesellschaft, wie es die deutsche war, nicht mehr einfach zurückdrehen.

Warum kann man die Entwicklung in Deutschland und Russland nicht vergleichen? Und welche Revolution ist gemeint? Der Oktoberrevolution 1917 ging doch die Februarrevolution 1917 voraus und die Revolution von 1905, die zum Oktobermanifest des Zaren, der Einsetzung einer Verfassung und zur Einberufung der Duma führte. In den Jahren vor dem Weltkrieg wurden die Errungenschaften der Revolution und die erkämpften Rechte relativ einfach "zurückgedreht", und es trug die Reaktion den Sieg davon.

Deutschland verwandelte sich im Kriegsverlauf zu einer Militärdiktatur, und ein siegreicher Ausgang des Krieges hätte mit großer Wahrscheinlichkeit die Macht der alten Eliten gestärkt, die innerhalb der Administration, im Offizierskorps, im Polizei- und Justizapparat ihre Posten ausgebaut und zementiert hätten. Vor dem Weltkrieg sagte der Junker von Oldenburg Janischau, der Kaiser müsse in der Lage sein, jederzeit den Reichstag auflösen zu können.

Der Hauptmann von Köpenick führte 1906 vor, wie einfach es war, einen Bürgermeister ohne Legitimation zu verhaften.
 
Deutschland verwandelte sich im Kriegsverlauf zu einer Militärdiktatur, und ein siegreicher Ausgang des Krieges hätte mit großer Wahrscheinlichkeit die Macht der alten Eliten gestärkt, die innerhalb der Administration, im Offizierskorps, im Polizei- und Justizapparat ihre Posten ausgebaut und zementiert hätten. Vor dem Weltkrieg sagte der Junker von Oldenburg Janischau, der Kaiser müsse in der Lage sein, jederzeit den Reichstag auflösen zu können.
Bei einem Sieg 1914 sicherlich. Nach den gewaltigen Opfern im Verlauf des Krieges wäre ich mir da aber nicht mehr so sicher. Den Arbeiter, wie einen dummen Jungen, einfach wieder zurück an die Werkbank schicken, das hätte, denke ich, Widerstand hervorgerufen. Jeder hätte etwas von den Siegerlorbeeren abhaben wollen.

Der Hauptmann von Köpenick führte 1906 vor, wie einfach es war, einen Bürgermeister ohne Legitimation zu verhaften.
Seine folgende Popularität führte aber auch vor, dass der Militarismus nicht unbedingt großen Rückhalt in der Bevölkerung besaß. Schließlich hatten Honoratioren stramm gestanden. Der Militarismus wurde durchaus als Unterdrückungsmittel empfunden, das im Falle Friedrich Wilhelm Voigts ein groteskes Eigenleben entwickelte.
 
scorpio schrieb:
Dazu hatten wir schon einen guten Thread, als noch mehr Mitglieder aktiv im GF waren

Die guten alten Zeiten!

Im Jahre 1917 hat sogar der Interfraktionelle Ausschuss Ludendorff zum Sturze Bethmann-Hollweg die Hand gereicht; wenn sicher auch mit anderer Intention als dieser. Die Parteiführer hätten bei Einigkeit und entsprechenden auftreten sicher etwas erreichen können. Aber stattdessen versank man in Geschäftsordnungsdebatten, stritt über drittrangige taktische Differenzen oder um den Vorsitz im interfraktionellen Ausschuss. Die Parteien haben sich zum Teil auch selbst an die Nase zu fassen.

Rurik schrieb:
Bei einem Sieg 1914 sicherlich. Nach den gewaltigen Opfern im Verlauf des Krieges wäre ich mir da aber nicht mehr so sicher. Den Arbeiter, wie einen dummen Jungen, einfach wieder zurück an die Werkbank schicken, das hätte, denke ich, Widerstand hervorgerufen. Jeder hätte etwas von den Siegerlorbeeren abhaben wollen.

Bethmann-Hollweg war 1916717 spätestens klar, das er, wenn der Krieg gewonnen werden sollte, die Sozialdemokraten künftig stärker berücksichtigen muss. Einfach zur tagesordnng übergehen war sicher nicht drinne. Nicht umsonst hat er so einen Druck in Sachen Osterbotschaft auf dem Kaiser ausgeübt.
 
Seine (Hauptmann von Köpenick) folgende Popularität führte aber auch vor, dass der Militarismus nicht unbedingt großen Rückhalt in der Bevölkerung besaß. Schließlich hatten Honoratioren stramm gestanden. Der Militarismus wurde durchaus als Unterdrückungsmittel empfunden, das im Falle Friedrich Wilhelm Voigts ein groteskes Eigenleben entwickelte.

Ich bezweifle, dass der "Militarismus" vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland größer war als z.B. in Großbritannien oder Frankreich. Das Militär spielte damals in allen Großmächten eine herausgehobene Rolle, die wir heute, mit dem Wissen was in beiden Kriegen schreckliches passiert ist, kaum mehr nachvollziehen können.

Zum Hauptmann von Köpenick wird berichtet, dass Kaiser Wilhelm schallend gelacht haben soll, als ihm von dieser Geschichte erzählt wurde.
 
Ich bezweifle, dass der "Militarismus" vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland größer war als z.B. in Großbritannien oder Frankreich. Das Militär spielte damals in allen Großmächten eine herausgehobene Rolle, die wir heute, mit dem Wissen was in beiden Kriegen schreckliches passiert ist, kaum mehr nachvollziehen können.

Zum Hauptmann von Köpenick wird berichtet, dass Kaiser Wilhelm schallend gelacht haben soll, als ihm von dieser Geschichte erzählt wurde.

Worauf basieren deine Zweifel? Die Verhältnisse in GB und Frankreich waren doch sehr unterschiedlich. GB hatte als Seemacht eine relativ kleine Berufsarmee und führte eine allgemeine Wehrpflicht erst im 1. Weltkrieg ein. In der 3. französischen Republik war die Armee ein Staat im Staate, dessen Offizierskorps zum großen Teil vom Adel dominiert wurde, in Opposition zur 3. Republik stand, starke Sympathien für die Jesuiten hatte, und antisemitisch monarchistisch ausgerichtet war. 1889 drohte ein Putsch durch General Boulanger und während der Dreyfus- Affäre nahm man Dreyfus Verbannung billigend in Kauf, obwohl sich bald herausstellte, dass ein Major Esterhazy der Schuldige war, doch sollte die Armee nicht in die Kritik geraten.
 
Militarismus?

Worauf basieren deine Zweifel? Die Verhältnisse in GB und Frankreich waren doch sehr unterschiedlich. GB hatte als Seemacht eine relativ kleine Berufsarmee und führte eine allgemeine Wehrpflicht erst im 1. Weltkrieg ein. In der 3. französischen Republik war die Armee ein Staat im Staate, dessen Offizierskorps zum großen Teil vom Adel dominiert wurde, in Opposition zur 3. Republik stand, starke Sympathien für die Jesuiten hatte, und antisemitisch monarchistisch ausgerichtet war. 1889 drohte ein Putsch durch General Boulanger und während der Dreyfus- Affäre nahm man Dreyfus Verbannung billigend in Kauf, obwohl sich bald herausstellte, dass ein Major Esterhazy der Schuldige war, doch sollte die Armee nicht in die Kritik geraten.

Wir sollten zunächst einmal "Militarismus" definieren.
Hier eine Kurzfassung aus Wikipedia:
Als Militarismus wird die Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben bezeichnet, wie sie etwa durch die einseitige Betonung des Rechts des Stärkeren und die Vorstellung, Kriege seien notwendig oder unvermeidbar, zum Ausdruck kommen oder durch ein strikt hierarchisches, auf Befehl und Gehorsam beruhendes Denken vermittelt werden.

Du hast recht, die Verhältnisse in Deutschland, Großbritannien und Frankreich waren unterschiedlich, so wie du sie beschreibst. War nun aber Deutschland "militaristischer" als die beiden Rivalen. Das wird ja immer behauptet. Wenn man zwei weitere Begriffe hinzufügt: "Imperialismus" und "Nationalismus", die ja beide eng mit dem "Militarismus" zusammenhängen, wird die Sache schon differenzierter. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich waren wohl "imperialistischer" als das saturierte Deutsche Reich. "Nationalistisch" waren wohl alle drei Staaten. War nun Deutschland "militaristischer" als die beiden anderen? Ich bin mir zumindest nicht sicher. Dieser Vorwurf begründet sich auch nicht unwesentlich aus der Kriegspropaganda der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, die auch als Begründung für den Versailler Vertrag herhalten musste.
 
Es gibt doch auch heute noch eine ganze Reihe von Demokratien mit einem Monarchen an der Spitze, mit Spanien angefangen und mit GB nicht aufgehørt.
Dem jüngst abgedankten Monarchen Juan Carlos in Spanien muss man sogar ein ausserordentliches demokratisches Verstændnis beim Putschversuch des Militærs 1981 bescheinigen.
Auch sieht man an der dortigen* Diskussion ueber die evtl. Abschaffung der Monarchie, dass die heutigen Kønige ja keineswegs "save" sind - wenn es die Mehrheit wollte, wuerden sie sich einen anderen Lebensunterhalt suchen muessen...

Ganz so einfach ist das nicht. Dazu müsste man nämlich die Verfassung ändern, was meistens legal nicht durch einfache Mehrheit sondern nur durch 2/3-Mehrheit möglich ist. I.d.R. müsste für eine Verfassungsveränderung auch eine Neuwahl der Parlamentarier angesetzt werden, damit das Wahlvolk auch wirklich im Wählerwillen vertreten wäre. Also wenn heute 51 % der Wahlberechtigten in GB, den Niederlanden, Spanien etc. sagen würden "Danke sehr, wir wollen jetzt jemanden an der Spitze haben, der nicht durch den Zufall der Geburt legitimiert ist", dann hätten die immer noch keine Handhabe dazu, die Monarchie abzuschaffen.

Auf der anderen Seite kann man natürlich nicht behaupten, die Monarchien in der europäischen Union wären keine demokratischen Staaten, da die Monarchen letztendlich nur Repräsentanten und Staatsoberhäupter sind. Ilsbeth muss z.B. die Regierungserklärung der jeweiligen gewählten Regierung vortragen, ob sie ihr inhaltlich passt, oder nicht.
 
Ich bezweifle, dass der "Militarismus" vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland größer war als z.B. in Großbritannien oder Frankreich.

Schwierig, das zu Quantifizieren, zumal es damals noch keine Demoskopie im heutigen Sinne gab. Der Kyffhäuserbund als Dachverband der Kriegervereine war 1913 mit über 2,7 Millionen Mitgliedern die mitgliederstärkste Vereinigung in Deutschland, vor den freien Gewerkschaften mit etwas über 2,5 Millionen.

Die Zabern-Affäre von 1913 zeigte aber auch die Widerstände, die es gegen das selbstherrliche Auftreten des Militärs gab. In ganz Deutschland kam es zu Protesten, und im Reichstag mißbilligten alle Parteien mit Ausnahme der Konservativen das Vorgehen des Militärs in Zabern.

Der Krieg, wie schon erwähnt, fungierte als Beschleuniger und Radikalisierer längst in der Vorkriegszeit angelegter Entwicklungen. Dies bedeutete die Spaltung der Sozialdemokratie in SPD und USPD, die natürlich schon im Revisionismus-Streit ab etwa 1900 angelegt war. Schon die Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4.August 1914 war nicht so eindeutig gewesen, wie es das einstimmige Abstimmungsverhalten der SPD im Reichstag suggeriert; bei der Abstimmung innerhalb der Fraktion zuvor hatte es eine deutliche Anzahl von Gegenstimmen gegeben, traditonsgemäß stimmte die Partei aber geschlossen ab. Karl Liebknecht wahrte noch die Fraktionsdisziplin, indem er der Abstimmung fernblieb.

Allerdings formierte sich auch auf der Rechten ein Milieu politisch neu. Schon mit dem Alldeutschen Verband hatte es vor 1914 eine quasi präfaschistische Organisation gegeben. Dessen Vorsitzender Heinrich Claß hatte 1912 mit seinem unter dem Pseudonym 'Daniel Frymann' veröffentlichten Buch "Wenn ich der Kaiser wär'" eine Kampfschrift vorgelegt, die ein reaktionär-autoritäres Programm gegen Juden und Sozialdemokraten formulierte.

1917 gehörte Claß dann zu den Mitbegründern der rechtsradikalen "Deutschen Vaterlandspartei". Daß diese Partei im selben Jahr wie die USPD entstandt, war wohl kein Zufall. Hier brachen in der Extremsituation des Krieges Konfliktlinien der deutschen Gesellschaft auf, die latent schon lange existiert hatten.

Welche Kräfte sich nach einem gewonnenen Krieg durchgesetzt hätten, ist unmöglich zu sagen. Nach dem verlorenen Krieg scheiterte, soviel wissen wir, die radikale Linke mit diversen Umsturzversuchen 1919-1923. Die radikale Rechte, auch das wissen wir, konnte 1933 einen beispiellosen Durchmarsch gegen die Demokratie durchführen. Alles Andere - Spekulation.
 
Wir sollten zunächst einmal "Militarismus" definieren.
Hier eine Kurzfassung aus Wikipedia:
Als Militarismus wird die Dominanz militärischer Wertvorstellungen und Interessen in der Politik und im gesellschaftlichen Leben bezeichnet, wie sie etwa durch die einseitige Betonung des Rechts des Stärkeren und die Vorstellung, Kriege seien notwendig oder unvermeidbar, zum Ausdruck kommen oder durch ein strikt hierarchisches, auf Befehl und Gehorsam beruhendes Denken vermittelt werden.

Du hast recht, die Verhältnisse in Deutschland, Großbritannien und Frankreich waren unterschiedlich, so wie du sie beschreibst. War nun aber Deutschland "militaristischer" als die beiden Rivalen. Das wird ja immer behauptet. Wenn man zwei weitere Begriffe hinzufügt: "Imperialismus" und "Nationalismus", die ja beide eng mit dem "Militarismus" zusammenhängen, wird die Sache schon differenzierter. Sowohl Großbritannien als auch Frankreich waren wohl "imperialistischer" als das saturierte Deutsche Reich. "Nationalistisch" waren wohl alle drei Staaten. War nun Deutschland "militaristischer" als die beiden anderen? Ich bin mir zumindest nicht sicher. Dieser Vorwurf begründet sich auch nicht unwesentlich aus der Kriegspropaganda der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, die auch als Begründung für den Versailler Vertrag herhalten musste.

Schon zur Zeit des Soldatenkönigs sagte ein Zeitgenosse "Andere Staaten unterhalten eine Armee, in Preußen ist es eine Armee, die einen Staat unterhält. Preußen wurde dank seiner militärischen Schlagkraft zu einer europäischen Großmacht, und es war das Militär, dass die 1848er Revolution niedergeschlagen hatte, und das Deutsche Reich ging aus den Einigungskriegen von 1864-1871 hervor. Die Reichsgründung im Spiegelsaal von Versailles war eine rein militärische Schaustellung. Im preußischen Verfassungskonflikt von 1862-66 setzte sich der Monarch gegen das Parlament durch, und es behielt die Armee ihre Sonderstellung als monarchistisches Instrumentarium. Hatten die 1848er noch an eine Demokratisierung der Armee und einer Vereidigung auf die Verfassung gedacht, so machten sich weite Teile des Bürgertums nach der Reichsgründung 1871 die fragwürdigen Umgangsformen der Junkerkaste zu eigen. Die Armee wurde von Heinrich von Treitschke als "Schule der Nation" gepriesen. "Die Armee eine das Volk und gewiss nicht der deutsche Reichstag. Die allgemeine Wehrpflicht sei das Fundament zur politischen Freiheit und die Erziehung zum blinden Gehorsasm die beste Charakterschule."
Militärische Umgangsformen machten sich auch in Schulen und Hochschulen, Betrieben und Werkstätten bemerkbar. Das Reserveoffizierspatent galt als Eintritt in die "bessere Gesellschaft", nur die Sozialdemokraten übten Kritik daran, und die "vaterlandslosen Gesellen" sollten durch das Militär in Schach gehalten werden.
Doch nicht nur Sozialdemokraten gerieten ins Visier. Wer nicht den Anforderungen soldatischer Werte entsprach, hatte Glück, wenn er die Wehrpflicht gesund überstand. Schikanen und Übergriffe waren an der Tagesordnung, und es desertierten jedes Jahr bis zu 20.000 junge Männer, die Drill und Schikanen nicht ertrugen. Auch die Zahl der Selbstmorde war recht hoch.

Als Wilhelm II. 1893 einer Rekrutenvereidigung beiwohnte, sagte er den Rekruten "Ihr seid jetzt meine Soldaten, ihr habt euch mir mit Leib und Seele ergeben. Es gibt für euch nur einen Feind und zwar meinen Feind. Bei den jetzigen sozialistischen Umtrieben kann es vorkommen, dass ich euch befehle, eure eigenen Verwandten, ja Brüder und Eltern zu erschießen- was ja Gott verhüten möge- aber auch dann müsst ihr meine Befehle ohne Murren befolgen".

Es war ein Ungeist, den Heinrich Mann in seinem Roman "Der Untertan" beschrieb und der von den meisten nie in Frage gestellt wurde. In der Politik des wilhelminischen Reichs, aber auch der Donaumonarchie galt nicht das Primat der Politik, sondern das des Militärs. Und wenn alles futsch war, konnte man ja noch "ehrenvoll untergehen" wie Franz Joseph I. sagte.

Sicher waren nicht nur die deutschen Eliten vom Fieberwahn des Imperialismus infiziert, und nicht nur deutsche und österreichische Kirchenfürsten segneten Waffen und riefen zur Vernichtung des Gegners auf wie der Erzbischof von Canterbury. Dass die Kriegspropaganda dem Gegner das Menschsein absprach, habe ich in einem früheren Beitrag geschrieben.

Der Rüstungsetat des Deutschen Reichs verdoppelte sich von 1900 bis 1914 auf mehr als 2,4 Milliarden Reichsmark. Die Verflechtung von Militär und Schwerindustrie- allein Krupp beschäftigte Hunderte von ehemaligen Militärs als Lobbyisten.
Der fatale Glaube, mit Kanonenbootdiplomatie und militärischer Schlagkraft die zunehmende diplomatische Isolierung des Reichs durchbrechen zu können und die Bereitschaft, militärischen Aspekten den Vorrang vor politischen Fragen einzuräumen, und zuzuschlagen, solange man noch glaubte, die Gegner niederwerfen zu können trug schließlich zu einer Radikalisierung bei, die in den Weltkrieg führte.
 
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