Statt Dich auszuklinken, beantworte mir doch die Frage, ob die Kenntnisse des Pytheas in einer augusteischen oder tiberischen Quelle (meinetwegen auch bei Strabo, Plinius oder Ptolemaios) zitiert wird.
Sowohl Strabon als auch Plinius polemisieren gegen den Reisebericht des Pytheas. Er muss ihnen also bekannt gewesen sein - allerdings ist unklar, ob sie diesen Bericht selbst gelesen haben oder ihre Kenntnisse über Pytheas nur aus älterer Literatur (Polybios, Poseidonios u.a.) beziehen. Ähnliches gilt für Diodor (1. Jhdt. v.Chr.), der Pytheas nicht explizit nennt, aber Informationen verarbeitet, die auf dessen Reisebericht zurückzugehen scheinen. Ob direkt oder indirekt: Eine Kenntnis des Pytheas kann man bei geographisch interessierten Griechen und Römern der frühen Kaiserzeit problemlos annehmen.
Tacitus kennt übrigens schon das Polarmeer und das Nordkap vom Hören-Sagen...Auch berichtet er über die Ostsee, den Ursprung des Bernsteines im Lande der Aisten, im Balitkum. Also im Osten reichen seine Kenntnisse mindestens bis zur Weichsel. Mit den germanischen Stämme an der Elbe, quasi tief im Inneren Germaniens stand Kaiser Domitian im diplomatischen Kontakt. Der Semnonen-König "Masyos" stattete Rom gar einen Besuch ab.
Das hat alles seine Richtigkeit. Man könnte auch Plinius 37,45 ins Treffen führen, wo es heißt: "Man hat kürzlich erfahren, dass jene Küste Germaniens, von der der Bernstein eingeführt wird, von Carnuntum in Pannonien etwa 600 Meilen entfernt ist und es lebt noch ein römischer Ritter, der von Iulianus, dem Aufseher der vom Princeps Nero veranstalteten Gladiatorenspiele, zum Herbeischaffen von Bernstein ausgeschickt worden war. Dieser durchwanderte sowohl jene Märkte als auch die Küsten und führte eine solche Menge ein, dass die Netze zum Abhalten der wilden Tiere und zum Schutz der Kaiserloge mit Bernsteinstückchen zusammengeknotet wurden, der Sand aber, die Totenbahren und die ganz Einrichtung für einen einzigen Tag aus Bernstein bestanden damit an jedem Tag ein Wechsel des Prunkes stattfinden könne." Hier haben wir für ca. 60 n.Chr. die Reise eines römischen Ritters von Carnuntum quer durch das östliche Mitteleuropa bis an die Ostsee bezeugt.
Das alles scheint mir aber am Kern der Sache vorbeizugehen. Wir reden hier nämlich nicht davon, dass die Römer wussten, wo welcher Fluss und wo welche Ethnie zu finden war, denn das wird niemand in Abrede stellen. Wir reden davon, dass die Römer angeblich ein großräumig-kontinentales Konzept von geostrategisch vorteilhaften Grenzen verfolgten. Das ist doch eine ganz andere Dimension als einfache empirische Kenntnis dessen, was jenseits der Elbe und jenseits der Donau liegt. Für ein derartiges Konzept müsste man doch eine moderne Europa-Karte vorliegen haben.
Im Spätmittelalter etwa hatte man in Westeuropa zweifellos auch "Kenntnis" von den Ländern ganz Europas bis hin nach Russland, darüber hinaus auch des Mittelmeerraums und des Vorderen Orients, dann sogar weiterer Teile Asiens. Diese geographischen Kenntnisse waren von jenen der Römer kaum so verschieden. Trotzdem würde niemand auf die Idee verfallen, dem europäischen Spätmittelalter die Voraussetzungen für eine Geostrategie a la "Elbe-Donau-Linie" zu unterstellen. Man hat hier eine viel zu optimistische Auffassung von der Geographie der Antike und von der Modernität der Römer.