"Kardinalfehler" ist eine Bewertung. Ich habe Sonthofen eher so verstanden, dass es ihm um das Verstehen der Abläufe geht.
Zunächst einmal ist zu beachten, welches strategische Problem das erstarkende Deutschland in Mitteleuropa für Russland darstellte, und bei dieser Szene aus Winzen (Bülow) ist zusätzlich bedeutsam, dass zu der Zeit 1899 a) russischer Expansionismus noch mit Schwerpunkt Fernost vorlag, und b) die deutschen Balkan-Mittelost-Ziele noch nicht voll schlagend waren. Aber auch ohne diese Verschärfungen und Schwerpunktverlagerungen begriff Russland durchaus den langfristigen strategischen Wert des Zweiverbands mit Frankreich. Das sind strukturelle Kontexte und Gewichte, die man bei der Betrachtung "personenbezogener Diplomatiegeschichte" mit angeblichen Optionen, Kardinalfehlern oder Versäumnissen nicht übersehen sollte (Bismarcks Jonglieren mit 5 Bällen fand nämlich unter anderen Rahmenbedingungen statt als in der Zeit nach 1900 gegeben):
"Mit Genugtuung nahm Bülow nach dem Abendessen** auch die Glückwünsche des Zaren zum Samoaabkommen** entgegen. „Was wir erreicht hätten“, habe ihm der russische Herrscher gesagt, „wäre um so anerkennenswerter, als die Engländer einerseits très durs à la détente wären, während wir andererseits zur See England gegenüber keine Pressionsmittel hätten. Er freue sich also doppelt, mir als altem Bekannten, der in Petersburg so viele Freunde hätte, herzlich gratulieren zu können.“ Auch gegenüber seinem deutschen Herrscherkollegen und dem Reichsmarinestaatssekretär hielt der Zar mit Komplimenten nicht zurück. Es sei auffallend gewesen, meinte Bülow später in einem Gespräch mit dem befreundeten bayerischen Gesandten, „daß der russische Kaiser dem deutschen Kaiser und dem Admiral Tirpitz gegenüber sofort Seiner Befriedigung darüber Ausdruck gegeben hat, daß Deutschland ernstlich daran gehe, seine Flotte zu verstärken“. Diese spontane Bemerkung des Zaren stimme „mit älteren Äußerungen russischer Staatsmänner überein, die gegen eine engere politische Verbindung zwischen Deutschland und Rußland den Einwand geltend machten, daß mangels einer in Betracht kommenden deutschen Flotte die Bundesgenossenschaft Deutschlands für die Ziele der russischen Politik ohne Wert sei“.
Mit anderen Worten: Mit einer starken Hochseeschlachtflotte wäre Deutschland der natürliche Bündnispartner Russlands bei einer militärischen Auseinandersetzung mit England. In diesem zentralen Punkt seiner Weltmachtstrategie gab sich Bülow, gemeinsam mit Tirpitz und dem Kaiser, jedoch einer verhängnisvollen Illusion hin. Denn die russischen Staatsmänner hatten schon längst, wie im Wiener Außenministerium bekannt war, das ungeheure Gefahrenpotential für ihr Land erkannt, das sich in der Mitte Europas zusammenbraute, wenn Deutschland als stärkste Landmacht in Zentraleuropa „auch in der ganzen Welt eine überwältigende Stellung einnehmen würde“.*"
* Bericht No. 6 A–B, Szögyényi an Goluchowski, 5.2.1900; HHStA Wien, P.A. III 153
** Besuch des russischen Herrscherpaares November 1899 in Berlin
Zunächst einmal ist zu beachten, welches strategische Problem das erstarkende Deutschland in Mitteleuropa für Russland darstellte, und bei dieser Szene aus Winzen (Bülow) ist zusätzlich bedeutsam, dass zu der Zeit 1899 a) russischer Expansionismus noch mit Schwerpunkt Fernost vorlag, und b) die deutschen Balkan-Mittelost-Ziele noch nicht voll schlagend waren. Aber auch ohne diese Verschärfungen und Schwerpunktverlagerungen begriff Russland durchaus den langfristigen strategischen Wert des Zweiverbands mit Frankreich. Das sind strukturelle Kontexte und Gewichte, die man bei der Betrachtung "personenbezogener Diplomatiegeschichte" mit angeblichen Optionen, Kardinalfehlern oder Versäumnissen nicht übersehen sollte (Bismarcks Jonglieren mit 5 Bällen fand nämlich unter anderen Rahmenbedingungen statt als in der Zeit nach 1900 gegeben):
"Mit Genugtuung nahm Bülow nach dem Abendessen** auch die Glückwünsche des Zaren zum Samoaabkommen** entgegen. „Was wir erreicht hätten“, habe ihm der russische Herrscher gesagt, „wäre um so anerkennenswerter, als die Engländer einerseits très durs à la détente wären, während wir andererseits zur See England gegenüber keine Pressionsmittel hätten. Er freue sich also doppelt, mir als altem Bekannten, der in Petersburg so viele Freunde hätte, herzlich gratulieren zu können.“ Auch gegenüber seinem deutschen Herrscherkollegen und dem Reichsmarinestaatssekretär hielt der Zar mit Komplimenten nicht zurück. Es sei auffallend gewesen, meinte Bülow später in einem Gespräch mit dem befreundeten bayerischen Gesandten, „daß der russische Kaiser dem deutschen Kaiser und dem Admiral Tirpitz gegenüber sofort Seiner Befriedigung darüber Ausdruck gegeben hat, daß Deutschland ernstlich daran gehe, seine Flotte zu verstärken“. Diese spontane Bemerkung des Zaren stimme „mit älteren Äußerungen russischer Staatsmänner überein, die gegen eine engere politische Verbindung zwischen Deutschland und Rußland den Einwand geltend machten, daß mangels einer in Betracht kommenden deutschen Flotte die Bundesgenossenschaft Deutschlands für die Ziele der russischen Politik ohne Wert sei“.
Mit anderen Worten: Mit einer starken Hochseeschlachtflotte wäre Deutschland der natürliche Bündnispartner Russlands bei einer militärischen Auseinandersetzung mit England. In diesem zentralen Punkt seiner Weltmachtstrategie gab sich Bülow, gemeinsam mit Tirpitz und dem Kaiser, jedoch einer verhängnisvollen Illusion hin. Denn die russischen Staatsmänner hatten schon längst, wie im Wiener Außenministerium bekannt war, das ungeheure Gefahrenpotential für ihr Land erkannt, das sich in der Mitte Europas zusammenbraute, wenn Deutschland als stärkste Landmacht in Zentraleuropa „auch in der ganzen Welt eine überwältigende Stellung einnehmen würde“.*"
* Bericht No. 6 A–B, Szögyényi an Goluchowski, 5.2.1900; HHStA Wien, P.A. III 153
** Besuch des russischen Herrscherpaares November 1899 in Berlin
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