Was ist Wissenschaft?

Wie Newton schon sagte, hat ein Zwerg auf den Schultern von Riesen immerhin eine klein wenig bessere Weitsicht in die Landschaft und sieht vielleicht Dinge am Horizont, die vor ihm noch niemand sah.
So stand Newton z.B. auf Keppler, Tycho Brahe, auch Kopernikus und Galilei in Sachen der Astronomie, blickte letztlich weiter als sie, und kombinierte deren Erkenntnisse mit seinen eigenen zu neuem Wissen.

Je nach Bereich der historischen Forschung gibt es ebenfalls für Historiker viel neues zu entdecken. Mal sind es nur neue Aspekte eines allseits bekannten Themas, was eine andere Facette aufzeigt, z.B. oft in Doktorarbeiten. Man wertet also bekanntes Wissen aus, stellt an dieses aber eine bislang noch kaum gestellte Frage. Ggf. kommt dann was neues bei raus, oder ne Variation von bekanntem.

Es gibt aber auch historische Bereiche, die sind noch lange nicht so abgegrast, wie andere. Z.B. beim Osm. Reich sind vielleicht erst 20% (?) der bekannten allein türk. Archive erst ausgewertet. Dazu lagern noch in Athen, Sofia, usw. Berge von unbearbeiteten türk. Quellen. (Dazu kommen dann noch die Quellen der Balkanvölker, aber auch der Araber, usw.)
Insofern kann sich jeder Doktorand eine völlig neue Fragen ausdenken, und anhand von jungfräulichen Quellen diese bearbeiten. Oder ggf. altes Wissen ergänzen oder gar erst verifizieren, was bislang nur These gewesen ist (z.B. wie sah es eigentlich wirklich im Harem des Sultanspalastes aus, stimmen bisherige Vorstellungen westl. Reisender?).
Oder es ergeben sich neue Einsichten, indem man Methoden von anderen Disziplinen erstmalig in seinem Fachbereich anwendet.

So führte z.B. ein Orientalist in den 70er Jahren erstmals in größerem Maßstab die quantitativen statistischen Methoden der Soziologie in die Orientalistik ein. Er wollte wissen, ob man nicht anhand von islam. Bibliographien und Kurzbiographie-Sammlungen den Konversionsverlauf im Iran vom Christentum (oder anderen Religionen) zum Islam feststellen könne. Denn bei musl. Namen werden oft die Vorfahren aufgelistet, und irgendwann taucht da vielleicht ein christl. Name auf. Anhand dieser vielen Biographien (>500) konnte er also einen ungefähren Zeitstrahl erstellen und eine Kurve aufzeigen, wie denn die Konversion vonstatten ging. Dies war erstmals ein genauerer und fundierterer Blick auf den Konversionsverlauf und wertete bestehende Quellen völlig neu und anders aus. Indem er eben nicht qualitativ Texte las, und daraus seine Schlüsse zog, sondern sie quantitativ nutzte.

Daraufhin begannen zahlreiche andere Historiker/Orientalisten diese Methode ebenfalls anzuwenden und kamen so zu neuen Erkenntnissen.
Ebenfalls neu ist die Verwendung der Archäologie für die Osmanistik, also relativ neue Ausgrabungen, wo man z.B. für die Kunstgeschichte wichtige Erkenntnisse gewinnen kann. Oder Gründe für Brände die in Chroniken genannt werden entdecken kann.
Dies ist recht aufregend.

Vielleicht ist es in anderen Bereichen nicht mehr so leicht möglich, grundlegend neues zu entdecken. Z.B. könnte ich mir vorstellen, dass beim Nationalsozialismus schon recht viel abgerast ist und daher nur neue Facetten oder Variationen in Doktorarbeiten abgehandelt werden?
 
Zuletzt bearbeitet:
Flo, hier mal ein Beispiel eines Buches, welches eine sehr gute Rezension erhalten hat, und obwohl von "fachfremden" Autoren geschrieben wurde, trotzdem eine bemerkenswerte Bedeutung gewinnen kann, einfach weil die Autoren es gut verstanden all die verstreute Sekundärliteratur auszuwerten und zu analysieren:

SEHEPUNKTE - Rezension von: Die islamische Welt 1000 bis 1517 - Ausgabe 9 (2009), Nr. 7/8

Insofern bieten sie vielleicht nicht völlig neues, geben aber trotzdem ein wichtiges Feedback für die Zunft, denn auch der Bick von "Außen" ist öfters sinnvoll. Und das Zusammenfassen von Erkenntnissen verschiedener Disziplinen kann durchaus etwas neues entstehen lassen.
 
Aber wenn einer nur das nachkaut, was ein anderer schon rausgefunden hat, kann er sich doch nicht Wissenschaftler nennen, nach meinem Verständniss.
Auch, wenn er ein Problem mit anderen Mitteln löst. Das Ergebnis bleibt doch das gleiche.
Allein wenn er zeigt, dass sich ein bekanntes Ergebnis auch mit anderen Mitteln zeigen lässt, ist doch etwas Neues gefunden. Bloß eben keine Theorie sondern eine neue Methode. (stark verkürzt dargestellt)
Oder er bestätigt damit Vermutungen eines Anderen durch einen sichereren Beweis.
Wird wirklich nur nachgekaut, was Einer zuvor schrieb, ist es natürlich keine Wissenschaft. Werden die Gedanken von 2 Anderen nachgekaut schon eher, denn dann müssen vielleicht Widersprüche zwischen den beiden gelöst werden und Gedanken aus beiden Arbeiten ergänzen sich.
Manche Wissenschaftler machen sowieso beides: Eigene Forschung und gekonnt ältere Erkenntnisse wiederholen um für Anfänger/Studenten/Laien... Einführungswerke schreiben.
Außerdem benötigt eigene Forschung sowieso die Kenntnis der älteren Erkenntnisse. Ich muss also immer erst schreiben, was schon bekannt ist, damit meine Neuen Informationen nicht allein im Raum stehen.
 
Wissenschaftliche Arbeiten, zumindest in meinem Fach, haben fast immer folgende Standardgliederung:
1. Einleitung
Hier wird der bisher bekannte Stand der Dinge dargelegt und die Fragestellung formuliert.
2. Material und Methode
3. Ergebnisse

Hier kommt rein, was man ermittelt hat. Tabellen, Grafiken usw.
4. Diskussion
Was ist neu, Vergleich mit anderen Autoren, Schlußfolgerungen, eigene Hypothesen etc.

Nicht zu vergessen: Eine Zusammenfassung (engl. summary) und eine korrekte Liste der verwendeten Literatur.
 
Ich fand es immer "lustig", wenn in meinem Studentenwohnheim die Ärzte innerhalb von 14 Tagen ihre max. 15-20 seitige Dr.-Arbeit hinklatschten, und danach sich stolz Dr. nannten. Meine griech. Nachbarin hingegen sich >5 Jahre lang abquälte, um dann nach brutalsten Kürzungen ihrer Ergebnisse einen Dr. phil. zu erhalten...

Ein anderer Zahni (Zahnmediziner) hat sich hingegen kein "naturwissenschaftliches" Doktorthema ausgesucht, sondern ein naturwissenschaftsgeschichtliches Thema (sowas geht in HH, gibt/gab einige Profs extra dafür). Es war vielleicht ein Fehler, denn obwohl ihn das Thema sehr interessierte, er mit (phasenweisen) Eifer dabeiblieb hat er glaube ich nach drei Jahren endgültig aufgegeben und nun keinen Dr.

(Oder sich in Moldawien einen gekauft, Geld verdient man ja als Zahni immer noch genug)
 
Zurück
Oben