Welche Rolle spielten die Ökonomen im vorrev. Frankreich?

Brissotin

Aktives Mitglied
Ich bin bei meiner Lektüre eines Standardliteratur zur Revolution darauf gestoßen, dass immer wieder Ökonomen wie Turgot eine Rolle spielten. In wie fern hatten deren Projekte oder Analysen aber wirklich einen Niederschlag in der Gesellschaft? Wen interessierte denn damals die Staatsverschuldung?

Indirekt fielen mir als auffälligste Erscheinung aufgrund dieser Männer die Konflikte des Adels mit dem König und die daraus resultierenden Unruhen ein. Einen Höhepunkt erreichten diese sicherlich unter Calonne, der letztlich wie seine Vorgänger zu dem Schluss kommen musste, dass die Finanzierung nur über die umfangreiche Einbeziehung des Adels in die Steuerleistungen machbar war. Zwar hatte Calonne für sich, dass er sich einer größeren Partei des Königs sicher sein konnte, aber das änderte nicht viel daran, dass diese sinnvollen Pläne an Parlamenten und aristokratischer Opposition auch in der Notabelnversammlung scheitern mussten.
 
Interessiert waren die Personen die in irgendeiner Form von den Reformen negativ betroffen waren. :D
Z.B. beim Verzicht auf staatliche Kontrolle der Mehlpreise, auch der 3. Stand hat gegen Reformen angekämpft. Es mündet im Guerre des farines. Terray und Maupeou haben ja eine recht erfolgreiche, aber unbeliebte Politik unter Louis XV. betrieben. Wurden dann natürlich unter Ludwig XVI. schnell abgesetzt. Wenn man weiter zurückgeht trifft man auf John Law. Erhöhte Soziale Mobilität durch Spekulation.
John Law ? Wikipedia
Die Gesellschaft dürfte sich von der Verschuldung und den Reformen deutlich als betroffen erkannt haben und hat auch dementsprechend reagiert.
 
Die Gesellschaft dürfte sich von der Verschuldung und den Reformen deutlich als betroffen erkannt haben und hat auch dementsprechend reagiert.

Und dafür ein Beispiel, welches man nicht per se in die Ecke der Ökonomen stellt:

Charles de Secondat, Baron de Montesquieu ? Wikipedia

Montesquieu, der aristokratische ... - Google Bcher
Demokratietheorien: Eine Einfhrung - Google Bcher

Der Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung, Steueraufkommen und Besteuerung von Bevölkerungsgruppen/Verteilungsfragen wurde durchaus gesehen und durchdacht. Ein Hinweis daher auf das Kapitel zur Besteuerung
Vom Geist der Gesetze ? Wikipedia
 
Ich dachte weniger an Law, sondern eher an die 1760er bis 1780er. Ich fragte mich, ob die Menschen, welche Marie Antoinette später Madame Déficit nannten, überhaupt halbwegs einen Einblick in die finanzielle Lage hatten. Ich würde eher annehmen, dass die Libellisten sehr viel mehr als die wirkliche Staatsverschuldung die Stimmung bestimmten. Das würde auch erklären, weshalb es nicht zu einem Bündnis des 3. Standes mit dem König kam, welcher ja im Grunde bloß eine gerechtere Besteuerung anstreben musste.
 
Ich dachte weniger an Law, sondern eher an die 1760er bis 1780er. Ich fragte mich, ob die Menschen, welche Marie Antoinette später Madame Déficit nannten, überhaupt halbwegs einen Einblick in die finanzielle Lage hatten. Ich würde eher annehmen, dass die Libellisten sehr viel mehr als die wirkliche Staatsverschuldung die Stimmung bestimmten. Das würde auch erklären, weshalb es nicht zu einem Bündnis des 3. Standes mit dem König kam, welcher ja im Grunde bloß eine gerechtere Besteuerung anstreben musste.

Es ist nur verständlich, dass die Menschen die Probleme personalisieren. Madame Déficit ist eine Facette, das finanzielle Desaster dauerte nun aber mit einigen Höhen und Tiefen bereits über 150 Jahre an. Bei dem Desaster (seiner Höhe) kann man auch kaum übertreiben, die Zwangs- bzw. Runter-Stempelungsaktionen für die Staatsverschuldung (Gebr. Paris) waren 1-2 Generationen her und die Finanzfolgen der Kriege des 18. JH gaben den Rest. In Verbindung mit der empfundenen Steuerbelastung und der Steuer-Ungerechtigkeit kann man wohl davon ausgehen, dass die Staatverschuldung als Thema präsent war - und mit Madame Déficit auch gegenständlich wurde (auch wenn man ihr nicht die gesamten Staatsschulden an den Hals hängen kann).

Da kann man eine schöne Kausalkette aufmachen: 7-jähriger Krieg -> Kollaps der Staatsverschuldung -> Revolution (Schema F wurde später nicht so eingehalten: 1914-1919-1923). Die frz. Revolution könnte man fast noch den Schlachtfeldern Friedrichs anhängen. Preußen ging nach dem Krieg ebenfalls harten Zeiten entgegen.
 
@ silesia
Wobei ich dachte, dass Terray einen Schuldenabbau erreichte und das Übel weniger bei Louis XV als in seinem Nachfolger zu suchen wäre. Aber dahingehend widerspricht sich, wenn ich mich recht entsinne, auch die Literatur, die ich habe.
 
Ich dachte weniger an Law, sondern eher an die 1760er bis 1780er.
Ein zentraler Begriff für diese Zeit ist noch nicht genannt worden: die Physiokratie als die erste geschlossene Volkswirtschaftslehre! Als Meister und charismatischer Führer dieser Denkschule gilt unbestritten François Quesnay; unter den weiteren Publizisten sind, neben Turgot, vor allem Victor Riquetti de Mirabeau, Paul Samuel Dupont de Nemours, Nicolas Baudeau, Pierre Mercier de la Rivière und Guilleaume Le Trosne zu nennen.

Es erschienen zu dieser Zeit viele Publikationen zum Thema; man könnte versuchen (hat sicher schon jemand getan!), Zahl, Auflage und damit die mutmaßliche Leserschaft genauer zu bestimmen. In dem hierdurch gezogenen Kreis spielte die Steuer- und Verschuldungsdebatte zweifellos eine wichtige Rolle. (Ob es staatswissenschaftliche Zeitschriften gab, in welchen das Thema eine Rolle hätte spielen können, müsste man recherchieren.)

Im Übrigen ist es wie immer: Zum Ausmaß der Dissemination solcher und anderer Ideen weiss man nichts Genaues. Man darf keinesfalls heutige Vorstellungen in die Vergangenheit projizieren.
Nur zur Veranschaulichung folgende Analogie: Im Jubeljahr 2005 war zu lesen: "Mit der Uraufführung der Räuber 1782 wurde Schillers Name schlagartig in der ganzen Welt bekannt." Was heißt das praktisch? Wen hat diese Nachricht in welcher Zeit in welchem Weltteil wirklich erreicht?:grübel:
 
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Ein zentraler Begriff für diese Zeit ist noch nicht genannt worden: die Physiokratie als die erste geschlossene Volkswirtschaftslehre! Als Meister und charismatischer Führer dieser Denkschule gilt unbestritten François Quesnay; unter den weiteren Publizisten sind, neben Turgot, vor allem Victor Riquetti de Mirabeau, Paul Samuel Dupont de Nemours, Nicolas Baudeau, Pierre Mercier de la Rivière und Guilleaume Le Trosne zu nennen.

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Im Übrigen ist es wie immer: Zum Ausmaß der Dissemination solcher und anderer Ideen weiss man nichts Genaues. Man darf keinesfalls heutige Vorstellungen in die Vergangenheit projizieren.
Nur zur Veranschaulichung folgende Analogie: Im Jubeljahr 2005 war zu lesen: "Mit der Uraufführung der Räuber 1782 wurde Schillers Name schlagartig in der ganzen Welt bekannt." Was heißt das praktisch? Wen hat diese Nachricht in welcher Zeit in welchem Weltteil wirklich erreicht?
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Stimmt, darauf bin ich wiederholt gestoßen. Quesnay und Turgot gaben dem Getreide einen zentralen Platz in ihren Überlegungen, vielleicht einleuchtend, wenn man bedenkt, dass Frankreich noch überwiegend agrarisch geprägt war.

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Diese Übertreibungen habe ich ja selbst an anderer Stelle, wie ich hoffe gelungen, anhand von Vergleichen entzaubert.
Ich denke, die Heranführung dieses Beispieles, passt hier allerdings sehr gut in den Kontext.
 
Ein zentraler Begriff für diese Zeit ist noch nicht genannt worden: die Physiokratie als die erste geschlossene Volkswirtschaftslehre!

Kleiner Einwand: ich verbinde das mit der "ersten" Beschreibung von Wirtschaftskreisläufen, von Sektoren und Interdependenzen, darauf bezieht sich wohl auch die Beschreibung"geschlossen". Bei der volkswirtschaftlichen Betrachtungen muss man von ersten Ansätzen ausgehen, ohne natürlich die Aussage oder Leistung entwerten zu wollen.

Bezgl. der frz. Publikationen gibt es eine reichhaltige Bibliographie bei Sée, Französische Wirtschaftsgeschichte, Band I, leider kaum zeitgenössische bzw. ihre Rezeption, soweit ich das übersehe.
 
Noch ein Hinweis am Rande:

Jacques Necker ? Wikipedia
Necker, Jacques/Mortimer, Thomas: A treatise on the administration of the finances of France : in three volumes (1785) [De l'Administration des finances de la France, 1784]

Zitat:
"Im Jahr 1781 verfasste Necker seinen berühmten Compte rendu, einen Bericht an den König, und veröffentlichte dessen Staatsfinanzen. Nie zuvor hatten die Leute Einsicht in die staatlichen Einnahmen und Ausgaben, was sie nun zum Denken anregte und sie immer aktiver werden liess. Die Geburt der öffentlichen Meinung waren später eine wichtige Rolle in der Französischen Revolution."

[Necker: Compte rendu au roi, 1781]
 
Kleiner Einwand: ich verbinde das mit der "ersten" Beschreibung von Wirtschaftskreisläufen, von Sektoren und Interdependenzen, darauf bezieht sich wohl auch die Beschreibung"geschlossen". Bei der volkswirtschaftlichen Betrachtungen muss man von ersten Ansätzen ausgehen, ohne natürlich die Aussage oder Leistung entwerten zu wollen.
Ja, geschlossen in dem Sinne, dass es "die ersten Nationalökonomen (waren), die eine umfassende Anschauung des gesamten Wirtschaftskreislaufs besaßen und nach quantitativen Zusammenhängen zwischen den einzelnen wirtschaftlichen und sozialen Größen forschten, um aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge den sozialen Ablauf sinnvoll zu gestalten" (Schmölders, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 1962, S. 34). "Entwertet" wurden die Physiokraten tatsächlich sehr schnell durch Adam Smith und die liberale Schule. Adolf Damaschke hat ihnen jedoch in seiner Geschichte der Nationalökonomie (Bd. 1, S. 228-325) ein Denkmal gesetzt und auf manche späte Anerkennung verwiesen.

Wichtig vielleicht noch, dass die Physiokraten auch eine bemerkenswerte, auf dem Boden des Naturrechts - der "ordre naturel" - stehende Gesellschaftsphilosophie entwickelten (ausführlich dazu: Güntzberg, Die Gesellschafts- und Staatslehre der Physiokraten, 1907 [nicht sooo dick, aber schon ganz schön alt:winke:).
 
Ja, geschlossen in dem Sinne, dass es "die ersten Nationalökonomen (waren), die eine umfassende Anschauung des gesamten Wirtschaftskreislaufs besaßen und nach quantitativen Zusammenhängen zwischen den einzelnen wirtschaftlichen und sozialen Größen forschten, um aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge den sozialen Ablauf sinnvoll zu gestalten" (Schmölders, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, 1962, S. 34). "Entwertet" wurden die Physiokraten tatsächlich sehr schnell durch Adam Smith und die liberale Schule. Adolf Damaschke hat ihnen jedoch in seiner Geschichte der Nationalökonomie (Bd. 1, S. 228-325) ein Denkmal gesetzt und auf manche späte Anerkennung verwiesen.

Na, wenn wir denn beim Lobhudeln sind, Staatslexikon 1929, Art. "Physiokratismus":

"Der P. ist das erste sozialökonomische Lehrsystem, das alles wirtschaftliche und soziale Sein und Geschehen, und zwar in Betonung der Schlüsselstellung des Bodens und seiner Erzeugnisse, als Gesamtbild und Gesamtablauf zu erfassen und zu verstehen sucht. ... Der P. ist das Widerspiel zum Merkantilismus und zu dem an ihm orientierten Polizeistaat. Er löste Individuum und Wirtschaft aus der beengenden obrigkeitsstaatlichen Bevormundung und wandte sich entgegen der einseitigen Förderung und dem übertriebenen Schutz von Industrie und Handel einer bevorzugten Pflege der Landwirtschaft zu."
 
Necker, Jacques/Mortimer, Thomas: A treatise on the administration of the finances of France : in three volumes (1785) [De l'Administration des finances de la France, 1784]
:yes: Könnte man neuerdings herunterladen und lesen (Internet Archive: Free Download: A treatise on the administration of the finances of France : in three volumes), wenn man Zeit hätte...

Die publizistische Auseinandersetzung zwischen Necker und Calonne erregte seinerzeit auch einige Aufmerksamkeit. Wenn ich schon dran bin, sei auch noch der Compte du Trésor von 1788 erwähnt, der "erste und letzte [Beinahe-] Haushaltsplan der Monarchie", dessen wichtigste Zahlen von Soboul (Die Große Französische Revolution, S. 75) referiert werden.
 
Wie ist Turgots Sekretär Boncerf einzuordnen, welcher in London anonym seine Ansichten zu den "Nachteilen der Feudalrechte" erscheinen ließ? Das Parlament von Paris ordnete die Verbrennung des Werkes am 23. Februar 1776 an, was wohl für die Schrift spricht.

"Wenn sich der systematische Geist, der die Feder dieses Schriftstellers geführt hat, unglücklicherweise der Menge bemächtigt, würde man die Verfassung der Monarchie alsbald vollständig und gänzlich erschüttert sehen: Die Vasallen würden sich binnen kurzem gegen ihre Herren, und das Volk gegen seinen Souverän erheben."
ließ das Parlament verlauten.
*

* Walter Makov: "Revolution im Zeugenstand 1789-1799" Band 1, Philipp Reclam jun., Leipzig, 1982
S.21
 
Wie ist Turgots Sekretär Boncerf einzuordnen, welcher in London anonym seine Ansichten zu den "Nachteilen der Feudalrechte" erscheinen ließ? Das Parlament von Paris ordnete die Verbrennung des Werkes am 23. Februar 1776 an, was wohl für die Schrift spricht.

Wie sieht es dazu mit der These aus, dass dieses Werk mindestens von Turgot lanciert worden ist, wenn es nicht sogar aus seiner Feder stammt?
Internet Archive: Free Download: Turgots soziale politik ..
 
Wie sieht es dazu mit der These aus, dass dieses Werk mindestens von Turgot lanciert worden ist, wenn es nicht sogar aus seiner Feder stammt?
Internet Archive: Free Download: Turgots soziale politik ..
Markov zumindest geht nicht soweit.

Ich fände es erstaunlich, wenn Turgot es geschrieben hätte. Fand nicht damals die Öffentlichkeit recht rasch herraus, von wem ein Werk stammte und wäre das nicht eine Gefahr für die weitere Karriere des allerdings schon im Juni 1776 verabschiedeten Generalkontrolleurs der Finanzen gewesen?
 
Wie ist Turgots Sekretär Boncerf einzuordnen, welcher in London anonym seine Ansichten zu den "Nachteilen der Feudalrechte" erscheinen ließ? Das Parlament von Paris ordnete die Verbrennung des Werkes am 23. Februar 1776 an, was wohl für die Schrift spricht.
Boncerf war ein engagierter Physiokrat und keineswegs "nur" ein treuer Gefolgsmann oder Bauchredner. Ich kann seine Les inconvniens des droits fodaux - Google Bcher nur mühsam lesen; das Werk wird allgemein als sachlich und durchaus moderat in seiner politischen Zielrichtung eingeschätzt. Da das Parlament aber ohnehin mit Turgot über Kreuz lag, schlug es mit der Verbrennungsanordnung sozusagen den Sack und meinte den Esel.

PS: Für eine Autorschaft Turgots fand ich bisher keinen Beleg; gegen das "Lancieren" ist wohl nichts zu sagen.
 
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