Wenn Germanicus gewonnen hätte...

Solwac

Aktives Mitglied
ist der Titel eines Beitrags in der Welt über eine Ausstellung in Haltern.

Darin wird darauf hingewiesen, dass nach den drei Legionen des Varus ungefähr dieselben Verluste in den acht Jahren danach folgten. Wie ist das im Vergleich zu der Eroberung Galliens 60-70 Jahre vorher? Oder im Vergleich zur Eroberung Britanniens 50 Jahre später?

Und hätte ein erobertes Germanien wirtschaftlich diesem Aufwand etwas entgegen zu setzen gehabt? Die keltischen Oppida bieten doch mehr als tiefe Wälder.
 
Germanicus hatte 80.000 Mann. Auch in der Antike konnte man mit 20 bis 25 % Verlust in, respektive rund um eine Schlacht rechnen. Das ist schon mehr als für Varus angenommen wird. Und es ist nicht höher als die Verluste, mit denen man auf einem Feldzug schon wegen Krankheit, Unfällen und kleineren Scharmützeln rechnen musste.

Hier fällt der heutige Kommentar und auch so mancher Forianer auf die antiken Berichte herein. Augustus hatte etwa gleichzeitig das Problem, dass die Verpflichtungen eines Großteils der Soldaten auslief und die Kämpfe in Illyrien verlustreich waren.

Dennoch kann man fragen, was Rom gewonnen hätte, dass generell den Aufwand lohnte. Rom hätte sicher nach Bodenschätzen gesucht. Und das hätte sich in Germanien fraglos gelohnt. Nur muss man fragen, ob sie z.B. das Silber des Harzes mit den damaligen Mitteln schon hätten fördern können. Bernstein und zum Glasmachen geeignete Sande wären sicher auch in den Fokus geraten. Anderes, wie die Intensivierung von Leinen- und Wollproduktion, hätte von entsprechender Initiative abgehangen. Heute sind wir gewohnt, Deutschland als rohstoffarm zu betrachten. Das gilt aber nur hinsichtlich moderner Rohstoffe. Zudem war Germanien größer.

Dann ist zu bedenken, dass die römische Verwaltung minimalistisch war. Die höheren Beamten waren nicht besoldet, die niedrigeren erhielten sich durch Korruption oder auf Kosten der kommunalen Selbstverwaltung. Im Übrigen griff man auf die Armee zurück, die man mangels längerer Grenzen nicht hätte vergrößern brauchen. Da wäre es schon ein Kunststück, wenn es sich auf lange Sicht nicht gelohnt hätte.

Allerdings hätte wieder ein Vorfeld geschaffen werden müssen, was dann wieder zu Eroberungen hätte verleiten können... Bei diesem Gedanken erhebt sich tatsächlich die Frage, ob es sich gelohnt hätte. Wären die Rohstoffe genau bekannt gewesen, hätte Rom vielleicht dennoch nicht verzichtet.

Also wieder mal hätte, hätte, Fahrradkette.
 
Sehr interessant.

In einer sehr neuen Veröffentlichung findet sich ein Beitrag mit dem Titel:
"Wenn Germanicus gesiegt hätte..." von Wilm Brepohl.

Was hätte dann sein können?

Fakt wäre, daß das Gebiet des Imperiums vergrößert worden wäre. Die Ost- oder auch Nordgrenze wäre nicht mehr am Rhein, sondern an der Elbe gewesen. Wäre das für die Römer einfacher gewesen? Wohl kaum. Man hätte wohl Truppen vom Rhein an die Elbe verlegen müssen. Aber die Truppen am Rhein mussten ja nicht nur Germanien, sondern auch Gallien kontrollieren. Das wäre wohl ohne neue Aushebungen schwierig geworden. Germanien wäre wohl stets, aber besonders zu Anfang einer Provinzialisierung ein sehr schwer zu kontollierendes Gebiet gewesen. Schon aufgrund einer fehlenden zentralen Herrschaft. Es gab halt eine Stammeskultur und kein germanisches Bewußtsein. Das ist ein großes Problem.

Und dann die Frage:
Hätte eine Grenze an der Elbe die Völkerwanderung wirksamer aufhalten können als eine Grenze am Rhein? Hätte das Imperium wohl möglich länger standgehalten?

Hätte es wohlmöglich die großen Kriege (1618-1648 und 1914-1918 und 1939-1945) in Europa nicht gegeben?

Hätte eine wirklich europäische Union weit vorher existiert?

Fragen über Fragen!

Hätte, hätte...Fahradkette.

By the way:
@Riothamus:
Woher hast du die Sicherheit mit den 80.000 Mann?
 
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... Germanien wäre wohl stets, aber besonders zu Anfang einer Provinzialisierung ein sehr schwer zu kontollierendes Gebiet gewesen. Schon aufgrund einer fehlenden zentralen Herrschaft. Es gab halt eine Stammeskultur und kein germanisches Bewußtsein. Das ist ein großes Problem.

Im Gegenteil, das war sogar ideal. Die Römer haben wo auch immer jede Form überregionaler Zentralherrschaft zerschlagen, bevor sie zur Provinzialisierung schritten. Die einzige Zentralherrschaft, die existieren durfte war Rom. Die nächste Ebene waren direkt die Civitates (Städte/Stämme). Diese wurden von den Provinzstatthaltern als Organe der zentralen Administration kontrolliert. Man war Bürger des Imperiums und Bürger einer Civitas. Alles dazwischen war nicht erwünscht. Keine Gallier, keine Griechen, keine Punier und schon gar keine Germanen. Nationen hatten keine Existenzberechtigung und grenzten an Hochverrat.

Auch in Gallien oder Illyrien hatte es keine zentrale Herrschaft gegeben. Das Problem in Germanien war eher die auch auf lokaler Ebene nur rudimentär existierenden administrativen Strukturen und eine lokale Elite, die sich nur sehr zögerlich instrumentalisieren ließ. Diese Instrumentalisierung war aber DER kritische Erfolgsfaktor römischer Herrschaft schlechthin. Germanicus hatte mit seiner törichten Vorgehensweise aber ausgerechnet die römfreundliche Elite endgültig verprellt oder untergraben und so die notwendige Grundlage für eine erfolgreiche Provinzialisierung beseitigt. Dazu kamen die geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und ein militärisch / geografisch schwieriges Gelände.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Römer haben wo auch immer jede Form überregionaler Zentralherrschaft zerschlagen, bevor sie zur Provinzialisierung schritten. Die einzige Zentralherrschaft, die existieren durfte war Rom. [...] Man war Bürger des Imperiums und Bürger einer Civitas. Alles dazwischen war nicht erwünscht. Keine Gallier, keine Griechen, keine Punier und schon gar keine Germanen. Nationen hatten keine Existenzberechtigung und grenzten an Hochverrat.
Diese Aussage finde ich zu pauschal. Mal abgesehen vom Sonderfall Ägypten, wo die bestehende Verwaltungsstruktur im Wesentlichen beibehalten wurde, duldeten die Römer zumindest Städtebünde (wenngleich diese kaum reale Kompetenzen hatten), teilweise förderten sie deren Bildung sogar (z. B. den Lakonischen Bund).

Die nächste Ebene waren direkt die Civitates (Städte/Stämme). Diese wurden von den Provinzstatthaltern als Organe der zentralen Administration kontrolliert. .
Und genau das wäre in Germanien ein Problem gewesen. Zentraler Anknüpfungspunkt war die Stadt als Träger der lokalen (Selbst-)Verwaltung, von wo aus auch das Umland kontrolliert wurde. Städte fanden die Römer etwa in Gallien und Spanien vor, aber in Germanien bestand in dieser Hinsicht noch Nachholbedarf.
 
Und genau das wäre in Germanien ein Problem gewesen. Zentraler Anknüpfungspunkt war die Stadt als Träger der lokalen (Selbst-)Verwaltung, von wo aus auch das Umland kontrolliert wurde. Städte fanden die Römer etwa in Gallien und Spanien vor, aber in Germanien bestand in dieser Hinsicht noch Nachholbedarf.

Das Problem hatte ca. 800 Jahre später auch Karl der Große, als er die Grenze des Frankenreiches bis an die Elbe verschob. Man könnte auch sagen, wo August scheiterte, hatte Karl Erfolg.

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Gebiet gesichert, durch die Anlage von Klöstern (z. B. Münster), Pfalzen (z. B. Dortmund, Paderborn) und Bischofssitzen (z. B. Paderborn, Hildesheim), die dann zu Stadtgründungen führten oder aus denen Städte wuchsen. Die lokalen Eliten wurden einbezogen oder liquidiert. Nach wenigen Jahrzehnten stellen sie mit den Ottonen sogar die Königsdynastie.

Man möge mich korrigieren, aber von umfangreicheren Städten aus der Zeit vor der Eroberungen durch Karl den Großen im Sachsenland ist mir nichts bekannt. Als ob sich in den Jahrhunderten zwischen Augustus und Karl dem Großen dort nicht viel getan hätte.
 
Germanien wäre wohl stets, aber besonders zu Anfang einer Provinzialisierung ein sehr schwer zu kontollierendes Gebiet gewesen. Schon aufgrund einer fehlenden zentralen Herrschaft. Es gab halt eine Stammeskultur und kein germanisches Bewußtsein. Das ist ein großes Problem.
Im Gegenteil, das war sogar ideal. Die Römer haben wo auch immer jede Form überregionaler Zentralherrschaft zerschlagen, bevor sie zur Provinzialisierung schritten. Die einzige Zentralherrschaft, die existieren durfte war Rom. Die nächste Ebene waren direkt die Civitates (Städte/Stämme). Diese wurden von den Provinzstatthaltern als Organe der zentralen Administration kontrolliert.
Ich sehe das ganz dezidiert so wie Salvus. Es sind im Prinzip die alten Eliten, die zum Mediator der Romanisierung werden, das können wir immer wieder anhand sowohl von epigraphischen Quellen als auch anhand von literarischen Quellen nachweisen. Bei den Germanen haben wir eher das Problem, dass sich die Stämme offenbar nur schwer greifen ließen und die Gefolgschaftsverhältnisse offenbar zu locker waren, als dass man verlässlich sagen konnte, dass wenn ein Stammesführer Freundschaft mit den Römern schloss oder als besiegt gesehen werden konnte, dass das auch für den Rest des Stammes galt.

Man war Bürger des Imperiums und Bürger einer Civitas. Alles dazwischen war nicht erwünscht. Keine Gallier, keine Griechen, keine Punier und schon gar keine Germanen. Nationen hatten keine Existenzberechtigung und grenzten an Hochverrat.
Dagegen sprechen Kohorten, die auch über die tatsächliche ethnische Zusammensetzung hinaus ihre Ethniennamen behielten und über Jahrzehnte durch Inschriften zurückzuverfolgen sind, da waren Germanen in Rom oder in Iudäa oder am Hadrianswall stationiert, Pannonier und Syrer in Germanien etc. oder auch solche Bauinschriften wie diese hier, die verfasst wurde, als Augustus seine 24. Tribunitia potestas innehatte und sein 13. Konsulat bekleidete.
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Eine ethnische Egalisierung betrieben die Römer also nicht willentlich. Sie geschah einfach, weil die alten Stammes- bzw. Regionaleliten zu römischen Funktionsleiten wurden und begannen sich lateinische Namen zu geben und Latein zu sprechen und die Untertanen das übernahmen.
 
@ 80.000 Mann: Das ist natürlich nur die übliche Angabe. Aber auch bei nur der Hälfte ergäben sich ohne Kampfhandlungen Verluste von 40.000 Mann. Also ein mehrfaches der Varustruppen. Da man dabei nur die Sollstärke annahm, muss man zumindest noch den Train hinzurechnen. Das käme bei der üblichen Annahme von 20-25% nochmal in etwa an 10.000 Mann Verlust. Bei 80.000 Mann also 100.000 Mann. Aber, wie gesagt, geht das auf die üblichen Angaben zurück, die m.E. Idealrechnungen des 19. Jh. sind und auch heute noch immer wieder zitiert werden. Für den Zweck, eine Größenordnung einzuschätzen sind sie aber geeignet, da man ja z.B., wie gerade getan Bruchteile annehmen kann.

Wenn Du eine Stärker Schätzung willst, brauchst Du erst einmal die Sollstärke, die schon umstritten ist. Im 19. Jahrhundert hat man den Train nicht mitgerechnet, was sehr viele heutige Autoren ebenso machen, weil sie Abschreiben. Dabei sind nicht nur die Zahlen zu rechnen, die überliefert sind, weil sie nur die Troßknechte der Untereinheiten angeben. Der Transport der Geschütze ist z.B. dabei nicht berücksichtigt. Also gibt es auch dabei nur ein von bis und keine exakte Zahl.

Dann kann man ewig um den Faktor streiten, durch den man die reale Stärke erhält. Für Varus haben wir das Mal gemacht. Am Ende habe ich dann nach den kleinsten und größten Schätzungen gerechnet, wodurch wir eine Spannbreite nach den verschiedenen Einschätzungen hatten.

Für Germanicus gibt es noch ein paar zu bedenkende Probleme mehr. Wenn wir das auch für ihn durchdexerzieren wollen, sollten wir einen eigenen Thread aufmachen...
 
Die Römer haben wo auch immer jede Form überregionaler Zentralherrschaft zerschlagen, bevor sie zur Provinzialisierung schritten.

Nein, sie haben diese übernommen. Ohne Strukturen, die schon vorher bestanden, wäre es mE in der Tat sehr schwierig gewesen, eine zentralisierte Herrschaft auszuüben.

Auch in Gallien oder Illyrien hatte es keine zentrale Herrschaft gegeben.

Eine zentral-gallische sicher nicht, aber die Herrschaftsstrukturen innerhalbder einzelnen Stämme waren bei den Galliern sehr viel stärker ausgeprägt als bei den germanischen. Dafür sprechen Caesars Berichte über die Sozialstruktur der Gallier sowie die Existenz der oppida, die auch nicht im luftleeren Raum existieren konnten; oder in der Wüstenei, die Germanien damals gesellschaftlich darstellte...

Dann ist zu bedenken, dass die römische Verwaltung minimalistisch war. Die höheren Beamten waren nicht besoldet, die niedrigeren erhielten sich durch Korruption oder auf Kosten der kommunalen Selbstverwaltung.

Diese Korruption bzw das Kosten tragen durch die kommunale Selbstverwaltung setzt aber eine solche voraus. Diese gab es in Germanien nicht, oder wesentlich geringer ausgeprägt als bspw in Gallien. Oppida konnten bspw nur existieren, wenn sie irgend eine Form der Verwaltung inkl Abgaben hatten, die die Römer dann für sich instrumentalisieren konnten. Bei den verstreut lebenden Germanen, deren einzige Form der Verwaltung die Versammlung freier Bauern waren, funktionierte das nicht. Hier hätte eine Verwaltung bzw Abgabeneinziehung erst institutionalisiert werden müssen, und das dauert, und es kostet.

Das Problem hatte ca. 800 Jahre später auch Karl der Große, als er die Grenze des Frankenreiches bis an die Elbe verschob. Man könnte auch sagen, wo August scheiterte, hatte Karl Erfolg.

(...)

Als ob sich in den Jahrhunderten zwischen Augustus und Karl dem Großen dort nicht viel getan hätte.

Da hatte sich mE eine ganze Menge geändert. Zur Zeit Karls d. Gr. gab es "Großstämme" wie die Sachsen, auf deren internen Strukturen man sich beziehen, bzw die man ausnutzen konnte. Zur Zeit des Augustus waren die Stämme noch sehr viel kleinteiliger geordnet, was es schwieriger und aufwändiger machte, sie zu kontrollieren.

Ein anderer Punkt sind vielleicht die Unterschiede zwischen den beiden Eroberern, aber hier begebe ich mich auf dünnes Eis. Evtl waren die Franken, die ja ursprünglich auch ein germanischer Großstamm waren, trotz Romanisierung strukturell und kulturell "besser geeignet", mit den Zuständen in Germanien zurecht zu kommen.
 
Nein, sie haben diese übernommen. Ohne Strukturen, die schon vorher bestanden, wäre es mE in der Tat sehr schwierig gewesen, eine zentralisierte Herrschaft auszuüben.

Die zentrale Herrschaft haben sie immer zerschlagen! Eine nationale Identität oder Provinz-Identität hat man nie wieder zugelassen.
Zentrale Verwaltungs-Strukturen haben sie manchmal übernommen. So etwa in der verwaltungstechnischen Ausnahmeprovinz Ägypten. Meist aber nur teilweise, wie mit dem Steuersystem in Sizilien.
Eine römische Provinzadministration benötigte aber nicht zwingend vorhandene überregionale Verwaltungsstrukturen, die man übernehmen konnte. Funktionierende lokale Einheiten waren vollkommen ausreichend.

Eine zentral-gallische sicher nicht, aber die Herrschaftsstrukturen innerhalbder einzelnen Stämme waren bei den Galliern sehr viel stärker ausgeprägt als bei den germanischen.
Ja, genau das ist der Punkt. Zentrale nationale Strukturen brauchte man nicht. Wenn aber auch die lokalen Strukturen mangelhaft waren, hatte das römische Herrschaftssystem große Probleme.
 
Zuletzt bearbeitet:
@ Carolus: Das mit den Sachsenkriege ist komplizierter. Z.B. verhandelten Römer mit Gemeinwesen und kannten verschiedene Organisationsformen, während Karl nur berücksichtigte was er von zu Hause kannte und anscheinend zunächst nur mit dem Adel verhandelt hat. Dann ging er von nur einem großen Gemeinwesen aus, en Fehler, den die Römer ebenfalls nicht machten. Der Unterschied ist, dass er nicht aufgab. Vielleicht, weil es ihm nicht auf materiellen Gewinn ankam?

Dann gab es durchaus große Siedlungen, z.B. Balhorn bei Paderborn. Hier tritt das Problem hervor, dass die Schriftquellen noch bis ins Hochmittelalter für solche Probleme nicht aussagekräftig sind. Ob eine Wüstung ein Einzelzimmer oder eine große Siedlungen, kann oft nicht gesagt werden, bevor nachgeschaut wird.

Aber auch diese Themen sollten wir woanders diskutieren.

@ Alle:

Es ist nicht richtig, dass es keine politische Organisation gab. Abgesehen von Situationen der Isolation sind alle menschlichen Gesellschaften organisiert. Nach den bezeugten Funktionen changierten die germanischen Gesellschaften nach der Einteilung des Neoevolutionismus zwischen Stämmen und primitiven Staaten. (Letzteres kann zumindest für Marbod diskutiert werden. Ich will es hier nur erwähnen, nicht vertreten, da ich sein Reich im Prinzip für eine Entlehnung aus römischen Zusammenhang halte und nicht für eine germanische Organisationsform. Bei Ariovist und Arminius mag es anders aussehen. Aber da würde ich nicht von primitiven Staaten sprechen.) Woher kommt nun die angeblich mangelnde politische Organisation? Aus dem Chauvinismus heutiger Autoren. Nach Cicero wird 'gentes' nur scheinbar sauber mit 'Sippen' übersetzt. Dann schaut man bei den Ethnologie nach und kommt, weil man es -von einem Europäischen Standpunkt ähnlich dem kolonialen des 19. Jh.- nicht versteht, zu dem Schluß, dass es keine Organisation gab. Darüber, dass die Historiker hier nachsitzen müssen, wurde schon in den 80ern lamentiert. Wwr Geschichte studiert hat, sollte davon soweit gehört haben. Nur, dass sich in der Literatur um die Zeit des Varusschlachtjubiläums wieder der alte Standpunkt durchsetzte. Warum? Weil auffiel, dass wir für die Zeit um Christi Geburt nicht wirklich Nachrichten über die Organisationsform besitzen. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Und nun kommen 2 beliebte Fehlschüsse ins Spiel. Zum einen gingen viele davon aus, dass das Fehlen von Nachrichten ein Beweis darstellt. Das zweite Manko ist bei dem Thema häufig, dass davon ausgegangen wird, dass eine Organisation bewiesen werden muss. Aufgrund der oben genannten Erkenntnis, dass eine Organisation die Regel ist, ist das aber nicht der Fall. Im Geschichtsforum -fragt mich jetzt bloß nicht nach den Threads- waren wir eigentlich schon so weit, dass das eigentliche Problem ist, ob und wieweit die Römer fremde Organisationsformen durchblickten, während wir die germanischen Organisationsformen nach meiner Erinnerung nur kurz diskutiert haben.

Hier liegt auch der Grund, warum ich die Sachsenkriege nicht für vergleichbar halte. So sehr Karl vieles ignoriert haben mag, waren sich Franken und Sachsen in Vielem ähnlicher als Römer und Germanen. (Germanen verstanden als Ethnien des Operationsgebiet der Germanienfeldzüge.)

Es ist ebenfalls unrichtig, dass es kein germanisches Selbstbewusstsein gab. Mannus-Mythologie. Hatten wir schon oft genug. Nur hat ein solches Bewusstsein eben nicht notwendigerweise einen Einfluss auf die politische Organisation. Das ist nur ein modernes, nationalistische Vorurteil. Jenseits der Feststellung, dass ein gemeinsames Bewusstsein überliefert ist, dass die römischen Autoren als 'germanisch' bezeichnen und dessen Erstreckung und Entstehung -im Gegensatz zum römischen Germanienbegriff- nicht gefasst werden kann, bringt uns das dementsprechend keine weitere Erkenntnisse, solange wir nicht in den nationalistischen Denkfehler verfallen.
 
Die zentrale Herrschaft haben sie immer zerschlagen! Eine nationale Identität oder Provinz-Identität hat man nie wieder zugelassen.
Zentrale Verwaltungs-Strukturen haben sie manchmal übernommen. So etwa in der verwaltungstechnischen Ausnahmeprovinz Ägypten. Meist aber nur teilweise, wie mit dem Steuersystem in Sizilien.

Das eine hängt mit dem anderen zusammen.

Funktionierende lokale Einheiten waren vollkommen ausreichend.
(...)
Wenn aber auch die lokalen Strukturen mangelhaft waren, hatte das römische Herrschaftssystem große Probleme.

Eben. In Germanien gab es mE, im Gegensatz zu Gallien oder anderen Gebieten, die sich das römische Reich einverleibte, praktisch gar keine hierarchischen Strukturen, die sich intrumentalisieren ließen. Die "lokalen Einheiten" waren überschaubar genug, dass sie ohne solche funktionierten.
 
@ Reinecke: Es ging mir um die Kosten der Verwaltung einer eingerichteten Provinz. Dass bei der Einrichtung Kosten anfallen ist ja kein Argument. Es gab auf der unteren Ebene die Verwaltung durch die Armee oder Selbstverwaltung. Letztere Einzurichten kostete den Staat nur die Urkunden für Landschenkungen. Die Infrastruktur musste nicht zusätzlich bezahlt werden. Dazu wurde ja die Armee eingesetzt. Baumaterial brauchte in diesem Fall auch nicht bezahlt werden...

Das soll oben übrigens nicht Einzelzimmer, sondern Einzelhof heißen. Siehe Signatur.
 
Das eine hängt mit dem anderen zusammen.



Eben. In Germanien gab es mE, im Gegensatz zu Gallien oder anderen Gebieten, die sich das römische Reich einverleibte, praktisch gar keine hierarchischen Strukturen, die sich intrumentalisieren ließen. Die "lokalen Einheiten" waren überschaubar genug, dass sie ohne solche funktionierten.

Andererseits ließe sich dieser germanische Partikularismus auch dazu benutzen, eine Herrschaft zu installieren. Die Gallier unter Ariovist schlossen sich erst angesichts der römischen Bedrohung/Expansion zu einer gemeinsamen Front zusammen. Ähnliches gilt für die Germanen unter Arminius. Je kleiner dieser Einheiten sind, so besser kann man diese gegeneinander ausspielen (divide et impera) und mit Zuckerbrot und Peitsche ein Herrschaftssystem installieren. Die Germanen im linksseitigen Rheinland wurden auch trotz Fehlen einer Hierarchie relativ schnell romanisiert.
 
@ Riothamus: Es geht mE nicht um "politische Organisation", sondern um eine hierarchische Organisation, die sich mittels Gewalt oder Vorteilsgewährung von außen übernehmen, steuern, instrumentalisieren lässt. Irgendwie politisch* ist es auch, wenn sich die Jäger/Sammler-Sippe am Feuer trifft und über die nächste gemeinsame Jagd diskutiert. Aber eine solche Struktur lässt sich von Außenstehenden kaum ausnutzen, da sie, wie die Teilnehmenden, individuelle Überzeugungsarbeit** leisten müsste.

Nun waren die Germanen sicher keine Jäger & Sammler mehr, innerhalb der Familien/Sippen gab es auch feste, patriarchalische Strukturen, aber mE waren die politischen Institutionen (die Versammlung der Familienoberhäupter bzw freien Bauern) kleinteilig und nicht-hierarchisch genug, um eine Beeinflussung durch Andere, hier die Römer, extrem zu erschweren. Auch hier hätten die einzelnen Familienoberhäupter/freie Bauern mehr oder minder einzeln überzeugt werden müssen, und was hatten die Römer der breiten Masse dieser Personen schon zu bieten? Die Römer haben bei den "Stammeseliten" angesetzt, aber hatten diese denn die Macht, ihren Willen durchzusetzen? ME sprechen die wenigen Daten, die wir haben, eher dagegen.

Natürlich gibt es Gegenbeispiele dazu, schließlich sind das fließende Übergänge innerhalb komplexer Prozesse. Die linke Rheinseite brachten die Römer unter Kontrolle. Vielleicht waren die Verhältnisse hier denen in Gallien oder anderswo, wo die Römer erfolgreich waren, ähnlicher. Vielleicht betrieben sie hier einen größeren Aufwand, um den Rhein, ein geographisches Hindernis, als Grenze nutzen zu können. Vermutlich war die örtliche Nähe zu dem schon unter römischer Kontrolle stehenden Gallien ein Vorteil. Alle diese Punkte (und noch andere) mögen hier aussschlaggebend gewesen sein.

Das Markomannen-"Reich" unter Marbod ist auch ein interessanter Fall. Dessen Gebiete waren mWn vorher von Kelten besiedelt gewesen und kannten vielleicht schon (bzw noch) einen anderen, "höheren" Grad an hierarchischer Organisation. Auch waren die Markomannen ("Grenz-Männer") selber vielleicht schon stärker durch den Kontakt mit römischen bzw davor gallisch-keltischen Verhältnissen beeinflusst als die Germanen an der Elbe. Allerdings kommen hier mE auch die Unterschiede Römer - Marbod-Herrschaft zum tragen. Marbod war selber Germane und konnte die germanischen Verhältnisse besser überblicken und nutzen. Dennoch war seine Herrschaft (wie auch die Kontrolle des Arminius über die anti-römische Koalition) kurzfristig, was mE ein Zeichen dafür ist, dass hier kurzfristige Prozesse, vielleicht auch persönliches Charisma, eine Rolle spielten.

Das römische Verständnis von Herrschaft, Politik, Organisation war aber sehr verschieden vom germanischen. Diese Unterschiede machen eine Machtübernahme schwierig. Die Anerkennung der Oberherrschaft eines Marbod durch zahlreiche Stämme ist etwas anderes, als eine römische Provinzialverwaltung mit ihren bürokratischen Zwängen, Abgabepflichten etc zu akzeptieren.

Du hast sicher recht, dass jedes menschliche Gemeinwesen irgend eine Art der politischen Organisation kennt. Aber diese können mE trotz fließender Übergänge so unterschiedlich sein, dass sie sich als nicht kompatibel erweisen, was eine Übernahme/Ausnutzung der vorhandenen Strukturen zwecks Herrschaftsausbübung bis zur Unmöglichkeit erschwert. Die völlige Ersetzung vorhandener Strukturen durch eigene lag hier mE über den Möglichkeiten der Römer.

* ... ist ja alles, wie die 68er lehrten... ;)

** Sei es durch Überredung, Vorteilsgewährung, Zwang oder anderes

Es gab auf der unteren Ebene die Verwaltung durch die Armee oder Selbstverwaltung. Letztere Einzurichten kostete den Staat nur die Urkunden für Landschenkungen. Die Infrastruktur musste nicht zusätzlich bezahlt werden.

Die Kosten für diese Armee waren aber sehr hoch. besonders, wenn sie ständig benötigt wird, um den Eingeborenen wiederholt zu "erklären", was eine Landschenkunsurkunde ist und was sie bedeutet... ;)

EDIT
Je kleiner dieser Einheiten sind, so besser kann man diese gegeneinander ausspielen (divide et impera) und mit Zuckerbrot und Peitsche ein Herrschaftssystem installieren.

Nur bis zu einem gewissen Grad. Ist sie zu kleinteilig, braucht es einen großen Aufwand, um den Überblick über die beteiligten "Einheiten" zu bewahren, mit ihnen in Kontakt zu treten und sie zu beeinflussen.
 
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