Westukrainische VR (1917/1918 - 1919)

Shinigami

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Man sollte bei der Diskussion um die polnische Ostgrenze aber auch den polnisch-sowjetischen Krieg von 1920/21 nicht außer Acht lassen

Den polnisch-sowjetischen Krieg finde ich argumentativ etwas schwierig, weil man dann unterstellen würde, dass die Sowjetunion in irgendeiner Form bessere Ansprüche auf diese Gebiete gehabt hätte als Polen.

Was mir in diesem Kontext zu sehr untergeht, ist dass es sowohl in Galizien, als in Weißrussland ja nach dem 1. Weltkrieg durchaus Versuche gegeben hat von Russland und Polen unabhängie Staatswesen zu begründen, was wenigstens im ukrainischen Fall wohl durchaus auch eine gewisse Unterstützung durch die lokale Bevölkerung hatte.

Westukrainische Volksrepublik – Wikipedia

Wenigstens in diesem Fall könnte man von der Auseinandersetzung zwischen Warschau und Moskau abgesehen zumindest mal sehr deutlich hinterfragen, ob was Ostgalizien betrifft, man die die Niederwerfung des sich dort herausbildenden ukrainischen Staates und die Inkorporation des Gebiets nach Polen so besonders rechtmäßig und in diesem Sinne kompensationswürdig finden möchte.

Im Hinblick auf die weißrussischen Gebiete, ist so eine Argumentation sicherlich schwieriger, weil da deutlich weniger Unabhängigkeitsbestrebungen der lokalen Bevölkerung eine Rolle spielten und die verhandelten Ansprüche im wesentlichen die konkurrierendenn Ansprücher zweier Okkupationsmächte waren.

Für Ostgalizien sieht das ein wenig anders aus.

Was die heute litauischen Gebiete betrifft, dürfte die Gemengelage noch etwas komplizierter sein.
 
Den polnisch-sowjetischen Krieg finde ich argumentativ etwas schwierig, weil man dann unterstellen würde, dass die Sowjetunion in irgendeiner Form bessere Ansprüche auf diese Gebiete gehabt hätte als Polen.

Für Russland galt das vielleicht nicht. Für die Sowjetunion, der seit 1922 eben auch die Weißrussische und die Ukrainische SSR angehörten könnte man durchaus Ansprüche sehen.
 
Für Russland galt das vielleicht nicht. Für die Sowjetunion, der seit 1922 eben auch die Weißrussische und die Ukrainische SSR angehörten könnte man durchaus Ansprüche sehen.

Das Problem sowohl mit der Weißrussischen, als auch der Ukrainischen SSR ist doch aber, dass deren Gründung und Bestand nicht unbedingt eine autentische Artikulation des politischen Willens der Bevölkerung darstellten.

Das waren ja im wesentlichen Projekte, die maßgeblich von bolschewistischen Kadern der entsprechenden Nationalität unter der Protektion Moskaus begonnen wurden und deren Unabhängigkeit von Moskau ja mehr oder weniger von Beginn an eher theoretischer, als praktischer Natur war.

Das sieht, würde ich meinen aber im Hinblick auf die "Westukrainische Volksrepublik" etwas anders aus. Die war kein maßgeblich von Moskau protegiertes und abhängiges Projekt einer bestimmten politischen Clique, sondern durchaus authentische politische Willensäußerung von weiten Teilen der lokalen Bevölkerung.
 
Das waren ja im wesentlichen Projekte, die maßgeblich von bolschewistischen Kadern der entsprechenden Nationalität unter der Protektion Moskaus begonnen wurden und deren Unabhängigkeit von Moskau ja mehr oder weniger von Beginn an eher theoretischer, als praktischer Natur war.

Sicher richtig. Aber wer war 1945 der Vertreter ukrainischer Interessen? Hätte die UkrSSR 1945 Ansprüche stellen können? Diese Ansprüche verfallen ja nicht, weil man gerade von Moskau aus regiert wird.
 
Hätte die UkrSSR 1945 Ansprüche stellen können?

Worauf hätten diese denn basieren sollen?

Die "Westukrainische Volksrepublik" und die "Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik" waren zwei verschiedene, ziemlich unterschiedliche Entwürfe ukrainischer Staatsgebilde, die zur gleichen Zeit existierten.

Insofern wird man die Zustimmung der Bevölkerung in Ostgalizien zu dem einen Projekt, nicht gleichzeitig auch als Zustimmung zu dem anderen Projekt werten können.

Insofern würde ich meinen, die ukrainische Bevölkerung in Ostgalizien hatte 1945 niemanden, der ihre authentischen Interessen vertrat, man hat sie schlicht nicht gefragt.

Warum hätte die UdSSR oder die USSR unter diesen Umständen irgendwelche gerechtfertigten Ansprüche auf dieses Territorium anmelden können sollen?
 
Die "Westukrainische Volksrepublik" und die "Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik" waren zwei verschiedene, ziemlich unterschiedliche Entwürfe ukrainischer Staatsgebilde, die zur gleichen Zeit existierten.
(...)
Warum hätte die UdSSR oder die USSR unter diesen Umständen irgendwelche gerechtfertigten Ansprüche auf dieses Territorium anmelden können sollen?

Die Westukraine VR war auch nur von wenigen Staaten anerkannt.

Andererseits erhob die UkrSSR den Anspruch der Vertretung des Ukrainischen Volkes. Und als Teil der Sowjetunion, außenpolitisch vertreten durch die Sowjetregierung in Moskau, ist hier natürlich schon ein Anspruch denkbar.
Zumindest war dieser nicht weniger diskutabel als der polnische Anspruch auf besagte Gebiete.
 
Die Westukraine VR war auch nur von wenigen Staaten anerkannt.
War aber immerhin authentische politische Willensbekundung der Bevölkerung, so dass sich hier auf deren Selbstbestimmungsrecht abstellen ließe.

Andererseits erhob die UkrSSR den Anspruch der Vertretung des Ukrainischen Volkes.

Behaupten kann man viel. Wie sieht es aber mit irgendwelchen sinnvollen Begründungen aus? Welche realen Hinweise gibt es darauf, dass man sich in Ostgalizien ausgerechnet davon vertreten fühlte?

Und als Teil der Sowjetunion, außenpolitisch vertreten durch die Sowjetregierung in Moskau, ist hier natürlich schon ein Anspruch denkbar.
Und zwar weil?

Zumindest war dieser nicht weniger diskutabel als der polnische Anspruch auf besagte Gebiete.

Wie gesagt, wenn man die polnischen und sowjetischen Ansprüche aneinander misst, dann misst man die Ansprüche zweiter Akteure aneinander, die von der lokalen Bevölkerung, mindestens in Ostgalizien wohl eher als die Machtansprüche auswärtiger Usurpatoren begriffen wurden.
 
War aber immerhin authentische politische Willensbekundung der Bevölkerung, so dass sich hier auf deren Selbstbestimmungsrecht abstellen ließe.

Ich weiß ja nicht so recht, auf was du hinaus willst, aber Begriffe wie "Selsbtbestimmungsrecht" sind doch eher neueren Datums, nach "authentischer politischer Willensbekundung" wurde eher selten gefragt.

Behaupten kann man viel. Wie sieht es aber mit irgendwelchen sinnvollen Begründungen aus? Welche realen Hinweise gibt es darauf, dass man sich in Ostgalizien ausgerechnet davon vertreten fühlte?

Du findest, dass man sich in Ostgalizien nicht als Ukrainer bzw. der Ukraine zugehörig fühlte? Hast du dafür Belege?

Wie gesagt, wenn man die polnischen und sowjetischen Ansprüche aneinander misst, dann misst man die Ansprüche zweiter Akteure aneinander, die von der lokalen Bevölkerung, mindestens in Ostgalizien wohl eher als die Machtansprüche auswärtiger Usurpatoren begriffen wurden.

Von der "lokalen Bevölkerung" ? Wann wurde die denn wo auf dieser Erde gefragt?

Nach deiner Logik hätte kaum ein Staat der Erde jemals einen Anspruch auf sein Staatsgebiet formulieren dürfen.
Von demokratischer Legitimation ist hier nicht die Rede, sondern von völkerrechtlicher.

Dass ein irgendwie gearteter Ukrainischer (oder Weißrussischer) Staat legitime Ansprüche auf ein Territorium haben könnte ist völlig unabhängig davon, ob der jeweiligen Bevölkerung die jeweilige Regierungsform gefällt.
Die klare Mehrheit der Bevölkerung dort sah (und sieht) sich als Ukrainer oder eben Weißrusse.
 
Ich weiß ja nicht so recht, auf was du hinaus willst, aber Begriffe wie "Selsbtbestimmungsrecht" sind doch eher neueren Datums, nach "authentischer politischer Willensbekundung" wurde eher selten gefragt.
Die Begrifflichkeit des Selbstbestimmungsrechts ist sicherlich nicht neueren Datums als die Zwischenkriegszeit. Letztendlich hat die Argumentationsfigur auf der Pariser Friedenskonferenz, die ja zur gleichen Zeit stattfand, wie die Westukrainische VR bestand durchaus ihre Bedeutung gehabt.
Und auch dass etwa von britischer Seite her, was den Zuschnitt des neuen polnischen Staates angeht im Rahmen der Curzon-Line als Vorschlag hierzu Ostgalizien weitgehend ausgeklammert wurde, war sicherlich kein Zufall.

Nein, gefragt wurde die Bevölkerung nicht, weder als sich Polen dieses Gebiet 1919 nahm, noch als die Sowjetunion es sich 1945 nahm.
Eben die Tatsache dass da nicht gefragt wurde gibt in diesem Kontext aber durchaus die Handhabe die Rechtmäßigkeit dessen mal sehr deutlich zu hinterfragen, was, wie ich jedenfalls meine für die Frage ob für den Nachmaligen Verlust des Gebiets eine Kompensation angemessen sei insofern von Bedeutung ist, als dass es eher wenig Argumente dafür gibt, sich in seinen Rechten verletzt zu sehen, wenn man etwas verliert, dass man sich zuvor möglicherweise unter eher fragwürdigen und illegitimen Umständen angeeignet hatte.

Du findest, dass man sich in Ostgalizien nicht als Ukrainer bzw. der Ukraine zugehörig fühlte? Hast du dafür Belege?

Das habe ich keinesfalls behauptet.
Was ich aber durchaus behaupte ist, dass man mindestens in 1917-1919 in Ostgalizien offensichtlich der Meinung war, das man selbst als Westukrainische VR authentischer Vertreter der eigenen Interessen sei und dass man die Regierung der "Ukrainischen SSR", zunächst mit Sitz in Charkow/Charkiw offensichtlich nicht die legitimen Vertreter ukrainischer Interessen oder jedenfalls westukrainischer Interessen hielt, denn sonst hätte man ja mit dieser kooperiert und von Anfang an auf einen Anschluss an die RSFSR/USSR hingearbeitet, statt erstmal zu versuchen seinen eigenen ukrainischen Staat zu gründen.

Weiterhin woher kommt bei dir die Vorstellung, dass es nur einen ukrainischen Staat geben konnte, der naturgemäß die einzig rechtmäßige Vertretung aller Ukrainer sei?

Von der "lokalen Bevölkerung" ? Wann wurde die denn wo auf dieser Erde gefragt?

Z.B.:

- 1859/1860 in Savoyen und Nizza
- 1859/1860 in Toskana, Modena, Parma, Lucca und Beider Sizilien
- 1918/1919 in Teilen Westpreußens, Nordschleswig, Masurens, Oberschlesiens
- 1918/1919 in Deutsch-Westungarn aka. Burgenland, in Kärnten
- 1935 Saargebiet

Ist jetzt zeitlich nicht so weit von den Kontexten der Westukrainischen VR weg.

Davon abgesehen hat man, was die internationale Politik betrifft den Wünschen anderer Staatsgebilde, die sich aus der Konkursmasse des Zarenreichs gelösten ja auch entsprochen, neben Polen namentlich Litauen, Lettland, Estland und Finnland.

So zu tun, als wäre ein west-ukrainischer Staat unter Einschluss Ostgaliziens nach dem 1. Weltkrieg ein völliges Hirngespinst gewesen geht nun doch etwas an den Entwicklungen und Spielräumen der Zeit vorbei, würde ich meinen.

Nach deiner Logik hätte kaum ein Staat der Erde jemals einen Anspruch auf sein Staatsgebiet formulieren dürfen.

Welche Logik meinst du da jetzt im Speziellen?

Im Falle Ostgaliziens wurden mit der 2. Polnischen Republik und der Westukrainischen VR zwei Staatsgebilde im nahezu identischen Zeitraum begründdet, die beide ein bestimmtes Territorium für sich beanspruchten, von denen keiner für sich beanspruchen konnte unmittelbarer Rechtsnachfolger des früheren Inhabers ddes Territoriums zu sein.

Das es unter solchen Umständen, sinnvoll gewesen wäre die Zugehörigkeit des Territoriums, vom Willen der Bewohner abhängig zu machen wirst du nicht bestreiten wollen?
Und dass eine Handlung, die darauf hinausläuft sich mit gewalt etwas anzueignen, auf das auch andere möglicherweise Rechte haben könnten unter Ignoranz von Verhandlungsmöglichkeiten und Vermittlungsversuchen nach Aneignung die Legitimität dieses Besitzes eher schmählert, darüber sind wir uns doch auch einig?

Dass ein irgendwie gearteter Ukrainischer (oder Weißrussischer) Staat legitime Ansprüche auf ein Territorium haben könnte ist völlig unabhängig davon, ob der jeweiligen Bevölkerung die jeweilige Regierungsform gefällt.

Ein solcher legitimer Anspruch könnte sich aber nur aus tradierter zugehörigkeit dieses Territoriums zum entsprechenden Staat herleiten.
Und eine solche bestand nicht.
Das Russische Reich, als wenn man so will Rechtsvorgänger der Sowjetunion hatte auf alle Rechte an diesen Territorien ja im Brest-Litowsker friedensvertrag verzichtet.

Einen ukrainischen Staat in diesem Sinne hatte es vorher ja nicht gegeben.

Auch wurde die Westukrainische VR deutlich früher ausgerufen, als die "Ukraninsche SSR".
Wie du hier also auf irgendwelche legitimen Ansprüche seitens der letzteren auf dieses Gebiet kommst, ist mir schleierhaft.
Als die "Ukrainische SSR" gegründet wurde, reichte ihr Territorium im Westen wegen des Bürgerkriegszustands nicht einmal an Kiew heran, weswegen notgedrungen Charkow/Charkiw zunächst Hauptstadt wurde.
 
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Was ich aber durchaus behaupte ist, dass man mindestens in 1917-1919 in Ostgalizien offensichtlich der Meinung war, das man selbst als Westukrainische VR authentischer Vertreter der eigenen Interessen sei und dass man die Regierung der "Ukrainischen SSR", zunächst mit Sitz in Charkow/Charkiw offensichtlich nicht die legitimen Vertreter ukrainischer Interessen oder jedenfalls westukrainischer Interessen hielt, denn sonst hätte man ja mit dieser kooperiert und von Anfang an auf einen Anschluss an die RSFSR/USSR hingearbeitet, statt erstmal zu versuchen seinen eigenen ukrainischen Staat zu gründen.

Und wer ist nun dieser "man" von dem du da redest? Welchen Rückhalt hatte die Westukrainischer VR überhaupt?
Und warum wollte sie sich dann 1919 der ukrainischen Volksrepublik als gesamtukrainischem Staat anschließen?

Und wie dem auch alles sei, alle diese Gebilde existierten 1945 nicht mehr.

Da kam die Ukrainische SSR als UNO-Gründungsmitglied durchaus als Rechtsnachfolger in Frage.

Dass in totalitären Staaten nun keine Volksabstimmungen durchgeführt wurden, verwundert nicht wirklich, oder doch?
 
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