Wie soll man mit der Geschichte umgehen?

Isabella

Mitglied
Vor einiger Zeit sollte ich eine Arbeit zum Thema "Vertriebene und Flüchtlinge in Raum ...(kleiner Ort in Westdeutschland, dessen Namen ich hier lieber verschweige) nach 1945" schreiben. In dem dortigen Heimatverein habe ich leider nur wenige Informationen gefunden. Vor allem aber ist mir aufgefallen, dass in der Chroniksammlung die Bücher aus und über die Jahre 1933-1945 fehlen. Als ich den Vorsitzenden drauf angesprochen habe, bekam ich folgende Antwort: "Wir haben hier vor einigen Jahren einen Brand gehabt..." :confused: Die zweite Sache, die mich überraschte, war deren Gästebuch, auf dem ein Hakenkreuz nicht zu übersehen war. Als ich fragte, warum das Buch bisher nicht ersetzt wurde, sagte man mir, dass da noch genug Blätter wären... Bei meiner Suche traf ich auf einige Quellen (Augenzeugen), die bezeugen, dass die Flüchtlinge nicht gern hier gesehen worden sind bzw. dass man sie offtmals aussgegrenzt hat. Ein Beispiel: Ein einheimischer, katholischer, junger Mann verliebte sich in eine junge, evangelische Frau aus einer Flüchtlingsfamilie. Als die Beziehung bekannt wurde, hat der einheimische Bauer seinem Sohn ein Ultimatum gestellt: Entweder vergisst er die Frau oder er wird enterbt. Als ich diesen Fall in dem Heimatverein erwähnte, gab man mir zu verstehen, dass dieses Thema nicht erwünscht ist (bzw. dass ich Blödsinn erzähle; "es war so nicht"). Ich wandte mich an meinen Prof., der selber als Kind vertrieben worden ist. Er reagierte ähnlich wie die anderen und verdeutlichte mir, dass dieser Aspekt in meiner Arbeit nichts zu suchen hat. Warum?
Ich bin in Deutschland erst seit wenigen Jahren und muss immer wieder darüber staunen, wie die Deutschen mit der eigenen Geschichte umgehen... Warum können wir über viele Themen nicht offen miteinander sprechen, ohne uns dabei gegenseitig zu beschuldigen?
 
Es gibt in der Geschichte eine Reihe von Tabuthemen, davon muss man nun mal ausgehen.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden etwa 8 Millionen deutsche Ostflüchtlinge aufgenommen und am Ende erfolgreich integriert, mit hohem, auch finanziellen Aufwand (ca. 100 Milliarden DM Eingleiderungshilfe). Dass das ganze Unternehmen aber auch ein großes gesellschaftliches und kulturelles Problem war, das keineswegs reibungslos verlief, darf man dabei aber nicht übersehen. Viele Westdeutsche haben sich dabei nicht gerade solidarisch verhalten, um es mal sehr vorsichtig zu formulieren. Daran mag kaum einer heute gern erinnert werden.

Aber in deiner Nähe, in Ostwestfalen, hat man vor etwas 10 Jahren das Thema systematisch aufgearbeitet. Google mal etwas, dann findest du sicher Material dazu.
 
Ich wandte mich an meinen Prof., der selber als Kind vertrieben worden ist. Er reagierte ähnlich wie die anderen und verdeutlichte mir, dass dieser Aspekt in meiner Arbeit nichts zu suchen hat.

Vor allem dass erstaunt mich. Bei dem Heimatverein könnte ich es noch ein bißchen verstehen, dass die Geschichte des eigenen Ortes verklärt wird. Dem von K.W. Schaefer geschriebenen stimme ich zu. Ich weiß, dass es für eine Studentin nicht ganz leicht ist, wenn ein Prof. dezidiert einen Punkt untersagt, mit dem sie sich beschäftigen möchte. Ich würde es vielleicht trotzdem in die Arbeit aufnehmen.
Auch in den westlichen Besatzungszone bzw. den ersten Jahren der BRD war die wirtschaftliche Lage für den einzelnen nicht rosig. Deshalb wurden die Flüchtlinge oft angefeindet und als Fremdkörper betrachtet. Ihre Unterkünfte waren oft ärmlich; bei mir in der Nähe zogen in einem Dorf die Flüchtlinge in ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager, wie überhaupt der Begriff "im Lager wohnen" damals wohl so ein geflügeltes Wort war. Heute sieht man fast nichts mehr von solchen Lagern.

Ein Beispiel: Ein einheimischer, katholischer, junger Mann verliebte sich in eine junge, evangelische Frau aus einer Flüchtlingsfamilie. Als die Beziehung bekannt wurde, hat der einheimische Bauer seinem Sohn ein Ultimatum gestellt: Entweder vergisst er die Frau oder er wird enterbt.

Da spielt vielleicht auch eine Rolle, dass der konfessionelle Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in den 50er Jahren noch einmal sehr stark gewesen sein soll. Genaueres kann ich dazu auch nicht sagen.
 
Oh ja, meine Großeltern heirateten 1933, er: verwitweter Lehrer, eine Tochter, Protestant, sie: Tochter des katholischen Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, und dummerweise schon schwanger. Für meinen Urgroßvater soll es Anfangs ein echtes Problem gewesen sein. Mein Onkel hat mal Akten eingesehen und eine Eintragung von 6. Januar gefunden, welchen Jahres weiß ich nicht. Der Direx der protestantischen Schule, an der auch mein Großvater als Lehrer beschäftigt war hatte einen an meinen Urgroßvater, der Direx einer naheliegenden katholischen Schule war (der Pfarrgemeinderatsvorsitzende), einen erzürnten Brief geschrieben: Schüler der katholischen Schule, die wegen Dreikönige frei gehabt hatten, hatten Schüler der protestantischen Schule auf dem Schulweg überfallen und mit Knüppeln verdroschen. Und das alles mitten im Ruhrgebiet...
 
Pfarrgemeinderatsvorsitzende gab es zu dieser Zeit nicht, die sind eine nachkonziliare Erfindung (Vaticanum II).
 
Was kann ein katholischer Laie denn in dieser Zeit sonst für ein "hohes" Amt innerhalb der Pfarrgemeinde gehabt haben?
 
Ich meine, daß konfessionelle Unterschiede und Zwistigkeiten nur ein Nebenschauplatz sind. Die Flüchtlinge waren Konkurrenten um den knappen Wohnraum, um die damals ebenso knappen Arbeitsplätze; ein weiterer Aspekt war die hohe Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen: es gab Orte, deren Einwohnerzahl sich durch den Zuzug verdoppelte. Konfessionelle Unterschiede, aber mehr noch sprachliche und kulturelle Unterschiede waren ein Erkennungsmerkmal, aber nicht der Grund für die Ausgrenzung.
 
Es gibt in der Geschichte eine Reihe von Tabuthemen, davon muss man nun mal ausgehen.

In der Bundesrepublik Deutschland wurden etwa 8 Millionen deutsche Ostflüchtlinge aufgenommen und am Ende erfolgreich integriert, mit hohem, auch finanziellen Aufwand (ca. 100 Milliarden DM Eingleiderungshilfe). Dass das ganze Unternehmen aber auch ein großes gesellschaftliches und kulturelles Problem war, das keineswegs reibungslos verlief, darf man dabei aber nicht übersehen. Viele Westdeutsche haben sich dabei nicht gerade solidarisch verhalten, um es mal sehr vorsichtig zu formulieren. Daran mag kaum einer heute gern erinnert werden.

Aber in deiner Nähe, in Ostwestfalen, hat man vor etwas 10 Jahren das Thema systematisch aufgearbeitet. Google mal etwas, dann findest du sicher Material dazu.
Danke für den Tipp. Werde ich machen. Meine Arbeit ist schon längst abgegeben worden, also einbauen kann ich da nichts mehr. Es geht mir ja auch gar nicht darum, weiteres Material dazu zu finden. Als Ausländerin, die an der deutschen Geschichte und Kultur interessiert ist, ist mir wichtig auch die Einstellung der Menschen die in diesem Land wohnen zu verstehen. Ich finde es erstaunlich, dass nach so vielen Jahren die Menschen mit dem Thema II. Weltkrieg und die Nachkriegszeit nicht umgehen können. Vielle, die ich Angesprochen habe sind entweder nicht bereit mit mir darüber zu Sprechen, oder die sagen mir was anderes als sie denken, oder aber die gehen sofort in die Offensive. Ich will doch niemanden Vorwürfe machen nur weil er ein Deutscher ist! Ich frage mich ob es vielleicht an dem Unterricht in den Schulen liegen kann...
 
Irgendwo hab ich nachgelesen, dass man mit Absicht die evagelischen Vertriebenen in die katholische Gebiete Umgesiedelt hat und umgekehrt. Warum eigentlich? Es war doch damals schon klar, dass es zu schwerigkeiten führen wird, oder?
 
Ich muss sagen, dass mich die Erfahrungen Isabellas schon etwas erstaunt haben. Dass das Thema der Flüchtlingsintegration heute noch als Tabuthema behandelt wird kann ich mir gar nicht vorstellen.

Mein Vater war Flüchtling, meine Mutter Einheimische. Da gab es auch Differenzen zwischen den Familien, kultureller wie religiöser Art. Aber man ist darüber hinweggekommen, und heute wird bei den Familienfeiern darüber gelacht.

Daneben habe ich mal gelesen, dass in 2 - 3 Generationen jeder in Deutschland Lebende Flüchtlinge, bzw. Heimatvertriebene in seiner Ahnenlisten haben wird. Also wo ist da ein Problem?
 
Ich finde es erstaunlich, dass nach so vielen Jahren die Menschen mit dem Thema II. Weltkrieg und die Nachkriegszeit nicht umgehen können. Vielle, die ich Angesprochen habe sind entweder nicht bereit mit mir darüber zu Sprechen, oder die sagen mir was anderes als sie denken, oder aber die gehen sofort in die Offensive. Ich will doch niemanden Vorwürfe machen nur weil er ein Deutscher ist! Ich frage mich ob es vielleicht an dem Unterricht in den Schulen liegen kann...
ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, daß die meisten, sie selbst betroffen waren, wenig zu Gesprächen bereit sind. Je weniger man von der Zeit erlebt hat, um so einfacher gelingt ein Gespräch.
Meine Familie väterlicherseits hat auch sehr schlechte Erfahrungen als einzige Flüchtlingsfamilie in einem kleinem Dorf gemacht; heut ist auch kein Bewohner des Ortes bereit, darüber zu sprechen
 
Irgendwo hab ich nachgelesen, dass man mit Absicht die evagelischen Vertriebenen in die katholische Gebiete Umgesiedelt hat und umgekehrt. Warum eigentlich? Es war doch damals schon klar, dass es zu schwerigkeiten führen wird, oder?

Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Bei derart vielen Flüchtlingen werden überall welche hingesetzt worden sein, egal wo Platz war. In wenigen Jahren erinnern - wie so oft - wohl nur noch die Straßennamen daran...
 
Ich muss sagen, dass mich die Erfahrungen Isabellas schon etwas erstaunt haben. Dass das Thema der Flüchtlingsintegration heute noch als Tabuthema behandelt wird kann ich mir gar nicht vorstellen.

Mein Vater war Flüchtling, meine Mutter Einheimische. Da gab es auch Differenzen zwischen den Familien, kultureller wie religiöser Art. Aber man ist darüber hinweggekommen, und heute wird bei den Familienfeiern darüber gelacht.

Daneben habe ich mal gelesen, dass in 2 - 3 Generationen jeder in Deutschland Lebende Flüchtlinge, bzw. Heimatvertriebene in seiner Ahnenlisten haben wird. Also wo ist da ein Problem?
Ich wundere mich selber. Und möchte auch wissen wo das Problem nun ist. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass man darüber nicht gerne Spricht (bzw. wenn es um negative Beispiele geht) und Frage mich warum es so ist. Es bezeugt auch, dass noch eben nicht alle zu den glücklichen gehören, die darüber hinweggekommen sind...
 
die Integration der vertriebenen ist wohl insgesamt inder alten BRD gelungen, aber ich habe in meiner Heimat ähnliches erlebt. Das ist hessische Provinz, dort war ein Kriegsgefangenenlager, u.a. war Francois Mitterand dort. Aus STALAG wurde dann nach dem Krieg ein neues Dorf, wo Vertriebene, vor allem aus Schlesien sich niederließen. Tabu ist dort aber nicht das verhältnis zwischen Ureinwohnern und Flüchtlingen, obwohl das Dorf einen ganz eigenen Flair hat. Dort ist zwar eine Gedenkstätte, aber manche Verbrechen an russischen Kriegsgefangenen sind ein Tabuthema, nicht zuletzt weil dort sehr viele Rußlandaussiedler sich dort niedergelassen haben, von denen einige einen schlechten Ruf genießen.
Du must bedenken, daß in der Provinz bestimmte Vorbehalte gegen Fremde vorhanden sind, die Leute leben eng zusammen und kennen ihre kleinen Schwächen. Das Leben in solchen Orten basiert darauf, bestimmte Regeln und Tabus einzuhalten.
Ich habe ähnliches schon erlebt, als ich über die reichspogromnacht recherchiert habe. die fand bei uns schon am 8. November 1938 statt. Die Synagoge wurde nicht verbrannt, weil nebenan ein SA Mann wohnte. Eine sehr nette alte dame, eine wirkliche Lady, hat es mir erzählt. Sie hat es als junges Mädchen heimlich vom Fenster aus beobachtet.

Und das ist es eben, jeder Deutsche hat gesehen, wie die Synagogen brannten, jeder hat den Stern gesehen, viele haben die Güterzüge gesehen und wer an der Ostfront war, mochte in rückwärtigen Räumen, bei Geiselerschießungen Dinge sehen, die furchtbar genug waren, um davon lieber nicht mehr zu wissen.
Ein couragierter Beamter hat damals übrigens die Ordnung wiederhergestellt und eine Akte angelegt, er wurde bald darauf versetzt.
Ich bin damals auf eine Mauer aus Schweigen gestoßen, obwohl ich aus der Gegend stammte und dort fest integriert war. Wenn dann eine Fremde, Studentin und Ausländerin, unerfahren in den kleinen Feinheiten des Dialekts, des Umgangs hat sie es schwer.
Die Leute meiner Heimat sind leicht aufbrausend und stur, aber ebenso gutmütig, gehst du aber der jüngsten Vergangenheit auf den Grund, wirst du leider dann feststellen, daß es eben nicht die "Nazis" waren, sondern der Bäcker, der Milchmann, der Briefträger, Menschen wie du und ich, deren Nachkommen noch vor Ort leben. Ich habe meine Zeitzeugen schließlich zum reden gebracht, weil ich sie überzeugen konnte, daß es mir nur darum ging, die Wahrheit zu kennen, um verstehen zu können.
Daß du aber bei einer Behörde, einem Archiv solches Pech hast, tut mir wirklich leid für Dich.
 
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