Wie sozial war Bismarcks Politik aus heutiger Sicht?

Das ist eher eine philosophische, denn eine historische Frage, denn es kommt alles darauf an, welcher Idee von sozialer Gerechtigkeit und welcher Vorstellung von "guten Taten" man anhängt. Häufig wird hier die Frage gestellt, ob eine gute Tat gut ist, wenn sie gutes bewirkt oder ob sie gut ist, wenn sie eine gute Absicht hatte.

Aber kommen wir einmal zum zweiten Problem der Frage: Was ist "heute"? Es gibt keine allgemein anerkannte Sichtweise zur sozialen Gerechtigkeit, Liberale (der klasischen oder neoklasisschen Schule) werden wohl steuerfinanzierte Sozialmaßnahmen anders sehen als Sozialdemokraten und wieder anders als Konservative.

Darüber hinaus sind Übertragungen auf die heutige Zeit immer schwer, weil wir einen gewissen Entwicklungsprozess durchgemacht haben. Heute wären die Bismarck'schen Sozialreformen wohl kaum erwähnenswert, weil ihr Leistungsumpfang eigentlich in der westlichen Welt Standard sein sollte. Also würde man sie wohl kaum als "sozial" bezeichnen. Für die BRD wären Bismarcks Reformen sogar quasi ein Kahlschlag im Sozialsystem. Natürlich könnte man nun anfangen, die Sozialreformen in Vergleich mit den Sozialsystemen anderer Staaten dieser Zeit zu stellen oder aber mit heutigen Schwellenländern, mit einer ähnlichen Industriequote wie das DR um 1880, wobei wir wieder beim Problem der Definition von "heute" wären.

Lange Rede kurzer Sinn: Das kann man so pauschal nicht beantworten.
 
Auch wenn ich meinem Vorposter unbedingt zustimme, ist zu beachten, dass Bismarck den Kurs der Sozialpolitik (Sozialgesetzgebung) vor allem nur eingeschlagen hat, um die politische Lage zu entspannen, Arbeiterschaft und die Kommunisten/Sozialisten/Sozialdemokraten etc. zu befriedigen und mit der kaiserlichen Regierung Kaiser Wilhelms I. zu versöhnen, und genannten systemoppositionellen Parteien/Organisationen die Unterlage zu entziehen, da diese ja nunmehr "überflüssig" geworden wären (so hoffte der Staat).
Ein reines Mittel zum Zweck also.

Hinzukommt, dass Otto Fürst von Bismarck eine Politik à la "Zuckerbrot und Peitsche" betrieben hatte (vgl. Sozialistengesetze).
 
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Und dennoch ist das Deutsche Reich mit seiner Sozialgesetzgebung allen anderen Staaten der Welt vorangeschritten und lange Zeit auch Vorbild gewesen.
 
Auch wenn ich meinem Vorposter unbedingt zustimme, ist zu beachten, dass Bismarck den Kurs der Sozialpolitik (Sozialgesetzgebung) vor allem nur eingeschlagen hat, um die politische Lage zu entspannen, Arbeiterschaft und die Kommunisten/Sozialisten/Sozialdemokraten etc. zu befriedigen und mit der kaiserlichen Regierung Kaiser Wilhelms I. zu versöhnen, und genannten systemoppositionellen Parteien/Organisationen die Unterlage zu entziehen, da diese ja nunmehr "überflüssig" geworden wären (so hoffte der Staat).
Ein reines Mittel zum Zweck also.

So streng würde ich das nicht sehen. Bismarck hat sich durchaus auch für die Inhalte der neu geschaffenen Sozialversicherung interessiert und sich letztendlich für eine "öffentlich rechtliche" Lösung ausgesprochen, weil ihm durchaus bewusst war, dass sich das Gewinnstreben privatwirtschaftlich organisierter Versicherungen und die Erfordernisse einer sozialen Absicherung der Arbeitnehmer nicht immer in Übereistimmung bringen lassen.

Ihm war durchaus bewusst, dass unabhängig von der Versöhnung der Arbeiterklasse mit dem Staat die soziale LAge dieser Klasse verbessert werden musste.

Aus heutiger Sicht war die soziale Absicherung noch recht dürftig. Aber damals war sie geradezu revolutionär und wegweisend. Meiner Meinung nach sollte man dies auch würdigen. Bismarck hat getan, was im damaligen Umfeld möglich war. Heutige Maßstäbe anzulegen ist einfach nicht zielführend.

Viele Grüße

Bernd
 
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Eine Beobachtung: Manche Ein-Satz-Fragen werden hier im Forum brutal abgeblockt, manche führen direkt in eine Diskussion.

In dem Fall: Ich würd gern dem Lehrer des Fragestellers einen grünen Bommel verleihen... und hoffe, Mitgliedsname* nimmt was daraus mit... :winke:

* Übrigens ein selten uninspirierter Nick, aber was soll's... ;)

Meine Meinung: Zuckerbrot und Peitsche, Sozialgesetzgebung und Sozialistengesetze als Verbot der Organisationen der Arbeiterschaft, es passt zusammen. Es ging um die Befriedung, nicht um Emanzipation oder Bildung für die Arbeiterschaft. Dazu gab es auch kaum Ansätze, die Klassenschranken waren während des gesamten Kaiserreiches ziemlich undurchlässig.

Sozialistengesetz ? Wikipedia
 
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So streng würde ich das nicht sehen.

Wie immer gibt es auch hier zwei Seiten. Da ich eher ein Bismarck-Gegner bin (was seine gescheiterte Innenpolitik angeht), habe ich wohl das unterschlagen, was du jetzt angesprochen hast.

Ich würde das allerdings (oder trotzdem) hinterfragen, ob es auch eine (kleine) selbstlose Seite in dieser Sache gab. Ich kenne Bismarck eher als skrupellosen Machtpolitiker, der geschickt die Diplomatie benutzt, um Kriege zu provozieren.

In dem Zusammenhang stimme ich Reinecke unbedingt zu, da ich eher Bismarcks Opportunismus denn seine Nächstenliebe und Sorge um das Volk sehe. Ich stelle jetzt auch einfach mal die These auf, dass den meisten Politikern (nicht allen!) und Staatsmännern die Situation der Arbeiterschaft vollkommen egal war, solange es keine Revolution gab und die Sozialisten schön unterdrückt werden konnten.
 
Decurion schrieb:
Ich kenne Bismarck eher als skrupellosen Machtpolitiker, der geschickt die Diplomatie benutzt, um Kriege zu provozieren.

Eine etwas verkürzte Sicht. Bismarck hat seit 1871 immerhin maßgeblich dafür Sorge getragen, das während seiner Kanzlerschaft es zwischen den Großmächten zu keiner militärischen Auseinandersetzung gekommen ist.
 
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Ich stelle jetzt auch einfach mal die These auf, dass den meisten Politikern (nicht allen!) und Staatsmännern die Situation der Arbeiterschaft vollkommen egal war, solange es keine Revolution gab und die Sozialisten schön unterdrückt werden konnten.

Vielleicht hast Du ja Recht, wer weiss?:grübel:

:grübel:Aber wer sind denn bitte schön die "meisten Politiker"? Gehören dazu auch Politiker aus dem christlichen Umfeld? Die der SPD gehören wohl kaum dazu, oder sind das die Ausnahmen?

Und wie kommst Du überhaupt zu dieser These?:grübel: Wer vertritt diese Meinung bzw. Deine These und wie wird das differenziert dargestellt?

Eine derartige weitgehende These bedarf doch wohl ein wenig einer gewissen inhaltlichen Fundierung durch die Ergebnisse von Historikern etc. :winke:

Ich kenne Bismarck eher als skrupellosen Machtpolitiker,
Oder solltest Du einer der wenigen Zeitgenossen sein, die die damalige Zeit noch als Zeitzeuge mitgemacht haben und aus der unmittelbaren Erfahrung erzählen können?;)
 
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@ thanepower: Ja gut, mit den "meisten Politikern" meinte ich gerade nicht die SPD, sondern eher die konservativen, systemkonformen etc. Missverständlich ausgedrückt.

Da es sich hierbei nur um eine These handelt, darf diese natürlich auch gerne widerlegt werden. Ich freue mich aber auch über Untersützung, denn ich muss gestehen, dass ich gerade keine Literatur dazu zur Hand habe...

Das Zweite finde ich alelrdings etwas kindisch...
Wenn du sagst, du "kennst" Robbie Williams oder Justin Bieber (muhahaha), dann meinst du ja auch nicht, dass du täglich bei denen zum Dinner eingeladen bist und ihr eine tiefe Freundschaft pflegt. Es bedeutet nicht einmal, dass du einen von ihnen auch nur irgendwann getroffen hast. Du hast aber sehr wohl von ihnen gehört, über sie gelesen etc.

@ Turgot: Damit habe ich mich mehr auf Die Zeit vor 1871 bezogen (wie im "Abitur"-Thread nachzulesen ist, ist mir sehr wohl bewusst, dass Bismarck nach der Reichsgründung vor allem auf Frieden und Stabilität gesetzt hat).
 
Das Zweite finde ich allerdings etwas kindisch...

Ich neige sehr selten dazu, kindisch zu sein. Es sollte auch eher der Verweis sein, dass man aufgrund einer gewissen "Redlichkeit", seine Informationsquellen offen legen sollte.

Und Informationsquellen können in der Tat direkte Kontakte sein, wie z.B. bei Haslam, der sich in seinem Vorwort bei "Zeitzeugen" bedankt, die er kannte und die ihm Informationen über die Außenpolitik zur Verfügung gestellt haben.

Insofern ist das durchaus eine direkt Form des Zugangs zu historischem Wissen und durchaus nicht kindisch.

Alternativ ist es der Zugang via Literatur oder Quellen. Eine Form, auf die die meisten von uns angewiesen sind. Und es ist auch eine Frage des Respekt gegenüber den anderen Teilnehmern des Forums, deutlich zu machen, auf welche Grundlage man seine Thesen aufbaut.

Und Du wirst diese Grundlage Dir auch erarbeitet haben via Lesen oder anderen Medien.
 
Als Quellen kann ich dir die Sozialistengesetze nennen, als konkrete Ereignisse den Kulturkampf, den Deutsch-Dänischen Krieg 1864, Deutsch-Deutschen Krieg 1866 und den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Das zeugt für mich nicht nur von politischem Kalkül, sondern auch von skrupelloser Machtpolitik (Gründung des Reiches, Ausschalten von Reichsfeinden).

Nachtrag:
Ich will hier niemanden von meinem Standpunkt überzeugen. Ich sehe Bismarck eben als skrupellosen Machtpolitker an, niemand anderes muss meine Meinung teilen :)
 
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Ganz kurz ein paar Zeilen zur Julikrise 1870

Turgot: Damit habe ich mich mehr auf Die Zeit vor 1871 bezogen (wie im "Abitur"-Thread nachzulesen ist, ist mir sehr wohl bewusst, dass Bismarck nach der Reichsgründung vor allem auf Frieden und Stabilität gesetzt hat).

Es war internationaler Druck aus London, Belgien und natürlich Paris und ganz entscheidend natürlich der Rat Wilhelms I., der Fürst Karl Anton veranlaßte die Thronkandidatur in Namen seines Sohnes zurückzuziehen. So weit, so gut.

Nun begann die französische Diplomatie jedes Maß zu verlieren und wollte Preußen noch weiter, vor den Augen ganz Europas, demütigen. Die Diplomtie Gramonts hatte schon kriegstreibenden Charakter und damit hat er Bismarck direkt entgegengearbeitet.

Des Weiteren verdient hier auch die französische öffentlichen Meinung Frankreichs Erwähnung unter deren Druck Napoelon III. stand. Seit Juli 1866 hatte Napoleon III. angesichts des preußischen Sieges von Königgrätz eine Revanche-Politik mit immer neuen Kompensationsforderungen betrieben. Bismarck wußte nur Napoleons Pläne mit seiner überlegenen Diplomatiezu vereiteln. Genau dadurch wurde jedoch das französische "Trauma" von "revanche pour Sadowa" immer weiter verschäft.
 
Wie immer gibt es auch hier zwei Seiten. Da ich eher ein Bismarck-Gegner bin (was seine gescheiterte Innenpolitik angeht), habe ich wohl das unterschlagen, was du jetzt angesprochen hast.

Ich würde das allerdings (oder trotzdem) hinterfragen, ob es auch eine (kleine) selbstlose Seite in dieser Sache gab. Ich kenne Bismarck eher als skrupellosen Machtpolitiker, der geschickt die Diplomatie benutzt, um Kriege zu provozieren.

Natürlich hat jedes Ding zwei Seiten. Bismarck war aber auf jeden Fall lernfähig. Nachdem er eine Sozialversicherung zunächst als "Staatssozialismus" abgelehnt hatte, änderte er aber seine Meinung als es um die Einführung einer gesetzlichen Unfallversicherung ging. Aufgrund der Erfahrungen mit nur zögerlich regulierenden Versicherungen (Geschichte wiederholt sich anscheinend doch :p) lehnte Bismarck schließlich eine Lösung mittels privatwirtschaftlich agierenden Versicherungen ab, "weil der Unfall als solcher vom sittlichen Standpunkt nicht Gegenstand der Spekulation und Dividendenverteilung sein darf." (Nachzulesen bei Gitter, Wolfgang: Der Weg zur Unfallversicherung aus rechtswissenschaftlicher Sicht, S. 28).


Das hört sich eigentlich nicht unbedingt nach einem skrupellosen Machtpolitiker an. Ich gestehe aber gerne zu, dass Bismarck neben seinem "sittlichen Standpunkt" sicherlich auch die Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitskraft sowie evtl. auch der Wehrfähigkeit der betroffenen Personen im Auge hatte.

Viele Grüße

Bernd
 
Bismarcks hatte sicher mehr als nur ein Motiv für die Einführung der Sozialversicherungen.

Bismarck war durch und durch ein klassischer preußischer Junker und als solcher hing er den junkerlich patriarchalischen Traditionen an. Das bedeutet in der Praxis, die Sorge um die Leute, um die man sich zu kümmern hat. Genau deshalb hatte Bismarck ja auch kein Verständnis für die Forderungen nach Emanzipation und Gleichberechtigung der Arbeiter.

Selbstverständlich spielte der Aufstieg der Sozialdemokratie und die damit einhergehende Revolutionsfurcht eine nicht unwichtige Rolle, aber das war eben nur ein Motiv.
 
Klingt nach einer Hausaufgabe.
Ich würde die Aufgabe an sich so verstehen das du erstmal erklärst was sie Sozialpolitik beinhaltete. Dann gehst du dazu über was sie heute für eine Stellung hat und wie sie hilft nicht in Armut zu stürzen.
Unterstreichen kannst du es vielleicht auch noch mit Gegenbeispielen (also Ländern die noch immer nicht so etwas haben).
 
Cephalotus schrieb:
So streng würde ich das nicht sehen. Bismarck hat sich durchaus auch für die Inhalte der neu geschaffenen Sozialversicherung interessiert und sich letztendlich für eine "öffentlich rechtliche" Lösung ausgesprochen, weil ihm durchaus bewusst war, dass sich das Gewinnstreben privatwirtschaftlich organisierter Versicherungen und die Erfordernisse einer sozialen Absicherung der Arbeitnehmer nicht immer in Übereistimmung bringen lassen.

Ihm war durchaus bewusst, dass unabhängig von der Versöhnung der Arbeiterklasse mit dem Staat die soziale LAge dieser Klasse verbessert werden musste.

Bismarck war sich der Sozialen Frage sehr bewußt und er hatte schon in den ersten Jahren seiner Ministerpräsidentschaft über Lösungen nachgesonnen. So hatte er beispielsweise dafür Sorge getragen, das eine Abordnung von Webern aus Wüsteregiersdorf bei König Wilhelm huldvoll empfangen worden.

Des Weiteren hatte er ätzende Kritik an dem Ausschuss, der die Beschwerden überprüfen sollte, geübt. Er führte u.a. in einer 57 seitigen Kritik aus, das die Voreingenommenheit des Ausschusses schon dadurch deutlich wird, das er es für nötig gehalten hat, die fortlaufende Lohnminderung zu rechtfertigen, aber eine Untersuchung der Gewinne der Firmen erst gar nicht für nötig erachtet habe. (1)

(1) Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, S.289
 
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