Wilhelm zwo / Bremerhavener Rede / Rhetorik

fwin

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Hallo!


Ich habe mal eine historische Frage.

Kleine Vorgeschichte:
Ich bin momentan in den letzten Atemzügen meiner Schulkarriere (Abi schon geschrieben) und schreibe meine letzten Grundkursklausuren ... einer meiner GKs ist Deutsch (aktuelles Kursthema: Rhetorik!). Meiner Ansicht nach ist der komplette Unterricht des 13. Jahrgangs eine einzige Farce – deshalb bin ich mündlich auch so schlecht (Note 5); konnte mich aber bisher dank recht guter schriftlicher Ergebnisse auf so 8-9 Punkte retten.

So auch dieses letzte Halbjahr – dachte ich. Nun aber kam die Klausur (von der ich dachte, sie würde mir die Note retten):

Gegeben war die sog. „Hunnenrede“ von Wilhelm zwo:

http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede



Die Aufgabe lautete (in etwa, ich durfte den Zettel nicht mit rausnehmen) wie folgt:
1. Analysieren Sie die rhetorischen Stilmittel und bewerten Sie die Rede. Beachten Sie dabei Adressatenbezug, Angemessenheit …
2. Könnte eine solche Rede heute noch vor dt. Soldaten gehalten werden? Erläutern Sie.


Zunächst mal: Ja, die zweite Aufgabe war ernst gemeint, ich habe mich vergewissert. Habe dann halt eine Satire geschrieben (nicht besonders witzig .. hab irgendwelche Zusammenhänge zwischen Wilhelm II und dem Sänger von Tokio Hotel hergestellt) … ich hoffe, mein Lehrer, der an sich ganz okay ist, versteht, dass es mir zu blöd war das ganze Programm von „Wir sind ach so demokratisch und pluralistisch und frei und toll und gerecht und Würde des Menschen und überhaupt!“ runterzuleiern und gibt mir dafür vllt. Sogar eine ganz gute Note (hoffentlich …)

Mir geht es um die erste Aufgabe.


Rein objektiv gesehen. ICH habe im Geschichts-LK gelernt, dass Wilhelm historisch betrachtet eine absolute Nullnummer und Witzfigur war, die politisch absolut NICHTS draufhatte. Und: Dass er RHEOTISCH eine vollkommen zu vernachlässigende Figur war. (Habe mich bei meinem LK-Lehrer rückvergewissert!)

Liege ich mit dieser Ansicht falsch? Ich habe meine Deutschlehrer [der die Klausur nicht geschrieben hat; das war der Parallelkurslehrer] das gefagt – der meinte, für die Zeit sei die Rede angemessen gewesen, zudem seinen „durchaus“ einige rhetorischen Stilmittel enthalten (Euphemismen [Übertreibungen]) z.B.. Das ist doch vollkommener Blödsinn, oder? Wilhelm hat doch eben NICHT zu Verdeutlichung übertrieben; sondern das was er gesagt hat wirklich so gemeint! Er war eben nicht gerade die Leuchte.

Eine Rede von Wilhelm also in einer Klausur über RHETORIK zu nehmen, finde ich eine absolute … okay, nicht Frechheit – aber es ist zumindest vollkommener Schwachsinn.

Oder nicht?

Hier noch die (offizielle Version) der Rede im Wortlaut:
"Große überseeische Aufgaben sind es, die dem neu entstandenen Deutschen Reiche zugefallen sind, Aufgaben weit größer, als viele Meiner Landsleute es erwartet haben.

Das Deutsche Reich hat seinem Charakter nach die Verpflichtung, seinen Bürgern, wofern diese im Ausland bedrängt werden, beizustehen.

Die Aufgaben, welche das alte Römische Reich deutscher Nation nicht hat lösen können, ist das neue Deutsche Reich in der Lage zu lösen.

Das Mittel, das ihm dies ermöglicht, ist unser Heer.

In dreißigjähriger treuer Friedensarbeit ist es herangebildet worden nach den Grundsätzen Meines verewigten Großvaters.

Auch ihr habt eure Ausbildung nach diesen Grundsätzen erhalten und sollt nun vor dem Feinde die Probe ablegen, ob sie sich bei euch bewährt haben.

Eure Kameraden von der Marine haben diese Probe bereits bestanden, sie haben euch gezeigt, dass die Grundsätze unserer Ausbildung gute sind, und Ich bin stolz auf das Lob auch aus Munde auswärtiger Führer, das eure Kameraden draußen sich erworben haben.

An euch ist es, es ihnen gleich zu tun.

Eine große Aufgabe harrt eurer: ihr sollt das schwere Unrecht, das geschehen ist, sühnen.

Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen.

Es ist das um so empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist.

Bewährt die alte preußische Tüchtigkeit, zeigt euch als Christen im freundlichen Ertragen von Leiden, möge Ehre und Ruhm euren Fahnen und Waffen folgen, gebt an Manneszucht und Disziplin aller Welt ein Beispiel.

Ihr wisst es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind."

Kommt ihr an ihn, so wisst: Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht.

Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen.

Wahrt Manneszucht.

Der Segen Gottes sei mit euch, die Gebete eines ganzen Volkes, Meine Wünsche begleiten euch, jeden einzelnen.

Öffnet der Kultur den Weg ein für allemal! Nun könnt ihr reisen! Adieu Kameraden!"

edit: Sehe gerade - ich hatte nur gesehen "1. WK" ist zu spät, also poste mal ins Forum vorher ... naja, das ist auch nicht so ganz passend ... vielleicht kann man den Thread ja verschieben .. oder auch nicht; mh. Es geht ums Jahr 1900!
 
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1. Jede Rede eignet sich dazu, sie rhetorisch zu prüfen! Und es muss der Text an sich im Vordergrund stehen, und nicht die Person.

2. Dein "objektives" Pauschalurteil ist von Begriffen geschmückt, die nicht sehr objektiv sind:

fwin schrieb:
ICH habe im Geschichts-LK gelernt, dass Wilhelm historisch betrachtet eine absolute Nullnummer und Witzfigur war, die politisch absolut NICHTS draufhatte. Und: Dass er RHEOTISCH eine vollkommen zu vernachlässigende Figur war.

Kaiser Wilhelm II. hat drei Jahrzehnte lang die Politik Deutschlands vorgegeben. Seine Person und sein Stil sind gerade angesichts der Konfrontationen, die zum Ersten Weltkrieg führten, alles andere als nebensächlich oder gar "vollkommen zu vernachlässigen".

Gerade seine gesprochenen Worte haben ihn berühmt und berüchtigt gemacht, und ich finde es alles andere als langweilig, sich mit ihnen auseinander zu setzen.

Soweit meine Meinung.
 
He, Moment - du hast mich falsch verstanden. Klar eignet sich jede Rede dazu, sie rhetorisch zu prüfen. Das habe ich in der Klausur natürlich auch getan!

Jedoch ist seine Rede auch objektiv betrachtet kein Glanzstück. Stilmittel beinhaltet sie abgesehen von übertriebenem Pathos (der allerdings natürlich für die Zeit typisch war) nicht - oder?

Der Punkt ist eben, dass meine Deutschlehrer der Ansicht zu sein scheinen, bei der Rede handle es sich um ein großes Werk der Redekunst. Siehst du das denn auch so?


(Das Wort "objektiv" habe ich in diesem Text wohl vorschnell verwendet. Das Solche Wört wie Nullnummer oder Witzfigur nicht objektiv sind, weiß ich ..)


Dass eine Auseinandersetzung mit der Rede und ihren Hintergründen total langweilig wäre, behaupte ich nicht. Aber es geht nur (!) um die Rede; Zusatzmaterialien wurden ja nicht gegeben - das was ich dazu an historischem Hintergrund geschrieben hab, stammt nur aus anderem Gelernten.

Eine Rede von z.B. Thomas Mann wäre unter rhetorischen Gesichtspunkten doch deutlich interessanter gewesen ... oder irgendwas anderes. (Da ich wie gesagt eine schlechte Deutschnote auf mich zukommen sehe, habe ich mir jetzt nochmal willkürlich eine Rede von Horst Köhler rausgegriffen ... und die ist eben _wirklich_ gut! - genauso wie Goebbels, Ciceros oder Bismarcks Reden gut waren ...)

Aber danke zunächsteinmal für die Rückmeldung! :)
 
Zuletzt bearbeitet:
Rein objektiv gesehen. ICH habe im Geschichts-LK gelernt, dass Wilhelm historisch betrachtet eine absolute Nullnummer und Witzfigur war, die politisch absolut NICHTS draufhatte. Und: Dass er RHEOTISCH eine vollkommen zu vernachlässigende Figur war. (Habe mich bei meinem LK-Lehrer rückvergewissert!)

Liege ich mit dieser Ansicht falsch?


Antwort : Ja ! :eek:
Ein Geschichts-LK sollte in der Lage sein , hist. Fakten von Klischeevorstellungen zu trennen.
Mit allen von Dir für Wilhelm II. bereitgestellten Adjektiven wirst Du dieser zwispältigen Person und seiner Wirkung in der dt. Geschichte nicht gerecht, rein objektiv gesehen !
Die Rede an sich halte ich für ein sehr lohnendes Objekt in Sachen Rhetorik.
Wilhelm II. war, so würde man heute sagen, ein Verbal-Erotiker, hat seinen neurotischen, größenwahnanfälligen und -religiös-verbrämten Charakter vorallem in Reden herausgelassen, nicht in aktiver Politik, da waren andere dazwischen, die ihn und andere vor größerem Unglück bewahrten.
Sein martialisches Säbelrasseln bei der "Hunnenrede" war letztlich eine wütende Reaktion darauf, daß dt. Soldaten nicht von Anfang an eine führende Rolle im Kampf gegen die Chinesen (Boxeraufstand ) gespielt haben.
Also gekränkte Eitelkeit, gedemütigtes Prestige.......etc.

Sowohl unter rhetorischen (Deutsch-LK) -wie historischen Aspekten,bietet sich die "Hunnenrede" einer Durchleuchtung an, da vieles von der Person Wilhelms , aber auch von der Zeit klar wird, in der sie gehalten wurde.
 
Hm okay ...

ihr haltet die Rede von Wilhelm also für eine rhetorisch große Leistung? Das kann doch nicht euer Ernst sein.
 
Hm okay ...

ihr haltet die Rede von Wilhelm also für eine rhetorisch große Leistung? Das kann doch nicht euer Ernst sein.
Gerade die Einleitung der Rede passt doch sehr gut in den Ideenkanon der damaligen Zeit. Wilhelm II. verweist auf Traditionen, im Deutschland des 2. Kaiserreichs doch keine Seltenheit. Ich denke da an den ausgeschmückten Saal in der Kaiserpfalz Goslar, in welchem ebenfalls der Brückenschlag von altem Kaisertum zur angeblichen Erneuerung im wilhelminischen Kaiserreich gewagt wird. In diese Richtung würde ich die ersten Sätze interpretieren und weiter nachdenken.
 
Bin zufällig auf eure Diskussion gestoßen. Schade, dass ihr diese nicht fortgeführt habt. Dennoch möchte ich "meinen Senf" dazu geben.


Die sogenannte Hunnerrede von der ihr sprecht, ist in meinen Augen keine gute (und keine leichte) Aufgabe für die rhetorische Aufarbeitung. Für solche eignen sich am besten die Reden, von denen zumindest klare Videoaufzeichnungen existieren. Sie haben einen klaren Vorteil den aufgeschriebenen Reden gegenüber, man kann alles, mitsamt der Körperhaltung, analysieren und Schlüsse daraus ziehen.


Ein sehr gutes Beispiel findet man hier: [MOD: werbenden link und Tagespolitik gemäß Forenregeln entfernt] Bundespräsident Christian Wulff – Die Weihnachtsansprache 2010
 
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