Hallo, Muspilli!
Das Wort Nomadentum macht Dir also zu schaffen. Gut, dann lass uns mal Konfliktpotenzial abbauen. Ich habe ja schon in einem anderen Thread geschrieben, dass die Germanen meiner Ansicht nach keine Nomaden (mehr) waren. Meiner Ansicht nach lässt ihre Lebensweise aber erkennen, dass sie es mal gewesen sind und dass das noch nicht allzu lange her war.
Den von Dir geposteten Link habe ich gelesen. Mal abgesehen davon, dass ich den Text "überintellektuell" und schwer verdaulich fand, scheint mir, dass der Referent mehr auf den Versuch aus war, gemeinsame Gesetzmäßigkeiten für unterschiedliche Lebensweisen (also auch nomadischer oder ortsfester Lebensweise) herauszuarbeiten. Das ist für unser Thema nicht hilfreich, da von dieser Frage ganz entscheidend die Wirtschaftsweise abhängt. Aber das nur am Rande.
Warum komme ich auf "halbnomadisch"?
Ich definiere den Begriff ganz formal: Nomadisch ist ein Volk, das mehr oder minder periodisch seine Wohnsitze wechselt - wie nordamerikanische Prärieindianer, deren Wanderungen vom Zugverhalten der Büffel abhing, oder skandinavische Lappen, die ihren halbdomestizierten Rentieren folgen.
Sesshaft ist eine Gesellschaft dann, wenn sie feste Wohnsitze hat und - vor allem! - eine gemeinsame Infrastruktur aufbaut (Straßen, Marktplätze, zentrale Verwaltungen etc.)
Und insofern waren die Germanen "Wanderer zwischen den Welten": Sie hatten zwar offensichtlich feste Wohnsitze, aber keine Infrastruktur. Deshalb fiel es ihnen leicht, ihre Wohnsitze einfach aufzugeben und sich woanders anzusiedeln. Sie haben keine "teure Infrastruktur" zurückgelassen. Solche Siedlungsbewegungen kamen damals häufig vor.
Auch die Wohnverhältnisse der Germanen deuten das an. Heute ist ein Haus zumeist die kumulierte ökonomische Lebensleistung einer ganzen Familie. Wird es durch ein Erdbeben zerstört, ist die Familie ruiniert. Bei den Germanen war das nicht so. Deren Häuser erinnerten eher an "Unterstände", an bloßen Wetterschutz. Sie ließen sich jederzeit an jedem Ort mit den dort vorhandenen Mitteln neu aufbauen, ohne dass dafür "angesparte Ressourcen" nötig waren.
Folge: Die Gesellschaften (Stämme?) waren überaus beweglich. Das lässt sich an den ständigen Wanderbewegungen Richtung Gallien ablesen, aber auch an der "Standardtaktik", bei Gefahr (Einmarsch der Römer) die "Dörfer" zu verlassen und sich in die Wälder zu zerstreuen oder tiefer ins eigene Gebiet zurückzuziehen. Ich sage damit nicht, dass die Leute nicht lieber zuhause geblieben wären. Ich sage nur, dass es ihnen leicht gefallen ist, sich so zu verhalten, weil sie kaum materielle Güter zurückgelassen haben. Es ist ihnen sogar leicht gefallen, eine Zeitlang ausschließlich von ihrem Vieh zu leben (Viehwirtschaft ist im Gegensatz zur Landwirtschaft eben auch nicht ortsgebunden).
@ Maelonn, da mir das von dir zitierte Buch nicht vorliegt, habe ich in einem anderen von R. Wolters nachgeschaut, was er darin zu der halbnomadischen Germanen zum Besten gibt. Leider findet sich dazu nichts, insofern weißich auch nicht, was er mit dem Begriff "halbnomadisch" meint.
Ich habe ein bisschen Bedenken, Wolters Theorie hier zusammenfassen zu wollen, weil ich erst gestern zufällig über das Buch gestolpert bin und es gekauft habe. Ich bin mit Lesen halt noch nicht weit gekommen. Unter dem Vorbehalt, dass im weiteren Text vielleicht noch mehr zu dem Thema kommt, versuche ich es mal:
Wolters stützt sich auf historische Quellen. Und denen entnimmt er, dass die Barbaren bei der ersten Begegnung mit dem Reich, eine für die Römer erschreckende Mobilität an den Tag gelegt haben. Das fing schon bei Caesar an, der während des gallischen Krieges zweimal harte Kämpfe führen musste, um Siedlungsversuche ganzer Völkerschaften in Gallien zu unterbinden. Zuerst die Sueben unter Ariovist, später Tenkterer und Usipeter (deren Zahl Caesar mit mehreren hunderttausend angibt). Daneben gab es Siedlungsbewegungen mit Zustimmung der Römer (Bataver, Ubier, eventuell später auch Teile der Sugambrer) Gleichzeitig gab es laut Wolters eine Vielzahl von Einfällen germanischer Kriegergruppen, die aus eigenem Antrieb zum Plündern kamen oder sich als Söldner verdingen wollten. Er zitiert Quellen, wonach in praktisch alle Unruhen in Gallien bis zur Zeitenwende germanische Gruppen involviert waren.
Er verweist weiter darauf, dass die eindringenden Gruppen auch "politisch" nicht berechenbar waren. Beispiel: Auf "Einladung" Caesars sind die Sugambrer nach Gallien gekommen, um das Land der (romfeindlichen) Eburonen zu plündern - und dann haben diese "Verbündeten" von einem Moment zum nächsten kehrt gemacht und ein römisches Lager angegriffen.
Wolters selbst relativiert die Idee von der Mobilität der Germanen dann, indem er darauf hinweist, dass insbesondere Caesar diese Mobilität stark betont, dass sie in den Publikationen der folgenden eineinhalb Jahrhunderte dann aber mehr und mehr in den Hintergrund tritt (Tacitus schreibt davon gar nicht mehr). Demnach könnte es so sein, dass Caesar das nur aus politischen Gründen gemacht hat, um die Germanen (die er ja aus innenpolitischen Gründen als "Feind" brauchte) in eine Reihe mit dem Schreckgespenst der Kimbern und Teutonen zu stellen.
Andererseits geht Wolters noch einen Schritt weiter und vertritt die Auffassung, dass es auch hohe Mobilität über Stammesgrenzen hinweg gegeben habe. Ein Zitat:
"Zudem war die Stammeswelt vergleichsweise instabil. In der Überlieferung oft nur kurz aufscheinende und verblassende Stammesnamen spiegeln Abspaltungen und Zusammenschlüsse, Neubildungen und das Verschwinden von Stämmen. Eine gemeinschaftlich handelnde Gruppe blieb oft nur so lange stabil, wei eine starke Führung oder der gemeinsame Erfolg sie zusammenhielt. Mit den aus den Stämmen herausbrechenden Verbänden und deren Mobilität wurden die Römer bei jenen gefolgschaftlich organisierten Kriegergruppen konfrontiert, die als Räuber oder Söldner nach Gallien gekommen waren und sich auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zur materiell weiter entwickelten Kultur hin orientierten. Mit den jungen Männern waren es vor allem die besonders leistungsfähigen Teile der Gesellschaft, die diesen Schritt wagten. Solange sie Erfolg hatten, blieben solche auch aus Angehörigen unterschiedlicher Stämme zusammengesetzten Gruppen zumeist beieinander. Zur Identifizierung und Abrenzung belegten sie sich selbst mit einem spezifischen Namen - oder wurden von außen so angesprochen - und konnten sich im Erfolgsfall als "Stamm" verfestigen."
Zusammengefasst: Wolters geht davon aus, dass den Römern ein und dieselben Germanen mal unter diesem Namen, mal unter jenem Namen gegenübergetreten sein könnten, dass sie mal als Plünderer, mal als Siedler und mal als Söldner gekommen sind.
Wolters zweifelt überdies an, dass die Stammeshäuptlinge nachhaltigen Zugriff auf alle Stammesmitglieder hatten. Als Beispiel nennt er unter anderem wieder die Sugambrer: Die haben sich in einem Jahr den Römern unterworfen, den eroberten Adler der Lollius-Legion zurückgegeben und Geiseln gestellt - und im nächsten oder übernächsten Jahr sind sie wieder zusammen mit Tencterern und Usipetern auf die Römer losgegangen. Wolters meint, es könnten einfach andere Gruppen des gleichen Stammes gewesen sein, die sich an die Unterwerfung nicht gebunden fühlten. Zitat:
"Viele dieser Raub- und Söldnerzüge lagen außerhalb des Gewaltmonopols der Stammesführung und trugen primär privaten Charakter. Enstprechend unmöglich war es, diesen Problemen mit Verträgen beizukommen."
und ein paar Seiten weiter, bezogen auf das Sugambrer-Beispiel:
"Es bleibt durchaus fraglich, ob sich die Stammesautoritäten für Handlungen derartiger, auf persönlicher Übereinkunft gegründeter Verbindungen überhaupt zuständig und letztlich haftbar fühlten."
Wie gesagt: Alles unter Vorbehalt!
MfG
P.S.: Die von Dir zitierte Passage aus Deinem Link beschreibt schon ganz gut, wie auch ich "halbnomadisch" verstehe. "Provisorische" Einrichtungen, die durch langjährige Existenz dann auch durchaus über das Stadium des Provisoriums hinauswachsen können.