Zur Problematik des Weimarer Demokratiebegriffes

marilu

Neues Mitglied
Hallo :) ich muss für Geschichte eine Quellenanalyse zu zwei Textauszügen machen und habe keine Ahnung wie ich das angehen soll..
Aufgabe: Analysieren Sie die Textauszüge. Erarbeiten Sie das verfassungspolitische Problem, welches in den Quellen sichtbar wird. (ermitteln, wie sie das Problem auffassen & Lösungsvorschläge machen)
Quelle1: Goebbels (NSDAP) 1928 "Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordnete, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahm zu legen. Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre Sache… Uns ist jedes gesetzliche Mittel recht, den Zustand von heute zu revolutionieren. Wenn es uns gelingt, bei diesen Wahlen sechzig bis siebzig Agitatoren und Organisatoren unserer Partei in die verschiedenen Parlamente hineinzustecken, so wird der Staat selbst in Zukunft unseren Kampfapparat ausstatten und besolden. Eine Angelegenheit, die reizvoll und neckisch genug ist, sie einmal auszuprobieren."
Quelle2: Reichsminister David (SPD) 1919 „Die neue Verfassung findet scharfe Kritiker auf der Rechten dieses Hauses und auf der äußersten Linken. Aber auch Ihnen, meine Herren, wird die neue Verfassung gerecht. Sie hindert Sie nicht, Ihre politischen Aufgaben zu vertreten, sie gibt Ihnen die Möglichkeit, auf legalem Weg die Umgestaltung in Ihrem Sinne zu erreichen, vorausgesetzt, daß Sie die erforderliche Mehrheit des Volkes für Ihre Anschauungen gewinnen. Damit entfällt jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden. Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gebot. Wer den Willen des Volkes für seine politischen Auffassungen und Ziele gewinnt, der gewinnt das Recht, das Steuer des Reiches zu führen. Die Bahn ist frei für jede gesetzlich-friedliche Entwicklung. Das ist der Hauptwert einer echten Demokratie.“
Wäre echt toll, wenn mir jemand helfen könnte !
 
Das "verfassungspolitische Problem" wird wohl sein, daß dieses Demokratieverständnis auch die Abschaffung des demokratischen Systems impliziert, wenn dies der offenbare Mehrheitswille des Volkes ist. Die Demokratie ist demnach kein Selbstzweck, sondern dient dem Volk solange sie vom Volk eben akzeptiert wird. Die Demokratie kann sozusagen demokratisch beseitigt werden.

Lösungsvorschläge fallen mir spontan auch keine ein. Was hätte zum Beispiel Hindenburg 1932/33 gegen eine 60-Prozent-Mehrheit der demokratiefeindlichen Parteien im Reichstag machen sollen? Das ist schwierig.
 
Analysieren heisst zuerst, Fragen zu stellen. Ob und wie man die dann beantwortet ist der nächste Schritt, aber mit dem (hinter-) fragen der Texte, die man vorgesetzt bekommt, geht es los. Bevor man sich die aber überhaupt durchliest: Wer sagt da wo wann etwas, und wie geschieht das (Rede, Text, Tagebuch)?

Quelle 1: Wer war Joseph Goebbels, was ist die NSdAP, und was hat er bzw die 1928 so getrieben? Wo die zitierte Stelle herkommt ist nicht zu ersehen.

Quelle 2: Wer war Reichsminister David? Da ich denn auch nicht kenne für mich der wichtigere Anker: Was war die SPD 1919? Auch hier ist nicht zu ersehen, aus welchem zusammenhang die Worte stammen. (Interessant ist, dass der spätere Text vor dem früheren steht.)

Nun zum Inhalt von Quelle 1: Worüber spricht Goebbels? Offensichtlich stellt er vor, was er bze seine Partei vor hat. Sagt er ja ganz direkt: Wir werden das und das tun. Was ist das, was meint er? Mit Waffen? Mit der Weimarer Gesinnung? Was stellt er als Ziel dar?

Quelle 2: Auch David sagt etwas über Politik, aber wenig über seine Ziele. Worum geht es hier? Und nicht vergessen: Die Quelle ist zeitlich vor der 1. angesiedelt, Goebbels könnte sie gekannt haben. Welches Licht wirft das auf Goebbels Worte? Und andersrum, auch wenn David 1919 nicht wissen konnte, was jemand 1928 so daher schwätzt, welches Licht wirft das auf die Vorstellung, die er 1919 offensichtlich hegte?

Wenn man (halbwegs...) versteht, warum Menschen wie reden, welche Vorstellungen sie mit ihren Worten verbanden, kommt man auch auf die Probleme, die diese Menschen und ihre Zeitgenossen drückten. Dass man als "Nachgeborener" auch noch weiss, wie es ausgeht, ist ein zusätzlicher Bonus. Und das mit den Lösungvorschlägen würd ich nur minder ernst nehmen, daran sind ja (gerade) auch die besagten Zeitgenossen gescheitert. Da geht es darum, überhaupt eigene Vorstellungen zu entwicklen, über deren Anwendbarkeit kann man nachdenken, wenn man selber für ein Gremium kandidiert, bzw (im Falle 1919-28) wenn man die verflixte Zeitmaschine erfunden hat...
 
marilu,

wir finden hier den Demokraten, der hervorhebt, dass das Wesen der Demokratie in seiner inneren Veränderungsmöglichkeit bestünde und deshalb "jede Notwendigkeit politischer Gewaltmethoden" entfiele.

Der Gegenspieler Goebbels geht vom Gegenteil aus und betrachtet die Demokratie als ein verachtenswertes Vehikel für die Möglichkeit sich in den Besitz der "Gewaltmethoden" zu gelangen.
Nicht der " Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gebot", sondern die Verführung dieses Willens bei entstehender Gelegenheit.
Goebbels stellt diese Vorstellungen in seinen Tagebüchern stets in den Mittelpunkt. Agitation und Fanatismus sind hier für ihn durchgängig hervorgehobene Grundwerte.

Nicht der "Weimarer Deomokratiebegriff" ist der Boden des Problems,
sondern die Vergiftung dieses Bodens durch einen tiefen Fall der vertrauten Ordnung, durch die Verrohung einer ganzen Generation im ersten totalen Krieg (erster Weltkrieg) und durch die Vernichtung einer vorherigen Elite.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Aussage von Herrn David impliziert doch die Möglichkeit, die Demokratie durch demokratischen Mehrheitswillen wieder abzuschaffen.

"Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gebot. Wer den Willen des Volkes für seine politischen Auffassungen und Ziele gewinnt, der gewinnt das Recht, das Steuer des Reiches zu führen."

Und die NSDAP hat dieses Prinzip nach dem gescheiterten Putsch 1923 aufgegriffen, indem sie versuchte durch Teilnahme an Wahlen die Mehrheit des Volkes für sich zu gewinnen und dann demokratisch legitimiert die Demokratie abzuschaffen.
 
Lösungsmöglichkeit: Die Möglichkeit einer verfassungskomformen Abschaffung der Demokratie wurde nach den Erfahrungen der Weimarer Republik durch nicht änderbare Grundgesetzartikel ausgeschlossen.

Ist in Wiki sehr schön nachlesbar
 
Die Aussage von Herrn David impliziert doch die Möglichkeit, die Demokratie durch demokratischen Mehrheitswillen wieder abzuschaffen.

"Der Wille des Volkes ist fortan das oberste Gebot. Wer den Willen des Volkes für seine politischen Auffassungen und Ziele gewinnt, der gewinnt das Recht, das Steuer des Reiches zu führen."

Und die NSDAP hat dieses Prinzip nach dem gescheiterten Putsch 1923 aufgegriffen, indem sie versuchte durch Teilnahme an Wahlen die Mehrheit des Volkes für sich zu gewinnen und dann demokratisch legitimiert die Demokratie abzuschaffen.

Das ist einfach lächerlich...

1. ist es selbstverständlich so, dass die Abschaffung der Demokratie keine demokratische Legitimation haben kann.
2. ist es selbstverständlich auch so, dass der Wille "des Volkes" nicht in seiner Abschaffung bestehen kann.

Eigentlich ist das doch sehr einfach zu verstehen.
:weinen:
 
Das ist einfach lächerlich...

1. ist es selbstverständlich so, dass die Abschaffung der Demokratie keine demokratische Legitimation haben kann.
2. ist es selbstverständlich auch so, dass der Wille "des Volkes" nicht in seiner Abschaffung bestehen kann.

Eigentlich ist das doch sehr einfach zu verstehen.
:weinen:

Um dich zu zitieren: das ist einfach lächerlich...

Selbstverständlich könnte sich eine Demokratie per Wahl einer antidemokratischen Partei oder eines Volksentscheids z.B. zum Wechsel zu einer Monarchie selbst abschaffen.

Es ist ein wesentliches Merkmal unseres Grundgesetzes, dass die Väter desselben diese Möglichkeit ausschlossen, in dem sie wesentlichen Bestandteile der Verfassung ein für alle mal von Veränderungen, auch demokratisch legitimierten, mit welcher Mehrheit auch immer, ausschlossen.

Die Väter des Grundgesetzes sahen in der Zementierung der Grundrechte einen Schutz des Bürgers vor Übergriffen aller staatlicher Organe, also auch der von uns selbst gewählten Vertreter.

Man könnte natürlich auch rauslesen, dass wir vor uns selbst und etwaigen zeitweiligen antidemokratischen Anwandlungen geschützt werden sollen.

Als überzeugter Demokrat und Republikaner finde ich das in Ordnung. Ich kann locker damit leben, dass das Grundgesetz nicht demokratischen Spielregeln unterliegt.


PS: natürlich gibt es auch andere Verfassungen mit unabänderlichen Bestandteilen, die von tagespolitischen Entscheidungen ausgeschlossen sind.
 
Demokratiebegriff

Hallo


@steffen04
Es ist ein wesentliches Merkmal unseres Grundgesetzes, dass die Väter desselben diese Möglichkeit ausschlossen, in dem sie wesentlichen Bestandteile der Verfassung ein für alle mal von Veränderungen, auch demokratisch legitimierten, mit welcher Mehrheit auch immer, ausschlossen.

Stimme dir vollkommen zu aber:

Die Todesstrafe ist ja abgeschafft, kann zwar per Bundestagsmehrheit wieder eingeführt werden, aber dann kommt der entsprechende Paragraph des GG zur Menschenbwürde ins Spiel (laut der Mehrheit der Staatsrechtler) und das VG würde die Wiedereinführung kassieren.

Was ist, wenn das VG mit Richtern besetzt würde (das VG wird ja berufen von der jeweiligen Bundesregierung), die im Falle der Todesstrafe oder im Falle, das man das GG außer Kraft setzen würde, dem zustimmen würden, dann würden genau die Veränderungen eintreten (klar ist absolut hypothetisch), die man im GG ein für allemal tagespolitisch ausschließen wollte.


mfg
schwedenmann
 
Art. 2 : Grundrecht des Rechts auf Leben:
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Da würde ich mal sagen, die Todesstrafe kann grundgesetzkonform geregelt werden.


Dagegen:


"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." steht im Art 20 Grundgesetz und ist damit durch die Ewigkeitsklausel

Artikel 79 Abs. 3 GG:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

geschützt.

No Way innerhalb der bestehenden Ordnung für Bundestagsmehrheiten, willfährige Bundesrichter oder ähnliches. Da bleibt nur der Staatsstreich.

 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist einfach lächerlich...

1. ist es selbstverständlich so, dass die Abschaffung der Demokratie keine demokratische Legitimation haben kann.
2. ist es selbstverständlich auch so, dass der Wille "des Volkes" nicht in seiner Abschaffung bestehen kann.

Eigentlich ist das doch sehr einfach zu verstehen.
:weinen:

Natürlich kann eine Demokratie auf demokratischem Weg abgeschafft werden. Wenn das Volk nunmal in seiner großen Mehrheit für die Abschaffung der Demokratie und Einführung einer anderen Staatsform stimmt, dann ist die Abschaffung der Demokratie demokratisch legitimiert. Und darauf läuft die Frage nach der "Problematik des Weimarer Demokratiebegriffs" wohl hinaus.
 
Art. 2 : Grundrecht des Rechts auf Leben:
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
Da würde ich mal sagen, die Todesstrafe kann grundgesetzkonform geregelt werden.


Dagegen:

"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat." steht im Art 20 Grundgesetz und ist damit durch die Ewigkeitsklausel

Artikel 79 Abs. 3 GG:
„Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

geschützt.

No Way innerhalb der bestehenden Ordnung für Bundestagsmehrheiten, willfährige Bundesrichter oder ähnliches. Da bleibt nur der Staatsstreich.


Die Frage ist aber doch auch immer, wie man ein Grundgesetz auslegt. In den 50er Jahren hat das Bundesverfassungsgericht teilweise völlig gegensätzliche Urteile gefällt als das heutige Bundesverfassungsgericht. Die Auslegung der Verfassung ist eben in gewisser Weise auch willkürlich und hängt zum Beispiel vom Zeitgeist oder grundsätzlichen Überzeugungen der jeweiligen Verfassungsrichter ab.
 
Natürlich kann eine Demokratie auf demokratischem Weg abgeschafft werden. Wenn das Volk nunmal in seiner großen Mehrheit für die Abschaffung der Demokratie und Einführung einer anderen Staatsform stimmt, dann ist die Abschaffung der Demokratie demokratisch legitimiert. Und darauf läuft die Frage nach der "Problematik des Weimarer Demokratiebegriffs" wohl hinaus.

Das "Dilemma des Verfassungsstaates" kann unter der Frage diskutiert werden, ob eine demokratisch legitimierte Abschaffung der Weimarer Verfassung möglich gewesen wäre. Tatsächlich erfolgte - lediglich unter Wahrung des legalen Anscheins - die Quasi-Abschaffung der Weimarer Demokratie und ihre Umwandlung in eine Diktatur mittels diverser Verfassungsbrüche im NS.

Für das bundesdeutsche Grundgesetz ist dieses Dilemma nicht gegeben. Steffen04 hat oben auf die Unveränderbarkeit des Verfassungskerns, Art. 79 III GG hingewiesen, der nur durch Revolution zu beseitigen ist, nicht durch andere - formal ausreichende - verfassungsändernde Mehrheiten.

"Mit der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG hat der Verfassungsgeber bestimmte, von ihm als identitätsbildend erkannte Leitprinzipien des Grundgesetzes vor der Preisgabe durch Verfassungsänderung abgeschirmt. Die Unabänderbarkeit dieser die Verfassung nach deren eigenem Selbstverständnis prägenden Leitprinzipien bildet die denkbar schärfste Abgrenzung zwischen verfassungsgebender und verfassungsändernder Gewalt. Die unumstößliche Garantie eines Kerns der rechtlichen Grundordnung setzt dem verfassungsändernden Gesetzgeber äußerste Grenzen. Diese Grenzen lassen sich nur um den Preis eines Bruches mit der Verfassungsordnung und mit dem Stigma der Revolution überwinden. In der Staatsrechtslehre erscheint die dauerhafte Beschränkung der verfassungsändernden Gewalt oft als Dilemma des Verfassungsstaates...

Erst aus der Außenbetrachtung der Verfassung wird die dauerhafte Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an bestimmte Vorentscheidungen unter den Bedingungen einer demokratischen, d.h. der Volkssouveränität verpflichteten Ordnung – und nur dort – zum Problem. Dieses Problem ist so alt wie der demokratische Verfassungsstaat selbst. So hat schon Thomas Jefferson bleibende Einsichten über Sinn und Grenzen der Bindung künftiger Generationen an normativ verfestigte Grundentscheidungen formuliert...

Die politische Herausforderung für den Verfassungsgeber liegt schlicht darin, auf möglichst breiter empirischer und rechtsvergleichender Grundlage bei der Formulierung absolut änderungsresistenter Wertentscheidungen rein zeitgeschichtlich begründete Desiderate von auf Dauer Unaufgebbarem zu scheiden. Verfehlen der Verfassungstext oder seine autoritative Konkretisierung durch die Rechtsprechung diesen Maßstab, droht die Gefahr, dass eine neue, revolutionär begründete Ordnung ihre eigenen Grundentscheidungen anstelle der abgelösten Verfassungsordnung setzt. Diese Gefahr erscheint aber bei den Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG bei wirklichkeitsnaher Würdigung außerordentlich fernliegend, auch wenn sie in einzelnen Fällen besondere Zurückhaltung bei der Ableitung unabänderlicher Verfassungsgehalte aus den in Art. 79 Abs. 3 GG genannten Leitprinzipien nahelegen mag...

Zusammen mit der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) bildet die Vorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG die markanteste Antwort des Verfassungsgebers auf das Trauma von Weimar: die Aushöhlung der gewaltenteilenden Verfassungsordnung im Wege der verfassungsändernden Gesetzgebung. Unter der Weimarer Verfassung gab die Auslegung durch die herrschende Staatsrechtslehre dem verfassungsändernden Gesetzgeber völlig freie Hand. Danach stand die gesamte Substanz der Verfassung zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers..."

Maunz/Düring, GG, Art. 79

[Aktuell - was aber hier nicht hingehört - wird so etwas unter dem Aspekt des Euro-Rettungsschirms etc. diskutiert. Vgl. zB Herbst: Legale Abschaffung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG? in: ZRP 2012, 33.]

Die Grundsätze und die Sttatsfundamentalnormen sind außerdem Gegenstand des positivierten Widerstandsrechts nach Artikel 20 IV GG. Bereits daraus wird deutlich, dass das Grundgesetz zum Widerstand gegen seine Abschaffung aufruft:

"Zwar wäre es, um dieses eine Beispiel fortzusetzen, mit Art. 20 I und II ... nicht vereinbar, das gegenwärtig geltende parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik durch die Diktatur des Proletariats, durch eine Volksdemokratie oder durch eine Räterepublik zu ersetzen, und könnte daher gegen solche Versuche in der Tat auch Art. 20 IV in Anspruch genommen werden; denn hier würde nicht nur das parlamentarische Regierungssystem, sondern das durch Art. 20 II Satz 1 ausdrücklich und unantastbar verankerte Prinzip der repräsentativen Demokratie in Frage gestellt. Die Einführung eines Präsidialsystems nach amerikanischem Muster wäre mit Art. 20 I–III und Art. 79 III dagegen ohne weiteres vereinbar und könnte daher, solange sie sich in den Formen des Art. 79 I und II vollzieht, unter Berufung auf Art. 20 IV nicht gewaltsam verhindert werden..."
 
Die Frage ist aber doch auch immer, wie man ein Grundgesetz auslegt. In den 50er Jahren hat das Bundesverfassungsgericht teilweise völlig gegensätzliche Urteile gefällt als das heutige Bundesverfassungsgericht. Die Auslegung der Verfassung ist eben in gewisser Weise auch willkürlich und hängt zum Beispiel vom Zeitgeist oder grundsätzlichen Überzeugungen der jeweiligen Verfassungsrichter ab.

Das hat mit der Fragestellung hier in den staatsrechtlichen Diskussionen oder unter dem Aspekt des "Dilemmas" nichts zu tun.

Widerstandsrecht als auch Grundrechte/Menschenrechte auf freiheitliche Grundordnung gehören zum überpositiven Naturrecht.
 
Die Grundsätze und die Staatsfundamentalnormen sind außerdem Gegenstand des positivierten Widerstandsrechts nach Artikel 20 IV GG. Bereits daraus wird deutlich, dass das Grundgesetz zum Widerstand gegen seine Abschaffung aufruft:

"Zwar wäre es, um dieses eine Beispiel fortzusetzen, mit Art. 20 I und II ... nicht vereinbar, das gegenwärtig geltende parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik durch die Diktatur des Proletariats, durch eine Volksdemokratie oder durch eine Räterepublik zu ersetzen, und könnte daher gegen solche Versuche in der Tat auch Art. 20 IV in Anspruch genommen werden; denn hier würde nicht nur das parlamentarische Regierungssystem, sondern das durch Art. 20 II Satz 1 ausdrücklich und unantastbar verankerte Prinzip der repräsentativen Demokratie in Frage gestellt. Die Einführung eines Präsidialsystems nach amerikanischem Muster wäre mit Art. 20 I–III und Art. 79 III dagegen ohne weiteres vereinbar und könnte daher, solange sie sich in den Formen des Art. 79 I und II vollzieht, unter Berufung auf Art. 20 IV nicht gewaltsam verhindert werden..."

Jetzt gibt es aber doch auch diesen Paragrafen:
Art 146

Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Das bedeutet fuer mich, dass das deutsche Volk eine vøllig andere Verfassung entschliessen kønnte, mit Elementen, die mit dem alten GG nichts mehr zu tun haben. (Monarchie, direkte Demokratie, Zentralstaat, whatever)

Gruss, muheijo
 
Das "Dilemma des Verfassungsstaates" kann unter der Frage diskutiert werden, ob eine demokratisch legitimierte Abschaffung der Weimarer Verfassung möglich gewesen wäre. Tatsächlich erfolgte - lediglich unter Wahrung des legalen Anscheins - die Quasi-Abschaffung der Weimarer Demokratie und ihre Umwandlung in eine Diktatur mittels diverser Verfassungsbrüche im NS.

Nunja, immerhin waren rund 60% des Reichstages 1932 in der Hand von ganz offen republikfeindlichen Parteien. Ergo hat die Mehrheit des Volkes Parteien gewählt, die den Weimarer Staat abschaffen und durch etwas anderes ersetzen wollten. Insofern entsprach doch der Weimarer Staat nicht mehr dem Mehrheitswillen des Volkes. Die Demokratie als Herrschaftsform hatte im Volk die Akzeptanz und damit auch die Legitimation verloren. Oder sehe ich das falsch? Eine Demokratie ohne Demokraten ist wohl nicht haltbar.

Für das bundesdeutsche Grundgesetz ist dieses Dilemma nicht gegeben. Steffen04 hat oben auf die Unveränderbarkeit des Verfassungskerns, Art. 79 III GG hingewiesen, der nur durch Revolution zu beseitigen ist, nicht durch andere - formal ausreichende - verfassungsändernde Mehrheiten.

Das Grundgesetz kann mit 2/3-Mehrheit im Parlament geändert werden. Es wäre nach §146 auch möglich (oder sogar geboten?) das Volk über eine neue Verfassung abstimmen zu lassen.

Wenn wir mal theoretisch annehmen, dass 70% des Volkes eine republikfeindliche Partei in die Parlamente wählen würde und diese Partei dann auch republikfeindliche Verfassungsrichter einsetzen und dem Volk dann einen neuen Verfassungsentwurf zur Abstimmung vorlegen würde, wäre doch die Abschaffung der Demokratie theoretisch auch auf diesem (legalen) Weg möglich.

Allerdings ist es glaube ich wahrscheinlicher, dass es zu einer gewaltsamen Revolution kommen würde, wenn wirklich 70% des Volkes gegen den Staat und das herrschende Staatssystem wären.

Widerstandsrecht als auch Grundrechte/Menschenrechte auf freiheitliche Grundordnung gehören zum überpositiven Naturrecht.

Und aus welcher Quelle leitet sich dieses Naturrecht Deiner Meinung nach ab?
 
Wenn wir mal theoretisch annehmen, dass 70% des Volkes eine republikfeindliche Partei in die Parlamente wählen würde und diese Partei dann auch republikfeindliche Verfassungsrichter einsetzen und dem Volk dann einen neuen Verfassungsentwurf zur Abstimmung vorlegen würde, wäre doch die Abschaffung der Demokratie theoretisch auch auf diesem (legalen) Weg möglich.

So wie ich das verstehe eben nicht. Dem steht die Ewigkeitsklausel entgegen.

Wie Silesia anführt: "Mit der „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG hat der Verfassungsgeber bestimmte, von ihm als identitätsbildend erkannte Leitprinzipien des Grundgesetzes vor der Preisgabe durch Verfassungsänderung abgeschirmt. ... Diese Grenzen lassen sich nur um den Preis eines Bruches mit der Verfassungsordnung und mit dem Stigma der Revolution überwinden. In der Staatsrechtslehre erscheint die dauerhafte Beschränkung der verfassungsändernden Gewalt oft als Dilemma des Verfassungsstaates..."

Das Dilemma besteht wohl darin, dass das Grundgesetz, dass weitgehende demokratische Rechte garantiert sich selbst außerhalb der demokratischen Rechte stellt.

Wie schon gesagt, die Verfassungsväter sahen darin einen Schutz des Volkes vor Übergriffen staatlichen Organe.
 
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Und aus welcher Quelle leitet sich dieses Naturrecht Deiner Meinung nach ab?

Gleichsam positiviertes überpositives Naturrecht findest Du aktuell beispielsweise in der UN Resolution der Generalversammlung 217 A (III) "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" 10. Dezember 1948. Sowie alle darauf basierenden Resolutionen der UN.

Weitere Quellen, findest Du rechtshistorisch in Erklärungen des Völkerbundes zu diesem Thema und vielen weiteren Rechtsquellen bspw. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Bill of rights, Habeas Corpus, aber auch theologische (z.B. die Bibel, Konzilsbeschlüsse) und philosophische Rechtsquellen (bspw. Kant, Mill, Naturrechtsschule etc.) usw.

M.
 
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Und aus welcher Quelle leitet sich dieses Naturrecht Deiner Meinung nach ab?

Gleichsam positiviertes überpositives Naturrecht findest Du aktuell beispielsweise in der UN Resolution der Generalversammlung 217 A (III) "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" 10. Dezember 1948. Sowie alle darauf basierenden Resolutionen der UN.

Weitere Quellen, findest Du rechtshistorisch in Erklärungen des Völkerbundes zu diesem Thema und vielen weiteren Rechtsquellen bspw. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, amerikanische Unabhängigkeitserklärung, Bill of rights, Habeas Corpus, aber auch theologische (z.B. die Bibel) und philosophische Rechtsquellen (bspw. Kant, Mill, Naturrechtsschule etc.) usw.

M.
 
Das bedeutet fuer mich, dass das deutsche Volk eine vøllig andere Verfassung entschliessen kønnte, mit Elementen, die mit dem alten GG nichts mehr zu tun haben. (Monarchie, direkte Demokratie, Zentralstaat, whatever)

Gruss, muheijo

Das ist keine mögliche Interpretation. Den Artikel 146 hatte ich oben zitiert, der Einfachheit halber das Zitat von Herbst:

"Die Wiedervereinigung war, wie erwähnt, der einzige Anwendungsfall, den der Parlamentarische Rat für eine legale Verfassunggebung vorgesehen hatte. Sieht man von diesem extraordinären Fall ab, war das GG durch Art. 79 III GG in seinem Kernbereich vor Änderungen absolut geschützt. Hätte man in der Zeit der Teilung Deutschlands Art. 146 GG a. F. als eine unabhängig vom Kontext der Wiedervereinigung anzuwendende Legalitätsbrücke für jegliche neue Verfassung verstanden, dann wäre dadurch Art. 79 III GG ausgehebelt worden; denn Art. 146 GG enthält keinerlei inhaltliche Vorgaben, so dass die inhaltlichen Grenzen des Art. 79 III GG jederzeit ohne besonderen Anlass hätten überwunden werden können – unter Berufung auf das GG selbst als Legalitätsquelle. Eine solche Funktion konnte Art. 146 GG a. F. nicht haben, wenn man Art. 79 III GG ernstnimmt, der vor dem Hintergrund der Erfahrung mit der Weimarer Reichsverfassung das GG vor einer legalen Aushöhlung bewahren sollte. Im Übrigen hätte ein solches Verständnis des Art. 146 GG a. F. auch ermöglicht, die Verfahrensregelung des Art. 79 II GG zu umgehen, indem der unspezifische „Beschluss“ des deutschen Volks als legales Alternativverfahren zur Verfassungsänderung nach Art. 79 II GG betrachtet worden wäre.

Die Wiedervereinigung wurde dann bekanntlich ohne Verfassungsgebung vollzogen; sie fand allein im Wege des Beitritts der DDR gem. Art. 23 GG a. F. statt. Eine Verfassungsgebung nach Art. 146 GG a. F. wurde immerhin erwogen; schließlich wurde im Zuge der vereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen Art. 146 GG um den Relativsatz ergänzt, der klarstellen sollte, dass das GG „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“. Diese Neuregelung des Art. 146 GG (anstelle seiner Streichung) war ein politischer Kompromiss, der die Möglichkeit, im Kontext der Wiedervereinigung auch nach dem Beitritt der DDR noch eine Verfassungsgebung in die Wege zu leiten, offenhalten sollte.

Entscheidend für das Verständnis des geänderten Art. 146 GG ist nun die Regelungsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers bei der Änderung des Art. 146 GG. Die vereinigungsbedingten Grundgesetzänderungen stellten keinen Akt der Verfassungsgebung dar und waren daher an Art. 79 III GG gebunden. Der verfassungsändernde Gesetzgeber konnte also den Anwendungsbereich des Art. 146 GG gegenüber seiner ursprünglichen Fassung nicht über den Ausnahmefall der Wiedervereinigung hinaus erweitern; die Legalisierung von Verfassungsgebungsakten ohne Bezug auf die Wiedervereinigung war ihm nicht möglich. Würde man Art. 146 GG n. F. als anlasslose Legalitätsbrücke zu jeglicher neuen Verfassung verstehen, dann wäre damit die den Kern des GG bewahrende Vorschrift des Art. 79 III GG wirkungslos geworden; zu einem solchen Eingriff in die Grundstruktur des GG war der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahr 1990 nicht befugt.
Die Neufassung des Art. 146 GG kann daher in verfassungskonformer Weise allenfalls verstanden werden als das Offenhalten der durch Art. 146 GG a. F. eröffneten Möglichkeit der vereinigungsbedingten Verfassungsgebung für einen Zeitraum, in dem noch von einem Zusammenhang mit der Wiedervereinigung ausgegangen werden konnte. Ein Anhaltspunkt für die Länge dieses Zeitraums kann in Art. 5 des Einigungsvertrages gesehen werden, der eine Frist von zwei Jahren für die Befassung mit Fragen des Art. 146 GG empfahl21. Der zeitliche Zusammenhang zur Wiedervereinigung besteht jedenfalls jetzt, über 20 Jahre danach, nicht mehr, und auch unter anderen als zeitlichen Gesichtspunkten ist kein Zusammenhang einer auf eine vertiefte europäische Integration zielenden Verfassungsgebung mit der Wiedervereinigung feststellbar."
 
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