Die Diskussion scheint seit Längerem nicht mehr aktiv zu sein, das Thema ist aber so spannend, dass sie mich dazu bewogen hat, mich doch dazu zu äußern. Ich muss mich schon jetzt für die Länge dieses Beitrags entschuldigen, die Wortkargheit hat leider nie zu meinen Stärken gehört.
Erst mal full disclosure: Ich bin Slawe, meine Muttersprache ist russisch, ich habe einen Bachelor-Abschluss in der Linguistik und ich habe überhaupt kein Interesse daran, den alten nationalistischen Diskurs über "autochthone slawische Bevölkerung" oder "Völkermigration" fortzusetzen.
Die Thesen von Florin Curta scheinen mir in vielerlei Hinsicht sehr überzeugend und wichtig zu sein, vor allem für die Spezialisten in der Geschichte Südosteuropas. Auf der anderen Seiten gibt selbst Curta zu, dass seine Hypothese von Protoslawisch als lingua franca des awarische Reiches die relative Einheitlichkeit der ostslawischen Dialekte auf dem Gebiet der Ukraine, Russlands und Weißrusslands nicht erklären kann. Das ändert natürlich nichts an der Gültigkeit seiner Hypothese für den awarischen Einflussbereich, zeigt aber, dass Curta manchmal die genetischen und linguistischen Daten aus dem ostlichen (v.a. nordostlichen) slawischen Gebiet etwas außer Acht lässt.
- Wichtig ist höhere genetische Einheitlichkeit von West- und Ostslawen im Vergleich zu den Südslawen: Das kann man im Groben schon
auf dieser Karte sehen. Mehr dazu in
diesem schönen Artikel. Kurz gefasst, genetisch gesehen scheinen die Slawen in zwei größere Gruppen aufgeteilt zu sein: die nördliche (West- und Ostslawen sowie Slowenen und westliche Kroaten) und südliche (alle anderen Südslawen). Die Ergebnisse der genetischen Untersuchung scheinen die Verbreitung des slawischen genetischen Materials aus der Region des mittleren Dnjepr zu unterstützen. An dieser Stelle muss ich mit Nachdruck betonen, dass es hier nicht um ein slawisches "Volk", "Ethnie" oder "Kultur" oder Sprache handelt, sondern lediglich um die genetische Ausbreitung von Vorfahren der heutigen Slawen.
- Curta schein der historischen Linguistik gegenüber sehr kritisch gestimmt zu sein, und vielleicht nicht ganz zu Unrecht. In der ersten Hälfte des 20. Jdt. hat sich die historische Linguistik mit nationalistischen Theorien über den Zusammenhang der Sprache und der ethnischen Identität bedient. Für mich ist es allerdings sehr schwer einsehbar, wie diese Tatsache die Theorie widerlegt, dass sich slawische
Sprachen aus dem ursprünglichen Gebiet in der nördlichen Ukraine ausgebreitet haben. Die dafür sprechenden Merkmale im slawischen Wortschatz sind zahlreich und gut belegt (archaische Hydronyme in der Region, entwickelte lexische Bereiche für Wälder und Binnengewässer, Tier- und Pflanzenbezeichnungen). Curta erwähnt zwar andere Theorien, wie die von Trubachev, sachlich hat er aber eher wenig zu sagen. An dieser Stelle muss ich wieder betonen, dass es sich von der Ausbreitung der slawischen
Sprache und nicht einer slawischen Ethnie oder einer konkreten archäologischen Kultur handelt. Der Begriff "slawisch" soll dabei nicht als Eigenbezeichnung der Slawischsprecher verstanden werden, hier ist es lediglich ein praktisches Etikett für Protoslawisch. Dass das lexisch rekonstruierte "slawische" Ursprungsgebiet sich mit genetischen Daten überschneidet, ist interessant; es hat aber nichts oder wenig mit Curtas Theorien der "Entwicklung von Slawen" und Slawisch als die awarische
lingua franca zu tun: Curta geht es um die slawische Ethnie, während wir bisher nur von der Sprache und genetischen Merkmalen geredet haben.
- Slawisch als die lingua franca des awarischen Reiches ist sicherlich eine vielversprechende linguistische Hypothese, die auch Konvergenz slawischer Dialekte im awarischen Einflussbereich erklärt. Curta
schreibt aber folgendes:
Speakers of Slavic choosing to stay north of the Danube, instead of joining the emigrants leaving for the Balkans, would have remained in contract with the Urheimat and, as a consequence, their language would have been affected by changes most typical for the East Slav dialects. [...] But place- and river/names of Slavic origin in Romania overwhelmingly point to a Southern, not Eastern influence.
Dabei verweist er auf einen Artikel mit dem Titel "Raport linguistique bulgaro-roumains (IXe-XIe siècles)". Warum die linguistischen Prozesse der 9. und 11. Jahrhunderte die Kontakte zwischen der süd- und südlichen ostslawischen Bevölkerung im 7. und 8. Jahrhunderten ausschließen, ist mir dabei etwas unklar. Das kann aber daran liegen, dass ich den oben genannten Artikel nicht gelesen habe. Schaut man sich aber die Zeugnisse der schriftlichen ostslawischen Dialekte an, wird einem klar, dass es zwei große dialektale Gruppen gab: südlich-östliche ostslawische Dialekte (Ukraine, Moskauer Region, Susdal, usw.) und nordwestliche Ostslawische Dialekte (vor allem Nowgorod und Pskow). Der für unsere Diskussion relevante Unterschied zwischen ihnen besteht u.a. in der Abwesenheit der s.g. zweiten Palatalisierung im Nowgoroder Dialekt (siehe Andrey A. Zaliznyak "Древненовгородский диалект" 'Drewnenowgorodskij dialekt'), d.h. vereinfacht gesagt der Palatalisierung von *k/*g/*h vor *ē<*aj/āj (vgl. Nowgoroder рукѣ 'rukě', Kiewer-Susdaler руцѣ 'rucě' und Altslawisch рѫцѣ 'rǫcě'). Die südslawischen Reflexe der zweiten Palatalisierung haben perfekte Entsprechungen im südlichen-östlichen Dialekt des Ostslawischen, während die westslawischen Reflexe sich erheblich von ihnen unterscheiden. Die absolute Chronologie der zweiten Palatalisierung ist
etwas umstritten (sorry für einen Wiki-Link, in dem Abschnitt gibt es aber viele Verweise auf verlässliche Quellen) wird aber von den meisten Spezialisten mit ca. VI-VIII Jdt. datiert. Informationen zu anderen relevanten phonologischen Änderungen in der Zeitperiode habe ich nicht gefunden. Zusammenfassend kann man feststellen, dass das balkanische Slawisch und "ukrainische" Slawisch sehr ähnliche Reflexe der zweiten Palatalisierung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in der relevanten Zeitperiode stattfand, aufweist. Es ist natürlich kein 100%-er Beweis sprachlicher Kontakte des Balkans mit der Ukraine im 7. Jahrhundert, ist trotzdem ein
mögliches Argument dafür. Da, wo dieser
potentielle Kontakt nicht stattfand, nämlich im Norden des ostslawischen sprachlichen Areals um Nowgorod, gab es auch keine zweite Palatalisierung. Dass dieser Kontakt später aus irgendeinem Grund abgebrochen oder verringert wurde oder dass die dialektalen Unterschiede zwischen dem Balkan und der Ukraine im Laufe der 8. und 9. Jahrhunderte zugenommen haben, ist durchaus möglich, bedarf aber einer näheren Untersuchung. Allein diese kaum strikt wissenschaftliche Schilderung linguistischer Umstände zeigt, dass Curtas linguistische Argument gegen die Urheimat in der Pripjat-Region auf etwas wackeligen Beinen stehen oder zumindest nicht 100% stichhaltig sind. Dabei muss ich hervorheben, dass diese Überlegungen seine lingua-franca-Hypothese nicht wiederlegen und in Wirklichkeit relativ wenig damit zu tun haben: dass die slawischen Proto-Dialekte aus der Region um Pripjat gekommen sein sollen heißt nicht, dass Slawisch keine awarische lingua franca war.
fortsetzung folgt