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Noch nach dem Sturz des Zaren ging es um nationale Autonomie in einem demokratischen Russland; erst die Machtübernahme der Bolschewiki Anfang November, die sich auch in Tallinn wiederholte – Riga war seit September von den Deutschen besetzt – ließ keine andere Wahl.
Alle drei Völker erklärten sich 1918 für unabhängig ..."
Karsten Brüggemann: Kleine Geschichte der baltischen Staaten
Das Buch habe ich gelesen -und kann es als Einstieg in die Geschichte des Baltikums nur wärmestens empfehlen - .
Es ändert aber nichts daran, dass dem oben von mir angesprochenen Umstand für die besetzten Gebiete Rechnung getragen werden müsste.
Ganz Polen und weite Teile Litauens, Kurland und einige Gebiete Weißrusslands und der Westukraine waren bereits vor der Februarrevolution von deutschen und österreichischen Truppen besetzt, die Bevölkerung da lebte unter Militärverwaltung und konnte sich politisch nicht völlig frei betätigen.
Um Riga, Teile von Semgallen und Lettgallen, den Osten des heutigen Litauens und weitere Gebiete in Weißrussland und der Ukraine wurde zwischenn Februarrevolution und Oktoberrevolution hart gekämpft.
Teilweise gingen sie für Russland noch vor der Oktoberrevolution verloren (z.B. Riga Anfang September 1917) zum Anderen wird die Bevölkerung in den unmittelbaren Kriegsgebieten andere Sorgen gehabt haben, als theoretische Debatten über eine potentielle Unabhängigkeit zu führen.
In Estland und Finnland, die die abseits der Fronten lagen, und in denen das politische Leben nicht durch eine auswärtige Besatzungsmacht und deren Militärverwaltung eingeschränkt wurde, wird sich sicherlich festhalten lassen, dass Loyalität zu Russland über die Februarrevolution hinaus bestand, (sicherlich in Erwartung von Reformen und Autonomie), inwiefern das aber für die besetzten oder umkämpften Gebiete noch gegeben war, ist viel schwerer festzustellen.
Man kann zwar sagen, dass das Datum der jeweiligen Unabhängigkeiserklärungen im Zeitablauf hinter der Oktoberrevolution liegt, aber daraus lassen sich keine gültigen Schlüssse dafür ziehen, ob es der Machtanspruch der Bolschewiki war, der diesen Willen zur Unabhängigkeit hervorbracht oder aber ob sich hier lediglich nachträglich Bahn brach, was durch die Umstände des Krieges verzögert wurde, weil die die politische Betätigung und den öffentlichen Diskurs einschränkten.
Mindestens im Bezug auf Polen kommt auch hinzu, dass die Zentralmächte bereits 1916 die Errichtung eines von Russland unabhängigen Königreichs Polen proklamiert hatten, wenn auch ohne sich in Details von Grenzziehung, politischen System (sollte natürlich de facto ein Satelitenstaat werden) präzise festzulgegen und in Lettland dürfte auch bekannt geworden sein, dass die deutsche Besatzungsmacht derariges plante ("Baltisches Herzogtum"), was dann auch die Frage auwirft, inwiefern denn eine Proklamation der Unabhängigkeit von Russland überhaupt relevant war, wenn klar war, dass die Zentralmächte das in den Friedensverhandlungen gegen Russland ohnehin durchsetzen würden.
Da dürfte man sich auch eher weniger Gedanken darüber gemacht haben, wie man von Russland loskommen könnte, als darüber, wie man es anstellen könnte nicht zu stark unter deutschen Einfluss zu geraten.
Was du, wenn du dich auf Angermann/Brüggemann beziehen möchtest im Punkto Loyalität der Peripherie zum russischen Imperium vielleicht erklärend hinzusetzen müsstest, ist, dass beide im Bezug auf Estland und Lettland sehr stark herausstellen, dass es in den drei russischen Ostsee-Governements (Estland, Livland, Kurland) vor dem Krieg eine zunehmende Tendenz der estnischen und lettischen Nationalbwegung gab, sich mit dem Imperialen Zentrum gegen die deutsch-baltischen Adlige und Grundbesitzer zu verbünden und dass diese Bewegungen vor dem Krieg ihr Feindbild vor allem in den deutschsprachigenn Eliten dieser Provinzen, nicht so sehr in St.Petersburg und der russischen Regierung sahen, was sicherlich auch mit der Agrar-Frage (Ziel einer Bodenreform auf kosten der deutschsprachigen Großgrundbesitzer) in engem Zusammenhang steht.
Auch wäre hier wichtig zu erwähnen, dass die russische Zentralegierung in diesen Gebieten relativ wenig Druck ausgeübt hatte um in irgendeiner Form die lettische oder estnische Sprache (die sich erst relativ spät zu ausgedehnten Literatursprachen entwickelten) zu unterdrücken, dass St. Petersburg auch die lutherischen Kirchen in den Ostseeprovinzen immer weitgehend in Ruhe gelassen hatte (es Anfang des 20. jahrhunderts in den Ostseeprovinzen sogar eine Konversionswelle zum Orthodoxen Glauben gab, mit dem sich Teile der lettischen und estnischen Bevölkerung von den deutschspachigen Eliten, die die lutherischen Kirchentrukturen kontrollierten, emanzipieren wollten).
Das unterscheidet sich mitunter darstisch von der Politik, die die zaristische Regierung in anderen Landesteilen betrieben hatte.
Der Druck in polnischer Sprache (teilweis auch in Ukrainischer) war ja über lange Zeit verboten und die Zaren und zaristsichen Regierungen hassten die katholische Kirche, die sie im Gegensatz zu den lutherischen Kirchenstrukturen nicht in Ruhe ließen, sondern im 19. Jahrhundert relativ scharf angegriffen hatten.
Auch gab es in Polen und Litauen anders als in den Ostsee-Gouvernements keine ursprünglich landfremde Oberschicht, wie eben die Deutschbalten in den Ostsee-Gouvernements, die seit Jahrhunderten mehr oder weniger alles in dem Gebiet in der Hand hatten, auf Kosten der großer teile der Landbevölkerung, die länger einheimischen Ethnien angehörten.
Das könnte man vielleicht vielleicht für die Westliche Ukraine und Belarus mit ihren traditionell weitgehend an die polnische Kultur assimilierten Adelsschichten reklamieren, für Polen aber nicht und für Litauen allenfalls sehr eingeschränkt, so dass im Besonderen in Polen und in Litauen es keinen anderen großen feind für die Nationalbewegungen gab, der eine Allianz mit der russischen Zentralmacht nahegelegt hätten.
Gerade die militärisch besetzten Territorien in Polen und Litauen, mit ihrer katholischen Bevölkerung und weitgehend ohne innere Feindbilder (Aus Sicht der Nationalbewegungen), die mit dem Kaliber der deutschbaltischen Oberschichten in den Ostsee-Gouvernements vergleichbar waren, hatten weit stärkere Motive sich von Russland loszusagen, als zumindest Lettland und Estland.
Deswegen würde ich hier dem Umstand der eingschränkten Möglichkeiten durch die Besatzung nicht gering schätzen.