Huch, was habe ich hier wieder losgetreten? Kein Wunder, dass ich in diesem Forum immer den Überblick verliere …
Dann stellen wir doch mal zwei Fragen zu zwei Kriegen, die "tragischerweise" den "Fortschritt" massiv hätten beflügeln müssen. Der erste ausgedehnte Krieg, der angeführt werden sollte, war der der "Hundertjährige Krieg" (1337 bis 1453) und der zweite wäre der "Dreißigjährige Krieg" (1618 bis 1648).
Folgt man Malamima (Europäische Wirtschaftsgeschichte, S. 191ff) dann gehört diese Periode eher zum "zweiten Zeitalter" und war bis in das 19. Jahrhundert eher durch Stagnation gekennzeichnet. Welche Form von "Fortschritt" soll man sich mit diesen zwei Kriegen vorstellen. Zumal Trevor-Roper in "The Crisis of the 17th Century" ein zerrissenes Europa beschreibt, gekennzeichnet durch gravierende Antagonismen.
Bewegst Du Dich hier nicht im Bereich der anekdotischen Beweisführung? Genügt es, einen Krieg zu finden, der Stagnation oder Rückschritt, nicht Fortschritt verursachte, um die oben genannte These zu widerlegen? Krieg bedeutet zunächst einmal immer Leid und Zerstörung.
Bedenkenswert sind jedoch die Bemühungen des Menschen, sowohl sich einen Vorteil über den Feind zu verschaffen (ein Taktgeber des technologischen Fortschritts), als auch Leid und Mangel zu lindern oder zu überwinden, die ein Krieg auslöst. Dazu weiter im Folgenden.
Zusätzlich formuliert Lombard für die "Blütezeit des Islam" die Periode zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert. Warum nicht für die Phase nach den Kreuzzügen, wenn der Fortschritt doch so beflügeln sein soll.
Das Adjektiv 'menschlich' in meiner Formulierung bezog sich auf das 'Unterfangen', nicht auf den Fortschritt. Ich weise darauf hin, weil Du von einem allumfassenden Fortschrittsbegriff auszugehen scheinst, den verwendet zu haben ich mich nicht erinnern kann.
Warum sollten wir von einem solchen Fortschrittsbegriff ausgehen? "Globalen" Fortschritt dürfte es kaum jemals gegeben haben. Selbst wo eine Errungenschaft letztendlich weltweite Verbreitung findet, müssen i.d.R. erst die politischen, wirtschaftlichen (usw.) Voraussetzungen für ihre Verbreitung geschaffen werden.
Du hast eingewandt, die Blütezeit des Islam sei den Kreuzzügen (das ursprüngliche Thema) vorangegangen, und wäre der Krieg ein Fortschrittsmotor, müsste sie diese überdauert haben. Demgegenüber stehen jedoch positive Auswirkungen in Europa, vulgo: Fortschritt. Was nun?
Wir könnten Lombard diskutieren; Blachère etwa verortet die Hochzeit des Islam abweichend zwischen dem Aufstieg der Abbasiden und der Eroberung Bagdads durch die Mongolen. Für ihn liegt sie auch während der Kreuzzüge. Aber darum geht es hier nicht.
Vielmehr ist zu klären, ob dort von Fortschritt zu sprechen ist, wo es für Hänschen vorangeht, Fritzchen indes zurückgeworfen wird. Freilich sehe ich nicht, welchen Sinn eine derart exklusive Definition hätte. Was mir die Frage aufwirft, warum wir dieser Diskussion keine Definition des Fortschritts voranstellen.
Ich vermute, unsere Meinungsverschiedenheit beruht auf unterschiedlichen Vorstellungen davon, was "Fortschritt" ist. Und natürlich auf Abgrenzungsschwierigkeiten, welche Konsequenz (noch) welcher Ursache zuzurechnen ist.
Was Letzteres anlangt, würde ich auf die Bedingungstheorie abstellen, aus Gründen, die bereits in der Formel
condicio sine qua non anklingen:
Bedingung, ohne die kein. Hätte es ohne die bedingende Ursache "Krieg" nicht die Folge "Fortschritt" gegeben, würde ich einen Zusammenhang unterstellen.
Du sprichst nun den Hundertjährigen Krieg an und führst die wirtschaftliche Stagnation jener Zeit ins Felde.
Setzen wir meinetwegen eine kriegsbedingte Stagnation voraus, obwohl die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen der Pest stand und folglich erst einmal untersucht werden müsste, ob Du nicht womöglich dem Krieg Folgen der Pandemie zuordnest, bzw. ob und wie der Konflikt die Folgen der Pandemie beeinflusste.
Ist dies aber die einzige Konsequenz des Hundertjährigen Krieges? Was ist z.B. mit seinen Auswirkungen auf das französische Staatswesen?
Immerhin führt der Konflikt zu entscheidenden Neuerungen (Zentralisierung und Verrechtlichung des Staates, Einhegung der Magnaten, Nationalgefühl, stehendes Heer), die den Grundstein legen für Frankreichs Aufstieg zum reichsten und bedeutendsten Staat auf dem Kontinent.
Was ist mit den sozialen Veränderungen in England infolge der kriegsentscheidenden Rolle, die bürgerliche Bogenschützen spielen? Was ist mit den vielen technologischen Innovationen, die sich etablieren? Fallen diese Aspekte für Dich nicht unter Fortschritt?
Das ist keine rhetorische Frage; ich versuche, Deine Einwände zu verstehen.
Im Prinzip dürfte das Gegenteil zu dem zutreffen, was "muck" vermutet. Die empirisch angereicherte Arbeit von Pinker (Gewalt") zur historischen Abnahme von Gewalt in seinen vielen Facetten deutet eher darauf hin, dass Friedenszeiten den sozialen Wandel - im positiven Sinne - am stärksten verändert haben.
Friedenszeiten haben den 'sozialen Wandel' am stärksten 'verändert'? Du wolltest wahrscheinlich sagen: beschleunigt? Freilich macht sich hier wieder negativ bemerkbar, dass dieser Diskussion keine Definition von Fortschritt vorangestellt wurde.
Du sprichst von 'soziale[m] Wandel'. Warum? Lässt sich darunter alles subsumieren, was "Fortschritt" ist? Da wäre ich anderer Ansicht, nicht zuletzt deshalb, weil Entwicklungen, die sich langfristig als vorteilhaft für die ganze Menschheit erwiesen haben, oft anfangs einzelne demographische Gruppen oder ganze Völker einseitig belasteten.
Das einfache Volk etwa erlebte den Kapitalismus – dem Pinker zu Recht zuschreibt, die ganze Menschheit langlebiger, sicherer und reicher gemacht zu haben – anfangs nicht gerade als Segen.
Was übrigens Steven Pinker anlangt … in Aᴜꜰᴋʟᴀ̈ʀᴜɴɢ Jᴇᴛᴢᴛ relativiert er Gᴇᴡᴀʟᴛ: Eɪɴᴇ ɴᴇᴜᴇ Gᴇsᴄʜɪᴄʜᴛᴇ ᴅᴇʀ Mᴇɴsᴄʜʜᴇɪᴛ insofern, als die von ihm betrachtete Epoche, die mit der Industriellen Revolution beginnt, nicht stellvertretend stehen könne für die gesamte menschliche Geschichte.
Die Fülle globaler Veränderungen seit 1945 stelle ein Kapitel eigener Genese dar, aus dem sich keine Vorhersagen für die Zukunft ableiten ließen. Woraus in meinen Augen folgt, dass die daraus zu ziehenden Lehren auch die Vergangenheit, sprich 99,999% der Menschheitsgeschichte, nur unvollständig beschreiben können.
Es mag sein, dass wir uns in der ersten Epoche der Geschichte befinden, in der Fortschritt nicht mehr hauptsächlich aus der Not – gleich welcher Form von Not – geboren wird. Aber selbst die Innovationen der Gegenwart müssen noch immer auf ihren Ursprung abgeklopft werden.
Sind bspw. diejenigen Innovationen, die aus dem Raumfahrtprogrammen der USA und der UdSSR hervorgegangen sind, wirklich als Produkt friedlicher Forschung zu werten?
Die Arbeiten von Preisser-Kapeller […] und Abu-Lughod […] zeigen, wie stark Handel und damit Wohlstand durch einen von Fürsten garantierten und möglichst ungestörten und friedlichen Austausch begünstigt wurde. Und wie anfällig dieses Handelssystem gegen kriegerische Störungen war und in der Regel sich neue Handelsverbindungen suchte.
Dieser Einwand scheitert in meinen Augen wieder an der noch auszudiskutierenden Frage, wie allumfassend eine Entwicklung sein muss, um von Fortschritt zu sprechen.
Deshalb erscheint die Schlussfolgerung in Form einer unkritischen Bejahung eines kriegerischen Sozialdarwinismus problematisch.
Ich halte diesen Begriff hier für deplatziert, und 'unkritisch' bejahe ich ihn schon gar nicht. Wenig kontrovers erscheint mir indes die Beobachtung, dass Veränderung nicht aus Zufriedenheit, Sorglosigkeit und Überfluss geboren wird.
Wo Passivität nicht bestraft wird, müssen günstige politische und ökonomische Bedingungen sich überhaupt erst einmal derart vereinigen, dass Aktivität lohnender ist als Passivität.