Es gibt schon etliche Threads, worin das angesprochen wird [1], aber ich denke, dieser ist der richtige, zumal Rafael hier [2] bereits sehr viel Wichtiges gesagt hat.
A. Wertungen und Kontroversen
Kurze Wiederholung: Rafael vertritt dezidiert die Auffassung, "dass der Inquisitionsprozess [IP.] im Recht wirklich zur einer 'Verbesserung' führte, auch wenn die Folter für die Urteilsfindung ein sehr schlimmes Übel war, das man nicht schön reden kann" (ebd.) bzw. dass man den IP. "als Fortschritt anerkennen" müsse, "auch wenn die Folter an diesen gekoppelt war".
Mein Unbehagen über diese Wertung, die Timotheus noch verstärkt [3], habe ich in zwei Beiträgen formuliert [4]. - Der Fortschritt ist, so vielleicht der gemeinsame Nenner, bisweilen ein ambivalentes Ding.
Scorpio schrieb: "Die Prozessform war der IP., mit der Inquisition hat das nur wenig zu tun." [5]. Dass man zwischen Inquisition und IP. unterscheiden muss, ist klar, wohingegen das "wenig" im zweiten Halbsatz diskussionsfähig ist - siehe Rafaels Hinweis, dass die Inquisition den IP. "oftmals nutzte Geständnisse zu erlangen - für Verbrechen, die es nicht gibt" [6]. Hierüber grübelnd, kam ich auf die Spur einer Kontroverse: Treten Folter und IP. nach 1200 gleichzeitig auf und kommen sie aus der gleichen Denkrichtung?
Eberhard Schmidt schreibt in seinem Standardwerk [7], dass die auf die Folter bezogenen Quellen ähnlich weit zurückreichen wie die zum IP. (S. 91). Er geht sodann der Frage nach, ob die Folter aus dem römischen Recht entlehnt sei und verneint sie: "Die Folter ist ... mit dem IP. zusammen in Deutschland selbst ohne Entlehnung und Nachahmung fremder Vorbilder in Gebrauch gekommen" (S. 93). [8] Besondere Foltermethoden wurden zunächst nicht ersonnen, sondern man behandelte die Delinquenten in der "üblichen" gewalttätigen Weise.
Die Gegenmeinung ist bei Weiler wiedergegeben [9]. Hiernach hat sich die Folterpraxis "von Italien aus nach Deutschland ausgebreitet" (S. 77); es wird angenommen, "dass die Folter in Deutschland zunächst in der Ketzerverfolgung durch die Kirche eingesetzt wurde und darüber schließlich Eingang auch in die weltliche Strafverfolgung fand" (S. 78). "Die in dieser Zeit stattfindende Einführung des IP. in Deutschland hat die Anwendung der Folter begünstigt." (S. 79)
Gibt es noch andere Auffassungen dazu?
B. Folter und Macht
Warum verbreitete sich die Folter ab dem 13. Jh. so rapide? Für Hexen- und Ketzerprozesse des 15.-17. Jh. hat Timotheus notiert, dass die Opfer "eine [vermeintliche] Gefahr für die göttliche Weltordnung und damit das eigene Seelenheil dar(stellten)." [10]
Eine etwas profanere Deutung gibt Schmidt (S. 98, Hervorh.i.Orig.):
"Es ist sehr bezeichnend, dass es gerade die Prozesse gegen Ketzer gewesen sind, die zur Verwendung der Folter seitens der Kirche geführt haben. Der Ketzer bedroht die Machtposition und die Herrschaft der Kirche über die Seelen. Als Machtinstitution fühlt die Kirche sich angegriffen. Nirgends aber ist die Versuchung, nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu handeln, größer als da, wo Macht verteidigt oder durchgesetzt werden soll. [...] Die Sorge um die Macht verdrängt alle Rücksichten, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und aus sonstigen ethischen Gesichtspunkten sich einstellen und zu vorsichtigem und behutsamem Vorgehen gegen den Gegner nötigen könnten."
C. Keine/wenig Folter in England!?
Der von Rafael zitierte Baldauf gibt an, dass "auch in England gefoltert (wurde), allerdings nur selten". [11] Die dort erwähnte "häufig vertretene Auffassung", dass man gänzlich ohne Folter ausgekommen sei, habe ich auch bei Gerlach gefunden [12]: "Die Tortur wurde in England niemals institutionalisiert ... und deshalb auch nie offiziell abgeschafft." Mit einer wichtigen Ausnahme allerdings.
Ob selten oder gar nicht - erstaunlich ist diese reale Differenz zum Kontinent schon, und ich finde auf Anhieb keine plausible Begründung dafür.
[1] Auch in:
http://www.geschichtsforum.de/f288/die-abschaffung-der-folter-preu-en-und-die-folgen-19347/
[2]
http://www.geschichtsforum.de/396290-post13.html
[3]
http://www.geschichtsforum.de/396015-post10.html
[4]
http://www.geschichtsforum.de/396043-post11.html ;
http://www.geschichtsforum.de/398091-post39.html
[5]
http://www.geschichtsforum.de/408281-post2.html
[6]
http://www.geschichtsforum.de/407321-post13.html
[7] Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. Göttingen 1965
[8] So auch noch Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Aufl. München 2004, S. 278
[9] Auszüge:
Grundlagen und Grenzen des ... - Google Bücher
[10}
http://www.geschichtsforum.de/398091-post37.html mit Verweis (dort #30) auf
http://www.geschichtsforum.de/f13/hexenprozesse-inquisition-und-die-verantwortung-der-kirche-11163/
[11]
Die Folter: eine deutsche ... - Google Bücher
[12]
Festschrift für Ernst-Walter Hanack ... - Google Bücher