Geschichte der dreißiger Jahre in der UdSSR und Ausland

WolleBolle

Neues Mitglied
Guten Tag,
ich habe heute ein Referat im Russischunterricht zum Thema Holodomor bzw. Hungertod 1932-1933 in der Ukraine gehalten. Meine Lehrerin ließ mich das Thema frei wählen, meinte nach meinem Referat aber, dass sie dachte, dass ich den allgemeinen historischen Kontext noch genauer hätte erläutern sollen. Das soll ich bis zur nächsten Stunde nachholen. Wir sind nur drei Schüler im Kurs und von der Note hängt ab, ob ich 15 oder 14 Punkte bekomme, deshalb hat sie mit dem Nachholen wohl eine Ausnahme gemacht. Besonders bin ich in meinem Vortrag übrigens auf die unterschiedlichen Perspektiven auf das Ereignis eingegangen. Konkret habe ich die ukrainische bzw. westliche Ansicht mit der russischen Ansicht verglichen und habe dabei nicht-zeitgenössische also so aktuelle Quellen bzw. Texte von russischen und ukrainischen bzw. ausländischen Historikern miteinander verglichen.

Nun ist es schwierig, sich auf möglichst wenige Punkte zu konzentrieren, ohne dabei zu allgemein zu werden. Da ich bereits übermorgen meine Stichpunkte vom Platz aus kurz erläutern soll und bis übermorgen natürlich noch einen Haufen anderer Dinge zu tun habe, habe ich nicht ewig Zeit, mich mit dieser historischen Einordnung zu beschäftigen und wollte euch um Hilfe bitten.

Einige Punkte, die ich gerne beleuchten würde, sind:

Die Innen- und Außenpolitik der UdSSR im Zeitraum 1930-1940 mit Fokus auf die Jahre 1932/1933
Insbesondere:
  • Kollektivisierung mit Zusammenführung von Bauernhöfen in Kolchosen bzw. Sowchosen
  • Industrialisierung
  • Stalinscher Terror
  • usw., ich muss nur leider jetzt zum Essen

    Ich bin euch für eure Hilfe extrem dankbar,
    Mit freundlichen Grüßen,
    Wolfgang
 
Hallo Wolle,

ich befürchte, du hast gegenüber den meisten Leuten hier im Forum einen Wissensvorsprung. Auch sprachlich. Ohne es genau zu wissen, könntest ich mir vorstellen, dass z.B. @silesia dir weiterhelfen kann, oder - aber der ist im Forum nicht mehr aktiv - @thanepower. Vielleicht auch andere, die ich jetzt nicht auf dem Schirm habe.

Nach dem, was du uns mitgeteilt hast, nehme ich an, dass du den Holodmor nicht hinreichend kontextualisiert hast. Ich würde hier am ehesten auf das Thema der "Kulaken" (einschließlich Problematisierung des Begriffs und ob Historiker diesen verwenden sollten) und Zwangskollektivierung eingehen, sowie auf die traditionelle, bereits im zaristischen Russland vorhande Feindschaft gegenüber dem Ukrainischen als polonisierter russischer Zwittersprache eingehen, also dass die stalinistische Sowjetunion durchaus in einer nationalchauvinistischen Kontinuität aus dem 19. Jhdt. stand.
 
Einige Punkte, die ich gerne beleuchten würde, sind:

Die Innen- und Außenpolitik der UdSSR im Zeitraum 1930-1940 mit Fokus auf die Jahre 1932/1933
Insbesondere:
  • Kollektivisierung mit Zusammenführung von Bauernhöfen in Kolchosen bzw. Sowchosen
  • Industrialisierung
  • Stalinscher Terror

Was hast du denn bisher zu diesen Punkten ausgearbeitet?

Wichtig wäre wahrscheinlich im Kontext des Zusammenahgns der drei Punkt die sehr starke Bedeutung, die der Marxismus-Leninismus der Industrialisierung der Landwirtschaft in zweierlei Hinsicht zumaß.

Diese wurde als Schlüsslelement sowohl für die weitere Industrialisierung begriffen, als auch für die Festigung des kommunistischen Systems.

Für die Festigung des Sozialistisch/Kommunistischen Systems deswegen, weil Industrialisierung der Landwirtschaft zum Fallen der Preise für Ararerzeugnisse führen und damit Druck auf die Kleineren und mittelgroßen Bauern ausüben musste, sich entweder in organisierten Kollektiven zusammen zu schließen um genügend Mittel aufbringen zu können um konkurrenzfähig zu bleiben oder die Landwirtschaft aufzugeben und in die Städte abzuwandern um sich in der wachsenden Industrie als Arbeiter zu verdingen.
Politisch sollte die Industrialisierung der Landwirtschaft ein Stück weit die Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung quasi durch die Hintertüre nachvollziehen und durch Umwandlung vormals frei aggierender Landbesitzer, die dem Sozialismus und der Sowjetmacht weitgehend skeptisch gegenüberstehen mussten, in abhängige Land- und und Industriearbeiter (also "Proletariat" im marx'schen Sinne) gewährleisten und damit das das System insgesamt auch auf dem Land verankern.

Im Hinblick auf die Industrialisierung der Sowjetunion wurde die Industrialisierung der Landwirtschaft als Schlüssel betrachtet, eine größere städtische Bevölkerung (= Industriearbeiterschaft) zu erträglichen Konditionen versorgen zu können und gleichzeitig durch das Ersetzen menschlicher Arbeitskraft auf dem Land (Bauern/Landarbeiter) durch Maschinen, möglichst viele Arbeitskräfte frei zu setzen (= de facto arbeitslos zu machen) um deren Abwanderung in die Städte und ihren Einsatz in der schnell wachsenden Industrie zu ermöglichen und deren beschleunigtes Wachstum fortsetzen zu können.
Wirtschaftlich war die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge vor allem auch deswegen wichtig, weil die frühe Sowjetunio nach wie vor ein Agrarland, mit einer noch nicht sehr fortgeschrittenen Industrialisierung war, dessen Industrieprodukte gegenüber denen der entwickelten Industrien Westeuropas und der USA (mittlerweile auch Japans) keine wirkliche Konkurrenz darstellen kaum gewinnbringend abgesetzt werden konnten.
Abgesehen davon wurden sie in weiten Teilen im waschenden Binnenmarkt benötigt um die Industrialisierung weiter vorantreiben zu können, denn die hatte einen wachsenden Bedarf auch an einfachen Industrieerzeugnissen.

Für den sojwetischen Export spielten vor allem Agrarprodukte und Rohstoffe eine wichtige Rolle. Die Industrialisierung der Landwirtschaft lief darauf hinaus beide Bereiche anwachsen zu lassen.
Einmal durch die Steigerung der Produktionsmengen der Landwirtschaft durch Anschaffung von Maschinen, Einsatz von künstlichen Düngemitteln etc. andererseits durch das Freisetzen von dadurch überflüssig werdenden Arbeitskräften, die eben entweder in den städtischen Industrien oder bei der Rohstofferzeugung (Bergbau, Ölförderung, Forstarbeit etc.) eingesetzt werden konnten.
Die Steigerung des Exportvolumens bei Rohstoffen und Argargütern, war deswegen von herausragender Bedeutung, weil im Gegenzug dafür dann aus Westeuropa und den USA Maschinen importiert werden konnten, die die Industrialisierungsbemühungen unterstützten und den Prozess der Industrialisierung der Sowjetunion beschleunigen konnten.

Die Industrialisierung sämtlicher Wirtschaftsbereiche selbst wiederrum stellt im theoretischen Marxismus die Grundbedingung für eine kommunistiche Gesellschaftsordnung dar.
Die Bolschewiki waren bei ihrm Umsturz 1917 von der marx'schen Ideenwelt insoweit abgewichen, dass sie anders als Marx das postuliert hatte erst den politischen, Umsturz vollzogen, obwohl die wirtschaftliche Transformation des Landes zu einer Industriegesellschaft noch nicht gegeben war.
Das mussten sie aus ihrer Warte heraus aber als Problem betrachten und deswegen darauf hinarbeiten die Industrialisierung so schnell als möglich nachvollziehen um das politische System zu stabilisieren.
Davon konnte sich auch Stalin (auch wenn der nie ein besonderer Theoretiker des Sozialismus war) nicht ganz frei machen, wobei der in der Industialisierung vor allem auch Möglichkeiten für die eigene Macht gesehen haben dürfte.
Ein weiterer Grund für die Beschleunigung dieses Prozesss lag darin, dass Stalin sich in den Kopf gesetzt hatte, den industriellen Vorsprung des Westens aus machtpolitischen Gründen unbedingt so schnell als möglich einholen zu müssen.
 
Warum nun die Zwangskollektivierung in Form von Kolchosen, Sowchosen etc. und der Terror?

Das Problem an den oben skizzierten theoretischen Vorstellungen ist, dass sie den Interessen der Bauern zuwiderlaufen mussten.
Die Allgemeine Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion war durch den Preisverfall für Agrarprodukte für die Volkswirtschaft insgesamt gut, für den einzelnen Bauern, aus betriebswirrtschaftlicher Sicht aber schlecht, weil das bedeutete, dass er um seine Einnahmesituation zu halten immer größere Mengen Produzieren musste, was im Besonderen kleinere und mittlere Bauern aber auf Dauer nicht konnten, weil sie überhaupt nicht die entsprechende Anbaufläche zur Verfügung hatten.
Um das überhaupt zu können, auch um sich Maschinen für die Produktionssteigerung leisten zu können, waren Zusammenschlüsse von Bauern in diesem Sinne notwendig, deswegen wurden sie vom Sowjetregime von Anfang an propagiert.
Das war aber für die Bauern insofern wenig attraktiv, als dass sie damit verbunden ein großes Stück ihrer Eigenständigkeit als (mehr oder weniger) Unternehmer aufgeben und sich zum Angstellten eines Kollektivs degradieren lassen mussten.
Durch die Praxis des Regimes die Preise für Agrarprodukte teilweise nicht durch den Markt bestimmen zu lassen, sondern sie politisch festzusetzen, so dass sich diese Aufgabe von Eigenständigkeit nicht unbedingt in wirtschaftlichen Vorteilen niederschlagen musste, war das für die Bauern relativ wenig attraktiv, weswegen die meisten Bauer freiwillig nicht in Kollektive eintraten.

Das war aus Sicht des Regimes aber inakzeptabel, weil die Verweigerung sich in Kollektiven zu organisieren, die Industrialisierung der Landwirtschaft, so wie man sich das in Moskau vorstellte blockierte und damit die Industrialisierungs insgesamt, die aber aus machtpolitischer Sicht des Regimes überlebensnotwenig war insgesamt ausbremste.

Für einzelne Bauern waren Maschinen um die Landwirtschaft produktiver zu machen völlig unerschwinglich, außerdem war es aus volkswirtschaftlicher Sicht besser, wenn kollektiv organisierte Bauern Maschinen hatten, die sie im Wechsel gemeinsam nutzten, als wenn einzelne Bauern danach strebten sich Maschinen anzuschaffen, die nach Gebrauch möglicherweise längere Zeit bis zum kommenden Jahr ungenutzt blieben.

Theoretisch folgte das der durchaus vernünftigen Überlegung, dass es volkswirtschaftlich effektiver ist, wenn sich X kollektiv zusammengeschlossene Landwirte zusammen einen Traktor, eine Sähmaschine oder sonst etwas anschafften und diese gemeinsam nutzten, als wenn jeder dieser Landwirte unorganisiert vor sich hinarbeitete ohne dabei die finanziellen Möglichkeiten zu haben, sich solche Gerätschaften anzuschaffen.

Deswegen und wegen der theoretischen sozialistischen Aversion gegen Landbesitzer (als Produktionsmittelbesitzer) musste aus Sicht des moskauer Regimes die Zwagskollektivierung durchgesetzt werden.

Nun ließ sich auf die kleinen Bauern mittels Preisdruck noch einigermaßen effektiv Einfluss auf die Bereitschaft zur Kollektivierung ausüben.
Auf die größeren Bauern, (wobei "größer" wegen der Bodenreform unter Lenin und der erfolgten Enteignung des Großgrundbesitztes relativ ist) ließ sich aber dadurch weniger Einfluss ausüben, die konnten dem wirtschaftlichen Druck besser trotzen.
Aus diesem Grund heraus, wurden die größeren (de facto im europäischen Vergleich oft eher mittelgroßen), wirtschaftlich eigermaßen erfolgreichen Bauern, die sich der freiwilligen Kollektivierung wiedersetzten, weil das ihren Interessen wiedersprach, zunhemend zur Zielscheibe des Regimes.
Auch weil diese für die kleineren Bauern eine andere Peerspektive aufzeigten, als die von der Sowjetregierung protegierten Kollektive, dahinghend, dass sie durch wirtschaftlichen Erfolg möglicherweise auch ohne Kollektiv aufsteigen, wachsen und dabei ihre Eigenständigkeit behalten konnten.

Deswegen versuchte Stalin seit Ende der 1920er Jahre, als er sich in den Parteiinternen Machtkämpfen nach Lenins Tod so weit durchgesetzt hatte, dass er seine Konkurrenten vollständig ausschalten konnte, durch zwang und Terror zu erreichen, was durch Propagana und sanften Druck nicht zu erreichen war, nämlich die Kollektivierung der Landwirtschaft durchzusetzen um den Schlüssel für eine beschleunigte eigene Industrialisierung in die Hand zu bekommen, die das Regime außenpolitisch durch größere wirtschaftliche und militärische Macht absichern und innenpolitisch das sozialistische System auch auf dem Land verankern und durch Proletarisierung der Bauern stützten sollte.
Der Begriff "Kulak" der dabei zum Zuge kam, erfüllte, obwohl inhaltlich ziemlich difus im Wesentlichen zwei Zwecke:

Zum Ersten diente er der ideologischen Selbstrechtfertigung ds Regimes, in dem Gegner zu mehr oder minder großkapitalistischen Aktueren erklärt wurden, deren Bekämpfung im sozialistischen Sinne legitim erscheinen musste (unabhängig davon, ob sie das de facto waren oder nicht)
Zum zweiten, war das auch ein Versuch an den Sozialneid der kleineren, weniger erfolgreichen Bauern zu appellieren und diese möglicherweise dazu zu bewegen das Regime in seinen Kollektivierungsbestrebungen zu unterstützten.

Ich hoffe, dass das einigermaßen verständlich gewesen ist und ein Bisschen bei der Darstellung des Kontextes hilft.
 
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