Kurze Frage, kurze Antwort: Ja.
Unter seiner Führung wurde ein diktatorisches Regime aufgebaut, daß nur durch Terror und Bürgerkrieg die Macht an sich reißen konnte.
Auch wenn die Beantwortung der Frage "kurz" ist, dadurch wird sie im Kern nicht richtiger.
Betrachtet man auf die Schnelle drei Werke von eher konservativen Historikern, die sich mit der Periode von 1917 bis zu Lenins Tod beschäftigt haben, dann findet man keinen einzigen Hinweis der Beurteilung seiner Person als "Kriminellen" bei folgenden Historikern:
- Pipes: The Russian Revolution
- Service: Lenin
- Mawdsley: The Russian Civil War
Also woher das vorschnelle Urteil?
Es ist zwar richtig, dass bereits zu Lenins Lebzeiten das Modell des "demokratischen Zentralismus" eingeführt wurde und zu einer autokratischen Herrschaft führte, aber das ist kein "Verbrechen".
Terror: Bis zu Lenins Tod konzentrierte sich die Tscheka primär auf die Bekämpfung politischer Gegner. Selbst die seriösen Arbeiten von Applebaum oder Klevniuk ziehen eine Trennungslinie zwischen der politischen Gewalt bis 1923 und der späteren Gewalt ab 1928. Der Begriff "Terror" ist in diesem Zusammenhang bis zum Bürgerkrieg nicht zutreffend, da er das Ausmaß der innenpolitisch motivierten politischen Repression unangemessen beschreibt. Man übersieht dabei zudem gerne, dass auch die Gegner der Bolschewiki zu Gewalt griffen und führende Bolschewiken umgebracht wurden. Wie Lenin selber in 1918 angeschossen wurde und die Eskalation der innenpolitischen Gewalt dadurch verstärkt wurde.
Und es ist auch richtig, dass Lenin einen Bürgerkrieg führte und gegen Polen Krieg.
Bürgerkrieg: Selbst konservative Historiker konzidieren, dass im Rahmen des Bürgerkriegs beide Seiten ein ähnliches Maß an Gewalt bzw. Terror wahrgenommen haben (Hildermeier: Die Russische Revolution, S. 288). Woher kommt also die Bereitschaft, einer einseitigen Beurteilung bzw. Verurteilung?
Krieg gegen Polen: Der Krieg wurde von Russland als Bedrohung bzw. auch als Angriff gewertet und beispielsweise "Brusilov", als ehemaliger hoher zaristischer General, wollte sich spontan zur Verfügung stellen (vgl. Stökl: Russiche Geschichte, S. 675). Das bedeutete, dass ein hoher zaristischer Offizier die Bolschewiken als legalen Repräsentaten Russlands ansah. Nebenbei wie viele andere ehemalige zaristische Offiziere (vgl. auch Schaposchnikow)
Wie bei dieser obigen "Verurteilung" völlig ignoriert wird, dass das zaristische Reich am Zusammenbrechen 1917 war und sich desintegrierte, ein Umstand auf den auch vor allem Hobwsbawn oder auch Suny hinweist. Es waren somit im wesentlichen die Bolschewiki, die den Zusammenhalt des zerfallenden zaristischen Reichs organisiert haben. Und genau dieses ist ein Teil der Quellen der Loyalität auch der alten zaristischen Verwaltung gegenüber den Bolschewiken. Denn es waren weitgehend zaristische Funktionsträger, die das Funktionieren des Rumpfrusslands von Moskau und Leningrad aus sicher gestellt haben. Nebenbei ein Umstand, dessen sich Lenin sehr bewußt war. War es also nur Terror, der das Land bis zum Bürgerkrieg organisierte?
Zumal in der Anfangszeit nach der Revolution auch avantgardistische neue Lebensformen eine Rolle gespielt haben, wie Stites illustriert.
Revolutionary Dreams : Utopian Vision and Experimental Life in the Russian ... - Richard Stites Associate Professor of History Georgetown University - Google Books
Allerdings ist es wohl auch richtig, dass Revolution ohne Gewalt und Opfer schwer durchzuführen sind, wie das Beispiel von Washington oder Cromwell unter anderem signalisiert. Sind diese auch als "Verbrecher" zu klassifizieren, weil sie für ihre Ideen Gewalt gegen ein legales politisches Regime eingesetzt haben und mit Gewaltmaßnahmen ein neues politisches Regime erzwungen haben? Wieviele Opfer haben sie zu verantworten?
Vielleicht sollte man stattdessen mal die allgemeine Frage aufwerfen, wie häufig in der Geschichte durch "Zwangverhältnisse" abhängige Personen, also Sklaven, Leibeigene, "Landeskinder", Bürger, gepreßte Sölnder etc., ihr Leben lassen mußten. Ganz zu schweigen von dem Genozid im Zuge des dreißigjährigen Krieges in Deutschland. Waren also unsere ganzen "Kriegshelden", wie Friedrich der Große auch nur simple "Verbrecher", weil sie Personen unter Androhung von Gewalt gegen ihre Interessen in den Tod in zahlreichen sinnlosen Schlachten geschickt haben.
Was ich damit sagen möchte ist, dass der Begriff der Gewalt oder des Verbrechens im politischen Bereich mit Bedacht gewählt werden sollte, auch wenn man damit eine historische Person beurteilen möchte.