Hallo Maelonn,
ich glaube wir reden ein wenig einander vorbei.
Zunächst einmal (das habe ich wohl etwas missverständlich formuliert:red
bezieht sich mein letzter Beitrag ausschließlich auf den Feldzug 16 n.Chr.
Außerdem, bezügl. der sechs Legionen:
Hier ist davon auszugehen, daß der Germanicus diese Legionen direkt vom Rhein aus in Marsch gesetzt hat. Also der Lippe entlang bis zum belagerten Kastell. Oder anders: Er hat sich dem Kastell vom Rhein aus, also von Westen genähert. Deshalb erscheint es mir unlogisch, daß diese sechs Legionen wieder zurück an den Rhein sind, um dann verschifft zu werden.
Die These Haltern=Aliso ist natürlich durchaus nachvollziehbar. Aber würden die Germanen ein Kastell belagern, welches so nahe an den Stützpunkten am Rhein liegt?
Du hast Recht. Wir reden ein bisschen aneinander vorbei. Zunächst mal hat mich meine Erinnerung getrogen. Ich war davon ausgegangen, dass die Entsatzaktion für das belagerte Lager aus der laufenden Operation heraus erfolgt ist. Dem war aber nicht so. Tatsächlich erfolgte dieser Einsatz, ehe der eigentliche Feldzug des Jahres 16 angelaufen war. Mein Fehler.
Was Deine Verwirrung über den Marsch der sechs Legionen und deren Rückkehr zu den Schiffen angeht, habe ich eine Idee, worauf die sich gründet: Kann es sein, dass Du Dich hier auf die Reclam-Quellensammlung mit dem Titel "Varus, Varus!" beziehst? Dieses Ding hat mich schrecklich geärgert. Ich war kurz davor, das Heftchen mitten in meinem Wohnzimmer zu verbrennen! Da sind aus völlig unerfindlichen Gründen wesentliche Teile des Tacitus-Textes einfach weggelassen worden. Und zwar genau an der Stelle, um die es uns hier gerade geht. Ich fasse das "Weggelassene" mal kurz mit eigenen Worten zusammen:
- Germanicus hat einen Feldzug geplant, der wieder über die Nordsee und die Flüsse vorgetragen werden sollte.
- Er hat Steuererhebungen in Gallien angeordnet und den Bau einer Flotte von 1000 Schiffen befohlen.
- Als Sammelpunkt hat er die "Insel der Bataver" bestimmt.
- Bevor die Flotte fertig war oder bevor sie zu dem Sammelpunkt gebracht werden konnte (das bleibt im Tacitus-Text unklar), erhielt er die Nachricht von der Belagerung des Kastells an der Lippe. Das passierte also mitten in der Vorbereitung für den Feldzug.
- Daraufhin ist er aufgebrochen, um die Belagerung zu brechen. Offen bleibt, wo er zu dem Zeitpunkt war. Möglicherweise auf der Insel der Bataver. Dann wäre er aber nicht entlang der Lippe gezogen, sondern von weiter nördlich gekommen. Richtig ist: Er wäre auch dann nicht an Kalkriese vorbeigekommen. Wie auch immer:
- Nach der Befreiung des Kastells ist er zurückgekehrt und hat mit der Vorbereitung des Aufmarsches für seinen Feldzug (1000 Schiffe, Nordsee, Ems, Idistaviso, Angrivarierwall etc.) weitergemacht. Die Schiffe standen also nicht in direktem Zusammenhang zur Belagerung des Lippe-Kastells. Der Rückmarsch zum Rhein und zu den Schiffen ist demnach nicht unlogisch, sondern nur Teil einer völlig anderen Operation.
Zu Deiner Frage, ob die Germanen es gewagt hätten, ein rheinnahes Lippekastell zu belagern: Sie hatten es ein paar Jahre vorher gewagt, drei Fünftel des römischen Heeres in Germanien anzugreifen. Sie haben es gewagt, alle römischen Niederlassungen in ihrem Gebiet zu verdrängen und sie haben es im Jahr davor und ein paar Monate danach gewagt, sich acht römischen Legionen in den Weg zu stellen. Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg richtig heiß geworden. In der Phase haben beide Seiten ALLES gewagt. Da ging es um alles oder nichts.
Übrigens habe ich in den "weggelassenen" Passagen aus den Annalen auch die Textstelle wiedergefunden, von der ich weiter oben schrieb, dass ich sie nicht mehr finden könne. Sie lautet: "
...die lange Trosskolonne verleite zu Überfällen und könne nur schwer verteidigt werden. Wenn er jedoch auf das Meer gehe, habe er in diesem Gebiet freie Bahn, während sich die Feinde dort nicht auskennen. Zugleich könne man mit dem Krieg früher beginnen und die Legionen gleichzeitig mit dem Nachschub befördern. Ungeschwächt werde die Reiterei mit ihren Pferden nach dem Transport von den Flussmündungen aus auf dem Wasserweg mitten nach Germanien gelangen..." Tacitus, Annalen, Buch 2, Kapitel 5.
Und was ist, wenn Anreppen das Lager Aliso ist? Schließlich hat Kühlborn in Anreppen große Speicher nachgewiesen, die die Römer benötigten um ihren Tross auszurüsten, die dann ostwärts zogen.
Ferner wäre dann auch die Passage des Tacitus interessant, in dem er auf die Zerstörung des tumulus (Varusschlacht) und Drususaltar hinweist. Somit wären wir wieder bei dem Thema "haud procul" . Bei den äußersten Brukterer. Wozu hätte Germanicus sonst sechs Legionen mitnehmen müssen, wenn er nicht zum Oberlauf der Lippe gezogen wäre? In Rheinnähe hätten die Germanen eher ein Problem gehabt.
Und da der tumulus und der Drususaltar von Aliso (an der Lippe) gut zu erreichen war, ist Kalkriese als Ort der Varusschlacht somit unwahrscheinlich.
Die Frage, ob Kalkriese wahrscheinlich ist, gehört hier nicht hin. Die wird anderswo diskutiert. Zu den übrigen Punkten:
1): Anreppen war vom Rhein (genauer: von Vetera) zu weit weg, um sicher und dauerhaft auch gegen Widerstand versorgt werden zu können. Es wäre ein militärisches Wagnis gewesen, einen "Brückenkopf" im Feindesland so weit entfernt von der eigenen Versorgungsbasis aufzubauen. Deshalb weisen die archäologischen Funde deutlich darauf hin, dass nicht Anreppen sondern Haltern in der Region das römische Machtzentrum war (nicht nur militärische, sondern vor allem auch bezüglich der Verwaltungsstrukturen).
2): Anreppen scheint in der Tat die Funktion einer Versorgungsbasis für Operationen in Richtung Osten gehabt zu haben. Die Operationen des Germanicus haben sich aber offenbar eher auf den Raum nördlich der Lippe konzentriert. Und die Truppen dort wären leichter und sinnvoller über die Ems und die Weser zu versorgen gewesen als über die Lippe.
3): Nach allem, was die Archäologen zutage gefördert haben, muss man davon ausgehen, dass das Lager bei Anreppen nur bis zum Jahr 5 oder 6 n.Chr. genutzt wurde. Es war also längst aufgegeben worden, als Varus mit seinen Legionen vernichtet wurde. Nichts deutet darauf hin, dass Germanicus es wieder "reaktiviert" hätte. Bei Haltern ist das anders. Da gibt es zum Beispiel einen Töpferofen, in dem germanische Leichen "entsorgt" wurden.
4): Anreppen liegt - nach allem, was wir wissen - nicht in dem Gebiet, das die Brukterer mal beansprucht haben. Da saßen wohl eher schon Cherusker.
MfG