Da hier Unklarheit über den Hintergrund des christlichen Kreuzigungskonzepts herrscht, gebe ich Hinweise auf den religionsgeschichtlichen Ursprung der Idee, dass JC am Kreuz alle Sünden auf sich genommen hat. Das schließt den Blick auf exegetische Deutungen bestimmter Motive notwendig ein. Ohne diesen Blick ist man für die geschichtswissenschaftlichen Zusammenhänge, auf die dieser Thread doch abzielt, nämlich blind.
Dass für die Juden das Hängen am Kreuz mit einem Fluch verbunden war, erklärt sich ganz wesentlich aus einer Stelle in Numeri 21, 6 f. Auch dass ´Paulus´ in Gal 3,13 davon spricht, dass JC "für uns zum Fluch geworden ist", hat seinen impliziten Bezug in jener Stelle. Explizit bezieht sich ´Paulus´ aber nur sehr kurz auf die Stelle (in 1 Kor 10,9).
In Numeri 21, 6-9 ist also von einer "ehernen" (=erzenen) Schlange die Rede. Sie wird von ´Moses´ auf Anordnung Jahwes an einem Stab aufgerichtet, um jenen Israeliten heilende Kraft zuzuführen, die von Wüstenschlangen gebissen wurden. Anlass waren die zahlreichen Verletzungen durch "feurige Schlangen", die Jahwe gesandt hatte, um jene im Volk Israel zu bestrafen, die an ihm gezweifelt hatten. Diese wandten sich in Reue an Moses mit folgender Bitte:
(4 Mose 21,6-9)
Wir haben gesündigt, daß wir wider den Herrn und wider dich geredet haben. Bete, dass er die Schlangen von uns nehme. Da betete Moses für das Volk. Und der Herr sprach zu ihm: Mache eine eherne Schlange und richte sie zum Zeichen auf: Wer gebissen ist und sie anblickt, soll am Leben bleiben. Also machte Moses eine eherne Schlange und richtete sie zum Zeichen auf. Blickten die, welche gebissen waren, sie an, so wurden sie geheilt.
In 2 Könige 18,4 vernichtet König Hiskia den (vorgeblich) von Moses errichteten Schlangenstab, weil er für ihn ein Symbol heidnischen Glaubens ist:
Er tat ab die Höhen und zerbrach die Säulen und rottete das Ascherabild aus und zerstieß die eherne Schlange, die Mose gemacht hatte, denn bis zu der Zeit hatten ihr die Kinder Israel geräuchert, und man hieß sie Nehushtan.
Zur Datierung dieses Textes: Theorien schwanken zwischen dem 7. Jh. und dem 4. Jh. (hier Kalimi). Als Anhänger von Spätdatierungen gehe ich also von einer nachexilischen Entstehung aus, zumal die Mosesfigur ohnehin höchstwahrscheinlich frühestens in exilischer Zeit konzipiert wurde (wie auch der komplette Pentateuch).
Wie hängt der mosaische Schlangenstab nun mit JC zusammen? Dass die Juden einen Gekreuzigten als verfluchten Sünder wahrnahmen (wiewohl nicht generell, da es archäologische Gegenindizien gibt, d.h. reguläres jüdisches Begräbnis eines Gekreuzigten), schrieb ich schon. Dass die Christen diesen Fluch in ihr Jesus-Konzept zu integrieren versuchten, geht aus Dtr 21,23 und Gal 3,13 hervor sowie aus Überlegungen von Justin und Tertullian.
(Aus: Tertullian, Über den Götzendienst (De Idololatria), 5)
Wofern aber jemand übersieht, dass das genannte Bild, die eherne Schlange, die in einer ganz bestimmten Weise aufgehängt war, das Sinnbild des Kreuzes Christi vorstellte, welches uns von den Schlangen, d. h. den Engeln des Teufels, befreien soll, indem es in sich selbst den Teufel, d. i. die getötete Schlange, aufhängt - (...) - wenn also, wie gesagt, die eherne Schlange ein Vorbild des Kreuzes war, so ist alles in Ordnung.
Die aufgehängte Schlange repräsentiert den mit Christus identifizierten ´getöteten´ Satan und damit die Überwindung des Bösen durch die Macht Gottes. In der christlichen Theogie des Tertullian stellt sich die Analogie zwischen der Schlange und Christus so dar:
1) Durch den Tod der sündhaften Schlange wird der Mensch geheilt.
2) Durch das Auf-sich-Nehmen aller Sünden heilt (= erlöst) der sterbende Christus die Menschheit. Christus am Kreuz verkörpert in diesem Sinne - sich insofern opfernd - stellvertretend für alle Sünder das Böse, das getötet werden muss.
Ähnlich sah es vorher schon Justin der Märtyrer:
(Dialog mit dem Juden Tryphon, c.94,1,2)
Gott hat nämlich (...) durch dieses Zeichen ein Geheimnis kundgetan, sofern er durch dasselbe verkündete, er vernichte die Kraft der Schlange, welche auch den Adam zur Sünde verleitet hatte, er erlöse dagegen von den Schlangenbissen, das ist den sündhaften Handlungen, Götzendienst und anderem Unrecht, diejenigen, welche an Jesus glauben, der durch das erwähnte Zeichen, das Kreuz, sterben wollte.
Justins Darstellung ist die erste theologische Bezugnahme auf das Kreuz überhaupt. Insofern ist die Bedeutung, die er dem mosaischen Schlangenstab beimisst, besonders bemerkenswert.
"Christus am Kreuz" wird also funktional mit der Satanschlange identifiziert (siehe angedeutet bei Justin und explizit bei Tertullian).