1) Die Entscheidung zur Migration wird/wurde niemals leicht(fertig) getroffen, der Leidensdruck muss also immer hoch genug sein.
Diese Aussage setzt voraus, daß Seßhaftigkeit der Normalfall ist. Ist er aber nicht. In dünn besiedelteren, d.h. v.a. nicht verstädterten Kontexten, hat üblicherweise ein Elternteil bereits
Migrationserfahrung, und sei es nur über ca. 60 km wie regelmäßig bei den Frauen der Linearbandkeramik. Diese Erfahrung, und darauf basierende Techniken zum Einleben in einen neuen soziokulturellen Kontext, wurde über Generationen akkumuliert und an die Nachkommen weitergegeben. Für Jäger und Sammler, Fischer, Nomaden, selbst Halbnomaden (Transhumanz, Almwirtschaft) ist Migration Teil des Kulturkonzepts. Diese Kulturen verinnerlichten die Erfahrung, daß Überleben ohne (temporäre) Migration nicht möglich ist, weil die wilde oder domestizierte Nahrungsbasis wandert.
Dementsprechend postuliere ich, daß den meisten Kulturen ein
psychologischer "push" zur Migration inhärent ist. Er zeigt sich u.a. in religiösen Vorstellungen über ein "verlorenes Paradies" a.k.a. Walhalla, das jedoch die Suche zu Lebzeiten nicht lohnt, da mensch nach dem Tode dort sowieso hin zurückkehrt. Der amerikanische Mythos der "last frontier", neudeutsches "work and travel", Wander-, Entdeckungs- und Reise
lust kennzeichnen in "westlichen" Kulturen diese kulturelle Disposition. Und ihre Macht wird u.a. daran deutlich, welche Rolle das Thema Reisefreiheit für das Ende der DDR spielte.
Um diesen kulturellen "push" zu neutralisieren, braucht es einen
"home pull", einen Anreiz, in der (elterlichen) Heimat zu verbleiben. Traditionell wurde dieser durch
Ackerbau geliefert - je fruchtbarer die Böden, je ertragsreicher die Kultur, und je besser die Möglichkeit, sich in der Nähe von Eltern
und Schwiegereltern eine eigene, auskömmliche Existenz aufzubauen, desto weniger lockt die Fremde. Hinzu treten
Investitonen, die für nachfolgende Generationen getätigt werden, auch in der üblicherweise berechtigten Hoffnung, Kinder und Enkel würden Versorgung und Pflege im Alter übernehmen. Solche Investitionen sind Haus und Hof (samt Altenteil), Eindeichung, Systeme zur Be-/ Entwässerung, Terassierung, und/ oder langlebige Dauerkulturen wie Oliven, Wein, Nuß- und Obstbäume. Damit verknüpft sind die rechtlichen Konzepte von Privateigentum an Grund und Boden, und von Erbschaft. Wo diese nicht verwirklicht bzw. breitenwirksam wurden, ersetzte sie Sklaverei,
servitude und Leibeigenschaft, um ausreichende Arbeitskraftverfügbarkeit in der Landwirtschaft sicher zu stellen.
Dieser "home pull" reicht häufig nicht aus. Am wenigsten natürlich, wo gar kein echter "pull" vorliegt, sondern Leibeigenschaft o.ä. das "Zu-Hause-bleiben" erzwingt. Hinzu treten Faktoren wie Klimaveränderungen, Bodenverschlechterung, erschöpfte Intensivierungspotentiale etc., die dazu führen, daß nicht mehr der gesamte Nachwuchs "zu Hause" Ernährungsmöglichkeiten findet. Das erste Migrationsziel sind typischerweise nahgelegene Städte, wo durch durch dicht besiedeltes und zunehmend kaufkräftiges Umland gute Erwerbsmöglichkeit in Handwerk und Handel besteht*. Insofern bildet
Landflucht/ Verstädterung den ersten Migrationsanzeiger, schon für die Antike (Babylon, Athen, Rom, etc.). Dazu tritt Binnen- (Rodung) und Außenkolonisation, sehr schön nachvollziehbar im mittelalterlichen Deutschland.
Weltweit ist ein starkes Ansteigen solcher
Kolonisation etwa um/ab 500 v. Chr. festzustellen (u.a. Skythen, Kelten, Griechen, Phönizier, arabische Expansion nach Äthiopien, Bantu, indische "Reichsbildungen", koreanisch-nordchinesische Expansion nach Japan, malayo-polynesische Expansion, Mittelamerika), vielfach in Anknüpfung an und Fortsetzung vorheriger Verstädterungsprozesse. Scheinbar hatte um diese Zeit Klimaverschlechterung weltweit den "home pull" erodiert, und lokale Verstädterung reichte als Auffangmechanismus nicht mehr aus. Die Außenkolonisation brachte unruhige Zeiten, aber auch das Entstehen heute noch mit Ehrfurcht betrachteter
Hochkulturen, die sich in der Folge vielfach durch Handel vernetzten und gegenseitig technisch stimulierten.
Was lehrt uns diese Betrachtung:
- Migration ist den meisten Kulturen inhärent, und nicht Sonder-, sondern Regelfall.
- Produktiver, intensiver Ackerbau, gestützt auf wirkungsvolle und investitionsfördernde Rechtsnomen (insbes. kleinbäuerliches Eigentum an Grund und Boden**) kann regional zeitweilig einen effektiven, der Migrationsneigung entgegenwirkenden "home pull" aufbauen.
- Das zweite "Auffangnetz" bildet regionale Verstädterung. Solange dort ausreichend Erwerbsmöglichkeit für Neuankömmlinge vom Land besteht/ geschaffen wird, ist Weiterwandern zwar auch nicht ausgeschlossen, hält sich jedoch meist in Grenzen.
- Die typische Wanderungskette geht zunächst in eine nähergelegene Kleinstadt, und dann (meist in der nächsten/ übernächsten Generation) in eine Großstadt, oft die Hauptstadt. Weltweit, und hier macht Deutschland keine Ausnahme, ist Schrumpfung von Klein- und Mittelstädten und Zuwanderungskonzentration auf wenige nationale/ globale Zentren zu beobachten.
Wer bereits 2 Generationen Migrationserfahrung (vom Land in die Kleinstadt, von der Kleinstadt in die nationale/ regionale Metropole) mitbringt, den schreckt der Schritt in die "große Welt", also in die globalen Wirtschaftszentren einschl. EU/ Deutschland, auch nicht mehr - im Gegenteil, er bildet eigentlich die logische Konsequenz dessen, was Großeltern und Eltern begonnen haben.
Dies heißt nicht, daß sich Investitionen zur Stärkung der ländlichen Räume und der städtischen Erwerbsmöglichkeiten in Auswanderungsländern nicht lohnen. Konfliktprävention bleibt, nicht nur zur Vermeidung von Flüchtlingsströmen, vordringlich. Aber wir sollten uns auch nichts vormachen: Globale Migration in die Welt-Wirtschaftszentren, und zu denen zählt Deutschland nun mal, wird sich, auch bei aller Anstrengung zur Verstärkung von "home pulls" und Vermeidung lokaler "pushs", nur abschwächen, aber nicht ausschalten lassen. Dazu ist die interne Migrationsdynamik in Entwicklungs- und Schwellenländern (Landflucht, Verstädterung) bereits zu langdauernd und zu weit fortgeschritten.
Die Frage ist, wie sich die Migrationsdynamik so steuern und regulieren läßt, daß sie Konflikte und Friktionen vermeidet, und den
Nutzen aller Beteiligten, Zuwandernder und Aufnehmender, maximiert. Als Exportnation kann Deutschland von jungen, fremder Sprachen und Kulturen kundiger Neuankömmlingen aus aller Welt eigentlich nur profitieren. Zukünftiger Fachkräftemangel im Pflegebereich ist offensichtlich, Jahrtausende alte Metallverarbeitungstradition vom Balkan, aus Syrien oder Westafrika schadet der deutschen Industrie wohl auch nicht. Ohne iranische Zuwanderung in den späten 1970ern wäre der Ärztemangel noch spürbarer, als er jetzt schon ist - entsprechende medizinische Tradition hat der gesamte Nahe Osten einschließlich Afghanistan. Syrische Restaurants darf es meinetwegen ruhig noch ein paar mehr geben, und die extrem leckere (und sehr veganerfreundliche) äthiopisch-eritreische Küche ist selbst in Hamburg bislang überhaupt nicht vertreten. Über den Beitrag von Migranten zur Entwicklung des deutschen Männer- und Frauenfußballs muß man eigentlich nicht mehr reden.
Schweden versucht systematisch und offenbar recht erfolgreich, sich entvölkernde ländliche Räume über Flüchtlingsaufnahmezentren zu stabilisieren. Sie schaffen dort Jobs und (Dienstleistungs-)Nachfrage, ohne die die eine oder andere Dorfschule, Arztpraxis oder Buslinie längst weg wäre. Im ländlichen Holstein wird, so mein Eindruck, dies durchaus aufmerksam beobachtet, und wendet vielerorts die Angst um (sowieso, auch ohne Flüchtlinge, stagnierende/sinkende) Immobilienpreise in Hoffnung auf Rettung der Dorfschule und Nachwuchs für freiwillige Feuerwehr und örtlichen Fußballverein. Es gibt diverse Gegenden in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, auch Sachsen, denen ich ähnliche Erkenntnis, und anschließend zupackende Lokal- und Landespolitiker, wünsche - vielleicht ist da ja auch schon Einiges im Gange, was erst offenbar wird, wenn sich buchstäblich der Rauch legt und das Geschrei der Ewiggestrigen verstummt.
*) Ich habe dies selbst in den 1990ern für Java analysisert. Der hochproduktive Reisanbau auf nährstoffreichen vulkanischen Böden erlaubte ländliche Bevölkerungsdichten von ca. 700 EW/km² bei Bewässerungsfeldbau (3 Reisernten), und ca. 300 EW/km² bei Regenfeldbau (1 Reisernte plus eine Trockenfrucht wie Cassava). Diese Grenzen waren etwa in den frühen 1980ern erreicht. In der Folge setzte Stadtflucht ein, die innerhalb weniger Jahrzehnte dazu führte, daß weit über die Hälfte der Javaner in Städten lebten.
*) Eine der aus vorstehender Analyse gezogenen Schlußfolgerungen, die sich allerdings damals als politisch nicht durchsetzbar erwies, war die Notwendigkeit einer Klein-Privatisierung der aus Kolonialzeiten ererbten, häufig brachliegenden Staatsplantagen (Tee, Tabak etc.). Dort war es zu erheblicher "wilder" Landnahme von Gemüsebauern (Kohl, Tomaten, Chilies, etc.) gekommen. Mamgels Rechtssicherheit unterblieben Investitionen, v.a. in Terrassierung, was u.a. zu starker Erosion der Hanglagen führte.