Wie viel hatte Karthago mit der Platzierung der Feldherrn zu tun? Spanien und Sizilien wurden vollkommen von Karthago aus bestückt (oft genug unklug). Die oben zitierte Vermutung passt auch auf den Rat von Karthago, der Hannibal in Italien belassen wollte, solange keine große Gefahr drohte, und den Krieg von sich fern zu halten. Wir sehen Hannibal gerne als vollkommen autonom, was er sicher in hohem Maße war, aber er war ein Feldherr von vielen. Vielleicht lag die Entscheidung, ob er sich wegen der Misserfolge aus Italien zurückziehen könne, einfach nicht bei ihm. Alle großen Entscheidungen - Belagerung Sagunts, Marsch nach Italien, Abberufung 203 - waren mit dem Rat koordiniert, von ihm abgesegnet oder sogar initiiert.
Das sehe ich anders. Abgesehen von der Rückberufung dürfte Hannibal eigenständig agiert haben. Der karthagische Rat - zumindest einflussreiche Teile - war an einem Krieg mit Rom nicht interessiert. Karthago bereitete sich auf den Krieg auch nicht vor, nur Hannibal tat das. Wenn man die Geschichte Karthagos betrachtet, vor allem seine Kriege auf Sizilien, so sieht man, dass es sich, wenn es einen Krieg beginnen wollte, immer gründlich vorbereitete, durch weitgespannte Werbungen von Söldnern, den Abschluss von Bündnissen und ein großangelegtes Rüstungs-, vor allem Flottenbauprogramm. Diese umfangreichen Vorbereitungen fehlten im Vorfeld des Zweiten Punischen Krieges. Der karthagische Rat wurde von Hannibal vor vollendete Tatsachen gestellt. Wäre er von Anfang an in die Kriegsvorbereitungen eingebunden gewesen und hätte er den Krieg selbst beschlossen, hätte er vermutlich auch viel rascher auf den Nebenkriegsschauplätzen, vor allem Sizilien und Sardinien, Krieg führen lassen. Es entsprach nicht der karthagischen Strategie, sich nach und nach etwas einfallen zu lassen, sondern man schlug normalerweise nach umfangreichen Vorbereitungen mit voller Wucht im großen Stil nach Plan zu.
Hannibal war auf den Rat nicht angewiesen. Spanien war seine Hausmacht, und die Barkiden hatten auch in Karthago Anhänger. In Spanien konnte er weitgehend tun und lassen, was er wollte, und das tat er auch. Für seinen Plan brauchte er die Hilfe des Rates, zumindest anfangs, auch gar nicht wirklich.
Eine weitere Idee, die mir in den letzten Tagen kam, war die Frage, ob Hannibal mit zunehmender Dauer des Feldzuges - aus welchen Gründen auch immer - sein Kundschafternetz nicht mehr nutzen konnte. Bis Cannae bauen alle seine Unternehmungen auf exakter und immer zutreffender Einschätzung des Gegners auf - von der Planung des Zuges nach Italien (ich folge hier im wesentlichen Seibert) bis hin zur richtigen Einschätzung der gegnerischen Führungspersönlichkeiten und gnadenlosen Ausnutzung jeder Schwäche. Ist dieses Kundschafternetz irgendwann zusammengebrochen? Im Gegensatz zu den ersten Jahren, als Hannibal alle Fäden in der Hand zu haben schien, wirkt er ab einem gewissen Zeitpunkt völlig isoliert, reagiert nur noch, statt zu agieren.
Ich glaube, dass dieser Eindruck eher einer ex-post-Betrachtung geschuldet ist. Klar wird sich Hannibal möglichst umfassend informiert haben, aber dem waren Grenzen gesetzt. Das begann schon einmal damit, dass Rom keinen einheitlichen Oberkommandierenden hatte. Hannibal stand keinem dauerhaften römischen Feldherrn gegenüber, den er studieren und einschätzen konnte, sondern jährlich wechselnden Konsuln und Praetoren, dazu fallweise ernannten Dictatoren. Hannibal konnte unmöglich wissen, wer gewählt würde und wer mit einem Kommando gegen ihn betraut würde. Schon als er im Herbst 218 über die Alpen nach Italien marschierte, konnte er nicht wissen, wer die Konsuln des Jahres 217 sein würden. Dazu kommt noch, dass der römische Senat auch noch bei den militärischen Planungen mitmischte, und dass die Kommandos teilweise - insbesondere unter den Praetoren - verlost wurden. Auf diese Weise kann es kaum möglich gewesen sein, das römische Verhalten einzuschätzen und vorherzusagen. Ich glaube auch nicht, dass Hannibal wirklich tiefergehende Informationen über die meisten seiner Gegner besaß - langjährig aktive wie Marcellus ausgenommen. Wo hätte er die denn so auf die Schnelle nach jeder Wahl herbekommen sollen? Wenn jemand, der noch nie einen Feldzug kommandiert hatte, zum Konsul gewählt wurde, konnten doch selbst die besten Informanten nicht wissen, wie er sich als Feldherr verhalten würde.
Es ist ja auch gar nicht so, dass bis Cannae immer alles nach Wunsch lief. Dass Fabius Maximus Dictator wurde und eine Schlacht vermied, dafür aber die Karthager am Fouragieren hinderte, passte sicher nicht in Hannibals Konzept. Es war für ihn ein großes Glück, dass 216 mit Varro ein Mann Konsul wurde, der wieder die Entscheidungsschlacht suchte - aber das konnte er weder vorhersehen noch wirklich beeinflussen. Später hatte er dieses Glück nicht mehr. Ohne den Sieg bei Cannae aber wären möglicherweise viele Städte Süditaliens Rom treu geblieben.
Dass Hannibal nach den ersten Jahren nur noch reagiert zu haben scheint, liegt wohl eher daran, dass ihm die Optionen ausgegangen waren. Viele Städte blieben den Römern loyal, auf eine Belagerung Roms wollte er sich nicht einlassen, und die Römer wollten weder Frieden schließen noch eine Entscheidungsschlacht schlagen. Mehr als zu versuchen, seine Verbündeten zu beschützen (was nun einmal vor allem ein Reagieren auf römische Angriffe erforderte) und weitere Städte zum Abfall zu motivieren, konnte Hannibal nicht mehr machen. In diese Situation hätte er aber auch schon früher kommen können, nämlich wenn die Römer an der Strategie von Fabius Maximus festgehalten hätten. Hannibal war darauf angewiesen, dass sich ihm die Römer zur Schlacht stellten und dass Städte zu ihm überliefen. Beides konnte er nur sehr bedingt beeinflussen. Wenn es für ihn ganz blöd gelaufen wäre, hätten die Römer schon in den ersten Jahren Schlachten vermieden, dann wären auch noch viel weniger Städte von den unbesiegten Römern abgefallen. Nur weil sich die Römer anfangs (meist) so verhielten, wie es in Hannibals Konzept passte, konnte es anfangs für ihn gut laufen, was im Nachhinein zu der Vorstellung verführen mag, er hätte alle Fäden in der Hand gehalten.