1989/90 - Zeitzeugen der Wende

flitzpiepe

Mitglied
1989/90 Zeitzeugen der Wende

hej,

eine große lokalzeitung im nordosten bringt derzeit eine reihe zeitzeugenberichte von 1989/90. das will ich mal aufgreifen und hier anregen. (meinen zeitzeugenbericht brachte sie bisher übrigens nicht. ist auch heute nicht jede meinung erwünscht?)

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Eine Tüte Salzstangen –

oder: Die Wende aus einer anderen Sicht

Die DDR habe ich nur als Kind und Jugendlicher erlebt. So kann ich eigentlich nicht viel Schlechtes sagen. In meiner Familie und Verwandtschaft arbeitete fast jeder beim Staat (Lehrer, Polizei, Armee, Rat der Stadt, Staatsicherheit), so hörte ich auch kaum Schlechtes über die DDR. Nur mein Opa, der war auf die DDR nicht gut zu sprechen. Der sagte einmal zu mir: "Unter Hitler war es besser!", aber auch der meinte damit eigentlich nur die Versorgungslage.

Was ich selber bemerkte, waren gewisse Unterschiede zwischen den Kindern. Die einen hatten Westverwandtschaft, die anderen nicht. Die mit Westverwandtschaft hat man immer irgendwie beneidet: Die hatten die besseren Klamotten, die neuesten technischen Produkte, die leckersten Süßigkeiten und die schöneren Plastetüten, die man als älterer Schüler anstelle seines Ranzens benutzte. Manche, so erzählte man sich, hatten so enge Westkontakte, die kauften sogar ihr Toilettenpapier im „Intershop“. Ich bekam einmal von meinem Bruder eine D-Mark geschenkt. Als Wiedergutmachung, nachdem wir uns gestritten hatten. Davon kaufte ich mir im Intershop eine Tüte Salzstangen. Die aß ich so gern und die gab es so selten!

Als die DDR zusammenbrach, war ich gerade bei der Armee. Ich leistete meinen Wehrdienst ab. Das war an der Grenze. Den Schießbefehl kannte ich also. Wir sollten zuerst zum Stehenbleiben aufrufen, dann in die Luft schießen, dann gezielt auf die Beine. Wehe uns, so hieß es immer, derjenige käme zu Tode. Dann gäbe es eine große Untersuchung, ob das wirklich notwendig gewesen war und man den „Republikflüchtigen“ nicht hätte anders stoppen können. Aber das war schon ziemlich am Ende der DDR. Früher mag es anders gewesen sein. Das kann ich nicht beurteilen.

1989 häuften sich allmählich die Demonstrationen von Bürgern im Süden der DDR. Man erzählte sich, dass Autofahrer aus den Nordbezirken im Süden an Tankstellen nicht bedient worden seien, weil der Norden sich an den Protesten noch nicht beteiligte. Zuerst war es um freie Ausreise nach Westdeutschland gegangen, dann um eine bessere DDR (die Leute skandierten „Wir bleiben hier!“), dann um die Wiedervereinigung („Wir sind ein Volk!“). Als es auch in Rostock zu Demonstrationen kam, wurden wir als "gesellschaftliche Kräfte" hingeschickt, um daran teilzunehmen. Unser Auftrag war aufzupassen, dass es zu keinen Ausschreitungen käme.

Bei einer der Demonstrationen durch die August-Bebel-Straße, am Gebäude der Staatssicherheit vorbei, wurde das fast notwendig. Es wurde zu dieser Zeit noch von Wachsoldaten beschützt. Aus der Menge grölten ein paar Leute, als sie an ihnen vorbeizogen: „Hängt sie auf!“ und ich hatte einen Moment lang wirklich Angst, die Demonstration könnte furchtbar enden, denn die Wachsoldaten würden das doch nicht einfach mit sich machen lassen. Wenn die dann zur Waffe greifen würden?! Zum Glück kam es nicht dazu! Die besonnenen Kräfte auf beiden Seiten behielten die Oberhand! Dass die Wende friedlich verlief, ist auch ein Verdienst des Einsatzes der sogenannten „gesellschaftlichen Kräfte“.

Was ich damals merkwürdig fand, waren die Zeitungsmeldungen. Bei der größten Demonstration in Rostock zählte die eine Zeitung 40.000 Teilnehmer; eine andere aber nur 20.000. Wie konnte man 20.000 Menschen zuviel oder zuwenig sehen? Wer hat eigentlich die Demonstranten gezählt, dachte ich damals? Ich stellte mich einmal an den Straßenrand zählte grob (10, 20, 30 …). Bei ca. 7000 hörte der Zug auf. Die Zeitung schrieb 20.000. Doch selbst wenn es bei der größten Demonstration in Rostock 40.000 gewesen waren, heißt das ja, rund 200.000 Rostocker waren zu Hause geblieben. Auf welcher Seite standen die eigentlich?

Im November oder Dezember fand in Rostock auch eine Kundgebung der SED für eine Reform der Partei und einen besseren Sozialismus statt. Viele waren nicht gekommen. Die Zeitungen schrieben von etwa einigen Hundert oder einigen Tausend Leuten. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich hatte auch nur aus der Ferne zugeschaut. Ich hatte Angst, dass ein Bild von mir in der Zeitung erscheine und ich dann Ärger bekäme. Als die Wende schon vollzogen war und die ersten freien Wahlen vorüber, fingen auch die Mieten an zu steigen. Eine oder alle Rostocker Wohnungsgenossenschaften riefen zu einer Demonstration auf. Ich studierte zu dieser Zeit bereits und verließ das Seminar, um an dieser Demonstration teilzunehmen. Ich wunderte mich, dass niemand mitkam und ich war enttäuscht, wie wenige an dieser Demonstration teilnahmen. War das den Leuten so egal? Heutzutage ist es ja normal, wenn man ein Drittel seines Einkommens für die Miete ausgeben muss. Oft genug bekommt man eine Wohnung gar nicht, wenn man nicht mindestens das dreifache Nettoeinkommen hat. Wie machen das manche Leute in manchen Berufen, frage ich mich. Es geht wohl nur zu zweit?!

Als ich das erste Mal in den Westen fuhr, fuhr ich mit dem Schiff nach Travemünde. Da ich offiziell noch Armeeangehöriger war, hatte ich Angst vor der Grenzkontrolle. Warum ich die Illusion hatte, dass man nicht kontrolliert wird, wenn man mit dem Schiff "rüberfährt", weiß ich nicht. Jedenfalls passierte mir nichts. Von den 100 Mark Begrüßungsgeld kaufte ich mir erst mal nichts weiter - außer einer Tüte Salzstangen. Die aß ich so gern und die gab es in der DDR so selten. Im Sommer dann kam die Währungsreform und über Nacht waren die Läden voll und bunt. Ich kaufte mir fast jeden Tag Jogurt und Mars, aber nach 3 Wochen hatte ich mich daran sattgegessen. Es vergingen bestimmt 10 Jahre, bis ich mir wieder mal Jogurt und Mars gekauft habe.

Wenn ich jetzt zurückblicke, vermisse ich die DDR? Was ich jedenfalls nicht vermisse, ist eine gewisse „geistige Enge“. Ich kann es nicht beschreiben, es ist so ein Gefühl: Es gab irgendwie auf alles immer nur eine mögliche Antwort. Wer anders dachte oder fühlte, war im Unrecht und wurde zur Rechenschaft gezogen. "Was hast du denn für eine Einstellung?", fragte mich mein Vater oft, wenn ich es wagte, die offizielle Linie der Partei in Frage zu stellen und ich wunderte mich, dass er zufälligerweise immer auch gerade so denkt, wie die Staats- und Parteiführung. Jetzt genieße ich es, äußern zu können, was ich will, ohne fürchten zu müssen, dadurch Probleme zu bekommen. Eine gewisse „geistige Enge“ empfinde ich bei manchen Leuten heute allerdings immer noch und ich finde das sehr unangenehm. Manchmal glaube ich, ich wäre mit der DDR schnell aneinander geraten, wenn ich sie länger erlebt hätte.

Was ich vermisse, ist ein gewisser menschlicher Zusammenhalt. Die Menschen in der DDR waren irgendwie „näher beieinander“ – nicht nur, was ihren Verdienst anbelangt. Nach der Wende sind einige schnell sehr reich geworden, andere sind quasi verarmt. Die „Besserverdienenden“ wohnen jetzt in ihren eigenen Vierteln oder Siedlungen in der Nähe der Stadt; in manchen Stadtteilen Rostocks hingegen konzentriert sich das soziale Elend und niemand zieht gerne dorthin. Hartz IV hat diese Tendenz noch verstärkt. Vielen geht es gut, solange sie eine Arbeit haben, aber eine Garantie, dass der Lebensstandart bleibt, den man sich erarbeitet hat, gibt es nicht. Morgen schon kann alles vorbei sein, wenn deine Firma pleite geht und du schon zu alt bist, um etwas Neues zu finden oder zu erlernen. Manchen geht es schlecht, obwohl sie eine Arbeit haben, weil die Bedingungen dort so mies sind. Es zählt nur die Rendite. Mein Chef sagt, mit Anrufern, die uns „keine Kohle bringen“, solle ich nicht so lange telefonieren („Danke. Gerne. Tschüß!“) Und es gibt sogar Leute, die verdienen ihr Geld damit, andere übers Ohr zu hauen. Können die ihren Kindern noch guten Gewissens in die Augen schauen?

Über deinen Lebensweg entscheidet ganz erheblich, als wessen Kind du geboren bist. Vielleicht hast du Glück und deine Mutter ist Queen Elisabeth oder dein Vater wenigstens ein Manager oder ein Abteilungsleiter oder ein höherer Beamter. Dann musst du dir keine Sorgen machen. Die Welt steht dir offen. Vielleicht hast du Pech und deine Eltern sind Hartz-IV-Empfänger. Dann wirst du wahrscheinlich auch einmal Hartz-IV-Empfänger sein und deine Kinder ebenso. Du wirst nicht wählen gehen, weil es dich nicht interessiert und du dir nichts davon versprichst und du wirst nicht reisen können, weil du das Geld dafür nicht hast. Und dann denke ich daran, wie das vor 20 Jahren war: Da waren doch die Leute in der DDR auf die Straße gegangen, um frei wählen und um reisen zu können?! Und nun tun es so viele gar nicht.

Früher gab es das Volkseigentum, doch irgendwie hat man nichts davon bemerkt. Es war eher ein Staatseigentum und der Staat, das war die Parteiführung, nicht das Volk. Deshalb haben sich die Leute wohl auch nichts daraus gemacht, aus den Betrieben mitgehen zu lassen, was nicht niet- und nagelfest war. Was einem nicht gehört, das ist einem auch nichts wert! Ich glaube, das ist auch heute so. Nachbarn prozessieren gegeneinander, weil das Laub aus dem Garten des einen in den Garten des anderen hinüberweht, aber sie parken ihre Autos auf den Rasenflächen vorm Haus. Der Staat schützt jetzt das Eigentum des Einzelnen mehr als früher. Die Gesellschaft baut darauf auf – seit Jahrhunderten, wenn nicht schon seit Jahrtausenden. Straftaten diesbezüglich werden strenger geahndet als Körperverletzungen, heißt es. Manchmal frage ich mich, wem hat eigentlich der Erste, der ein Stück Land erwarb, dieses abgekauft?

-flitzpiepe-
 
Hallo flitzpiepe, sei gegrüßt! :winke:
Ein schöner Artikel.
Ich musste erst mal nachdenken und meine, anders hätte ich auch nicht gedacht. Dann habe ich ihn nochmal gelesen.
Dein Dilemma ist, dass du zu dieser Zeit gerade deinen Grundwehrdienst und ausgerechnet an der Grenze abgeleistet hast. Auch ist deine Erziehung auf Grund der Berufe in deiner Familie in die "richtige Richtung" gegangen. Du bist sozusagen politisch unbedarft in die Ereignisse der Wende gefallen und musstest dich dort zurecht finden. Das ist sicher eine grundlegende Erfahrung gewesen.
Ich weiß ja noch aus meiner Armeezeit anfang der 70er Jahre, wie man da auch ideologisch auf den Klassenfeind BRD abgerichtet wurde. Und bin in meinem innersten nur dankbar, dass ich nicht an der Grenze, sondern mitten im Erzgebirge meinen Infantriedienst ableisten musste, ohne Gefahr zu laufen, einem Grenzverletzer zu begegnen.


Sehr originell und informativ hast du deine Erlebnisse in DDR beschrieben, aus eigener Erfahrung kann ich dir deine Ehrlichkeit nur bestätigen. Zum Klopapier kann ich nur sagen, weit früher - als es noch gar kein Toilettenpapier gab - hing bei uns immer eine Ausgabe der "WOCHENPOST" am Nagel in der Wand. Da hatte man gleich die nötige Lektüre zur Hand.:fs:

Ich finde es gut, wie du dich mit solcher Herzlichkeit in diesem Artikel in diesem Forum einführst. So was ist immer wertvoller, als gedankenloses Herunterbeten und Verlinken von Fakten.

MfG segula
 
Hallo flitzpiepe, sei gegrüßt! :winke:
Ein schöner Artikel.
Ich musste erst mal nachdenken und meine, anders hätte ich auch nicht gedacht. Dann habe ich ihn nochmal gelesen.
Dein Dilemma ist, dass du zu dieser Zeit gerade deinen Grundwehrdienst und ausgerechnet an der Grenze abgeleistet hast. Auch ist deine Erziehung auf Grund der Berufe in deiner Familie in die "richtige Richtung" gegangen. Du bist sozusagen politisch unbedarft in die Ereignisse der Wende gefallen und musstest dich dort zurecht finden. Das ist sicher eine grundlegende Erfahrung gewesen.
Ich weiß ja noch aus meiner Armeezeit anfang der 70er Jahre, wie man da auch ideologisch auf den Klassenfeind BRD abgerichtet wurde. Und bin in meinem innersten nur dankbar, dass ich nicht an der Grenze, sondern mitten im Erzgebirge meinen Infantriedienst ableisten musste, ohne Gefahr zu laufen, einem Grenzverletzer zu begegnen.


Sehr originell und informativ hast du deine Erlebnisse in DDR beschrieben, aus eigener Erfahrung kann ich dir deine Ehrlichkeit nur bestätigen. Zum Klopapier kann ich nur sagen, weit früher - als es noch gar kein Toilettenpapier gab - hing bei uns immer eine Ausgabe der "WOCHENPOST" am Nagel in der Wand. Da hatte man gleich die nötige Lektüre zur Hand.:fs:

Ich finde es gut, wie du dich mit solcher Herzlichkeit in diesem Artikel in diesem Forum einführst. So was ist immer wertvoller, als gedankenloses Herunterbeten und Verlinken von Fakten.

MfG segula


hallo segula,

mir fällt gerade auf, dass ich dir noch gar nicht für deine netten worte gedankt habe! will ich hiermit nachholen.

gruß!
 
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