Ich habe immer mehr den Eindruck, daß Deine Perspektive aus einer religiösen Vorstellungswelt kommt, die für Außenstehende kaum nachvollziehbar ist. Eigentlich dachte ich, wir könnten uns darauf verständigen, daß Naturgesetze Theorien sind, die von Menschen erdacht wurden, um sich auf Beobachtetes einen Reim zu machen, doch bin ich mir da jetzt nicht mehr ganz sicher:
Jede Religion enthält Theorien, die von Menschen (?) erdacht wurden, um sich auf Beobachtungen einen Reim zu machen....
Doch ich fürchte auch, dass wir aneinander vorbeireden. Sollte ich denn der Erste oder Einzige sein mit der Behauptung: "(Natur)wissenschaft ist eine (Ersatz-)Religion." ?
Ich habe heute Nachmittag keine Zusammenfassung mit dem Titel: "Woran ein Naturwissenschaftler eigentlich glaubt" o.ä. gefunden (Die gibt's ganz sicher! Übrigens wäre dies ein nicht uninteressantes
historisches Thema. )
Hier deshalb eine kleine persönlich gefärbte Aufstellung "Naturwissenschaftliche Dogmatik"; manche Naturwissenschaftler glauben natürlich an mehr, manche an weniger
Diese Liste ist m.M. nach in keinster Weise trivial oder natürlich, sondern hat sich nach langen Auseinandersetzungen so ergeben. Die Mehrzahl aller
Menschen wird die hier erwähnten Glaubenssätze wahrscheinlich sogar bezweifeln! Ich habe die Aussagen vom Allgemeinen zum speziellen aufgestellt...
(1) Alle Vorgänge in der Welt sind grundsätzlich von Menschen begreifbar.
Dieser Glaube wendet sich gegen den "unbegreifbaren Gott" ("totaliter aliter") aber auch gegen Sokrates ("Ich weiß, dass ich nichts weiß"). Sozusagen eine Kombination von griechischem "Kosmos" und "Renaissancemensch".
(2) Die Welt ist im Prinzip einfach.
Dies mag rätselhaft klingen, weil die Welt auf den ersten Blick gar nicht einfach aussieht. Insbesondere in der Biologie treffen wir sogenannte "Lebewesen", die offenbar willkürliches Verhalten zeigen. Die Versuche, solches Verhalten auf "einfache" Wurzeln zurückzuführen, ist immer wieder gescheitert. Man trennte die Welt deshalb gelegentlich in "belebte" und "unbelebte" Bereiche. Die heutige Sprechweise bevorzugt eine Unterteilung zwischen "einfachen Systemen" (Physik) und "komplexen Systemen" (Biologie, Geowissenschaften, Informatik, Soziologie). Die besonderen Erscheinungen in "komplexen Systemen" sind (nur) ein "emergenter Effekt".
(2a) Eine beliebte Häresie unter Naturwissenschaftlern ist die Variante: "Die
unbelebte Welt ist im Prinzip einfach." Die Häresie besteht in der Ausgrenzung des belebten Bereichs.
(3) Alle Vorgänge in der Welt sind im Prinzip deterministisch.
Das klassische Experiment sieht so aus: Man stellt einen definierten Anfangszustand her, und das Resultat fällt zu allen Zeiten und an allen Orten gleich aus. Dies ist jedoch nur in einer kleinen Zahl - und für den "Normalmenschen" meist eher irrelevanten - Situationen möglich. In nahezu allen als bedeutsam und wichtig empfundenen Situation kann entweder der
Anfangszustand gar nicht reproduziert werden, oder die Ergebnisse fallen dennoch unterschiedlich aus ("chaotische Systeme")
(3a) Eine heute beliebte Einschränkung dieses Glaubens berücksichtigt die
Heisenbergsche Unschärfe: "... bzw gehorchen im Gültigkeitsbereich der
Quantenmechanik einer definierten statistischen Verteilung".
(4) Alle Vorgänge in der Welt können auf elementarer Ebene inkrementell-kausal beschrieben werden.
Dies ist keineswegs das einzig mögliche verbreitete Erklärungsmodell! Ursache und Wirkung kann in vielerlei Weise ausgedrückt werden, z.B. teleologisch (d.h. etwas geschieht, damit ein bestimmtes Ziel erreicht wird). Auch verschiedene Fernwirkungstheorien sind populär ("Und als meine Mutter in Amerika starb, habe ich das hier ganz deutlich gespürt! Es war genau 13:20!"). Die meisten Menschen sind - im Gegensatz zu Naturwissenschaftlern - auch bereit, Ereignisse "aus heiterem Himmel" zu akzeptieren.
Allerdings fühlen sich auch Naturwissenschaftler vom Rätselhaften angezogen. EPR ist ein heute sehr aktuelles Thema (Einstein-Podolski-Rosen Effekt, Quantenteleportation,..)
(5) Die Vorgänge in der Welt können durch eine kleine Anzahl von gegenseitig unabhängigen und unverletzlichen Regeln ("Naturgesetze") beschrieben werden.
Die Deutung eines beobachteten Sachverhalts besteht dann in der logischen und nachvollziehbaren Anwendung dieser Regeln. Es gibt auch viele Regeln, die keine Naturgesetze ("first principles") sind, sondern sich deduktiv aus ihnen ableiten. Z.B. ist der berühmte 2. Hauptsatz der Thermodynamik kein Naturgesetz, sondern eine besondere Anwendung des mathematischen(!) Gesetzes der großen Zahlen auf ein Vielkörpersystem.
(6) Diese Naturgesetze sind in mathematischen Formeln fixierbar
Eine bis vor 100 sehr beliebte - eher fundamentalistische - Variante heißt:
(6a) "Naturgesetze sind in Form von partiellen Diffrenzialgleichungen 2. Ordnung formulierbar."
(7) In der Welt gelten gewisse Erhaltungssätze, nämlich für: Energie, Impuls, Drehimpuls, elektrische Ladung, Fermionenladung, Baryonenladung.
Dies klingt etwas klein kariert. Und ist auch erst langsam in den letzten 300
Jahren erarbeitet worden. Es ist die Konkretisierung von Anaximander: "Von nichts kommt nichts." Aber ein Physiker, der nicht hieran glaubt, steht vor einem Scherbenhaufen: Er müsste ein vollständig neue Art von Physik erfinden.
(8) Naturwissenschaftler besitzen einen "priesterlichen" Verhaltenskodex, was "Forschungsergebnisse" anbetriff; diese:
- sind mit größtmöglicher Sorgfalt zu erstellen
- sollten nicht voreilig publiziert werden
- dürfen nicht absichtlich verfälscht werden
- sind der Weltöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen