Ein paar Thesen und Gedanken zu einem komplexen und komplizierten Thema. Bei der Wahrnehmung einzelner Stränge der Historiographie drängt sich mir in letzter Zeit die Frage auf, in welcher Art die Interaktion von ideologischer Bewertung eines Themas ist und die damit zusammenhängende methodische Bearbeitung eines Gegenstands.
Ausgelöst wurde es durch die Diskussion über die „Revision der Revision“ des Stalinismus.
Es scheint derzeit einen zunehmenden Trend in der Historiographie zu geben, auf die Rekonstruktion von historischen Konstellationen im Rahmen eines kulturellen, kommunikativen Paradigmas (Schütz, Mead, Goffmann, Berger und Luckmann u.a.) abzustellen. Aktuell beispielsweise auch bei so unterschiedlichen Themen wie von Young: Japan`s Total Empire oder auch Neitzel & Welzer: Soldaten, zu finden.
In diesem Kontext sind Analysen angesiedelt, die sich mit der Analyse der Sowjetunion beschäftigen, die ebenfalls auf dieses Paradigma abstellen und damit nicht nur neue Einsichten erzeugen, sondern auch die Frage einer Revision der Forschungsansätze aus dem Kontext des Kalten Krieges aufwerfen.
Für diese methodisch neue Form der historischen Analyse der Sowjetunion können aktuell (seit den siebziger Jahren), so zumindest meine beschränkte Sichtweise, zwei zentrale Bereiche identifiziert werden. Zu einen betrifft es die stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre im Rahmen einer „kulturellen Deutung“, ihre Dynamik und ihre Ursachen. In diesem Kontext sind beispielsweise die Arbeiten von Getty, Thurstone, Stites, Tucker und anderen angesiedelt. Und zum anderen betrifft es die Erklärung der sowjetischen Sicherheitspolitik von Lenin bis Gorbatschow im Rahmen des „Strategic Culture Paradigm“, auch die Periode vor dem Zweiten Weltkrieg, wie beispielsweise in den Arbeiten von Snyder, Heikka und den Beiträgen im Reader von Jacobsen deutlich wird (vgl. Links).
Für beide Bereiche lassen sich mehr oder minder deutliche Konfrontationsmuster zu dem „traditionellen“ Interpretationsmuster, dessen Sichtweise m.E. noch stark durch den Kalten Krieg geprägt ist, finden.
Erstaunlicherweise ist eine weitgehende Übereinstimmungen in der Bewertung der jeweiligen Bereiche vorhanden und auch von Seiten der sogenannten „Revisionisten“ (bezogen auf die stalinistischen Säuberungen) bzw. im Fall der Außenpolitische Doktrin der „Realisten“ werden keine Versuche einer Relativierung der stalinistischen Verbrechen oder seiner offensiven politischen Intentionen vorgenommen. Der zentrale Unterschied betrifft die methodische Sichtweise und damit die Offenlegung der Prozesse im Kreml.
In diesem Sinne wird versucht, die Dynamik der damaligen historischen Situation zu rekonstruieren und Stalin, im Gegensatz beispielsweise zu Naimark oder Baberowski, nicht als isolierten, dämonischen Paranoiker zu präsentieren. Vielmehr Stalin, wie Getty es m.E. zutreffend formulierte, die Nomenklatura des Politbüros bzw. des Zentralkomitees prägte und beeinflußte und diese wiederum kollektiv Stalin prägten, wie beispielsweise auch dieser Prozess bei Chlevnjuk beschrieben. Verbunden ist damit nicht die Entlastung der Verantwortung von Stalin für viele Entscheidungen, allerdings wird für diese Periode!! die These von einer vollständigen Alleinherrschaft Stalins relativiert.
Vor diesem Hintergrund ergeben sich gemeinsame Muster der Definition von „Sicherheit“ und ihrer Analyse. Sofern also das kulturelle Paradigma trägt, ergeben sich starke Beziehungen zwischen der individuellen Sicherheit, so wie Stalin sie für sich definierte, und der kollektiven Sicherheit, so wie sie die Nomenklatura, also im Wesentlichen die Protegés und Gefolgsleute Stalins, für sich individuell und als Gruppe definierten.
In einem Akt der Universalisierung der individuellen Werte war diese zentrale politische Elite mit Beginn der dreißiger Jahre in der Lage, ihre spezifischen Sicherheitsinteressen als „Nationale Interessen“ der Sowjetunion zu definieren. Teils erleichtert durch die auf Lenin zurückgehende Interpretation der aggressiven Absichten der kapitalistischen Länder und wesentlich auch durch die zunehmende Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland.
Aus der Definition des „Nationalen Interesses“ wird in einem weiteren Schritt der Universalisierung eine Definition der „“Nationalen Sicherheit“ vorgenommen und aus ihr die spezifischen Planungen im Rahmen der Außen- und Militärpolitik, der Fünfjahrespläne und auch im Rahmen der Inneren Sicherheit abgeleitet. Im Ergebnis folgte daraus eine defensive Außenpolitik in Kombination mit einer aggressiven Militärdoktrin und nach innen die Bekämpfung aller politischen Kräfte, die nicht eindeutig stalinistisch ausgerichtet waren oder sich strukturell auf einem anderen Kurs bewegten, wie der stalinistische „Modernisierungs- bzw. Industriealisierungskurs“ es vorgab. Und im „Holodomor“ ihren Anfang und den Säuberungen von 1937 ihren vorläufigen Höhepunkt fanden.
Neu an dieser analytischen Sichtweise ist die „Entdämonisierung“ des Analysegegenstands, da die zentralen politischen Akteure im Rahmen ihrer subjektiven Wertehorizonte durchaus rationale Interessenvertretung betrieben haben. Das „Ernst“ nehmen der „subjektiven Welten“, in denen sich die Nomenklatura bewegte. Ohne dennoch die Distanz zu verlieren.
Das letztlich ungeheuerliche Resultat ihrer Handlungen sollte man durch eine präzise Analyse offen legen und nicht durch die Anlehnung an das Vokabular der forensischen Psychiatrie. Verbrechen kann man beschreiben, indem man sie „transparent“ macht, wie Kogon es eindrucksvoll demonstriert hat.
selektive Beispiele
Jacobsen:
Strategic power: USA/USSR - Carl G. Jacobsen, Ken Booth, David R. Jones - Google Bücher
Heikka:
http://www.bits.de/EURA/heikka.pdf
Snyder:
http://www.rand.org/pubs/reports/2005/R2154.pdf
Getty
The Road to Terror: Stalin and the Self-Destruction of the Bolsheviks, 1932-1939 - J. Arch Getty, Oleg V. Naumov, Benjamin Sher - Google Bücher
Stites
Revolutionary dreams: utopian vision and experimental life in the Russian ... - Richard Stites - Google Bücher
Baberowski
Der rote Terror: die Geschichte des Stalinismus - Jörg Baberowski - Google Bücher
Naimark
Stalin's genocides - Norman M. Naimark - Google Bücher
Chlevnjuk
Das Politbüro: Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der ... - Oleg V. Chlevnjuk - Google Bücher
Kogon
Der SS-Staat: das System der deutschen Konzentrationslager - Eugen Kogon - Google Bücher