Der Knackpunkt bleibt also weiterhin die Definitionsfrage, was unter einer Stadt zu verstehen sei.
Die Formalität Stadtrecht hilft da nicht, weil die später eingeführt wurde, als man schon eine klare Vorstellung von "Stadt" hatte.
Persönliche Freiheit der Bewohner ist auch nicht das entscheidende Kriterium, das hat timotheus gezeigt.
Die von Balticbirdy genannte Stadtbefestigung ist m. E. auch kein echtes Kriterium - es gab unbefestigte Städte und befestigte Dörfer.
Und schon gar nicht kann ich bei "Identität und Selbstorganisation" zustimmen - die sind auch bei Dörfern m. E. schon ganz früh stark vorhanden.
Ich sehe drei wesentliche Kriterien:
1.) Service für das Umland.
"Service" mal recht allgemein gehalten, dazu gehören Roveres Stichworte "arbeitsteilige Gesellschaft, Geldwirtschaft, Warenumschlag" oder Balticbirdys "überregionaler Handelsplatz / administrative Strukturen / Vorhandensein spezialisierter Handwerker".
Ich würde noch Funktionen wie Gerichtsbarkeit, Politik, Bildung oder Kultur nennen.
Wobei natürlich selten alle diese Aspekte erfüllt sind.
Aber wichtig ist eben, daß die Stadt nur mit einem Umland denkbar ist, dem sie Funktionen anbietet (auch Städte mit überregionaler Bedeutung / Fernhandel haben erst einmal ein regionales Umland).
Die Umlandbewohner kommen in die Stadt, um dort zu handeln, weltlichen oder religiösen Spektakel mitzuerleben, eine Schule zu besuchen etc.
Demgegenüber ist ein Dorf eigentlich nur auf sich selber bezogen. Es muß vielleicht Steuern oder Spanndienste nach außen liefern, aber das ist nicht wesentlich, das Dorf käme natürlich auch ohne diese Außenkontakte aus (sogar besser ;-).
Wo Dorfbewohner nicht als selbstversorgende Bauern tätig sind (Schmied, Müller, Pfarrer ...), sind sie im wesentlichen auch nur für das Dorf tätig. Wenn über einem gewissen Maß solche Tätigkeiten auch für Nachbardörfer angeboten werden, ist das Dorf schon auf dem Weg zur Stadt.
2.) Größe
Das wurde bisher gar nicht genannt (auch weil frühe Städte nach unseren Maßstäben gerade zu ärmliche Bevölkerungszahlen hatten).
Aber während ein Dorf eine natürlich Obergröße (abhängig vom Landwirtschafts-Standard der Zeit) durch die vom Dorf aus gut erreichbare Landwirtschaftsfläche hat, ist eine Stadt durch die vielen Nicht-Bauern in der Bevölkerung deutlich größer.
Die Größe ist wohl auch das augenfälligste Kriterium für die Zeitgenossen, eine Stadt ist da, wo deutlich mehr Leute wohnen als in den vielen Dörfern.
Und die Bevölkerungszahl unterscheidet die Stadt auch von anderen Zentren, die "Service für das Umland" anbieten, wie einer Wallfahrtskirche oder der Burg eines Gerichtsherrn.
3.) Veränderungsbereitschaft
Zuletzt will ich ein "weiches" Kriterium umschreiben, das ich für die Mentalität der Städter wichtig halte.
Zur Grundidee eines Dorfes gehört eigentlich, daß sich über die Generationen nichts wirklich ändert. Insbesondere leben im Dorf nur Leute, die dort geboren wurden oder einen dort Geborenen geheiratet haben. in der Praxis gibt es natürlich immer wieder auch Zuzügler - aber diese Ausnahmen gehören nicht zum geistigen Konzept "Dorf".
Im Gegensatz dazu gehört zur Grundidee einer Stadt, daß sie wachsen und sich verändern kann. Neue Leute kommen in die Stadt (auch wenn sie nicht unbedingt bald Bürgerrecht bekommen), die Stadt ist grundsätzlich bereit, mit dieser Veränderung und den Folgewirkungen fertig zu werden.
Auch wenn erst später Rechtskonstrukte wie "Stadtluft macht frei" diesen Prozeß formalisierten, gehörte m. E. die grundsätzliche Offenheit für Zuzug von Anfang an zur Idee einer Stadt.
Ein Mensch zieht nicht (oder fast nie) von einem Dorf in ein anderes, auch nicht von der Stadt in ein Dorf - sondern fast immer von einem Dorf in die Stadt.
Mit diesen drei Grundideen möchte ich konkretisieren, was Rovere mit "Worauf ich hinauswollte ist einen wesentlichen Unterschied zwischen den Lebenswelten "Stadt" und "Land" bzw. "Dorf" herauszuarbeiten" meinte.
Und wenn man die als Kriterien akzeptiert, das ist z. b. die Anwesenheit eines Bischofs überhaupt kein Hindernis, sondern hilft sogar beim Kriterium 1.
Und deswegen sehe ich - auf die Ausgangsfrage bezogen - eine ganze Reihe von Städten im frühen Europa, in Deutschland insbesondere anfangs eben die Bischofsstädte / ehemaligen Römerstädte wie Mainz, Köln, Speier, Trier, Worms, Regensburg ...