Wenn ich die Textstelle lese, scheint sie mir allerdings unausgesprochen von der Vorannahme auszugehen, dass es sich bei den Vinča-Zeichen um Schrift handelt und es bei den genannten Untersuchungen nur darum ging zu untersuchen, ob die Einzelzeichen eine morphologische Ähnlichkeit mit der Sumerischen Schrift hätten. Das Ergebnis wäre demnach, dass keine morphologische Ähnlichkeit zur sumerischen Schrift besteht. Falsch ist daraus zu schließen, dass es sich dann um europäische Schrift handeln müsse, da dies ein Zirkelschluss wäre. Bewiesen ist also nur, dass es sich nicht um einen Ableger der sumerischen Schrift handelt, nicht, dass es sich um Schrift handelt.
Wenn du mir anhand des Literaturverzeichnisses noch die einzelnen Titel aufdröseln könntest, bin ich aber gerne bereit mir die genannten Studien anzusehen und mich vielleicht doch davon zu überzeugen, dass es sich bei den Vinča-Zeichen um Schrift handelt.
Das sind die Arbeiten, die Haarmann angibt:
Winn, M. M. (1981), Pre-Writing in Southern Europe: The Sign System of the Vinča Culture, ca. 4000 B. C. Alberta (Canada)
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Winn, M. M. (1986), The Signs of the Vinča Culture: An Internal Analysis; their Role, Chronology and Independence from Mesopotamia. Ann Arbor, Michigan (gedruckte Fassung einer maschinenschriftlichen Dissertation von 1973)
Masson, E. (1984), L’écriture dans les civilisations danubiennes néolithiques, in: Kadmos 23 (1984), 89-123
H. Haarmann (1989b), Hieroglyphen- Linearschriften: Anmerkungen zur alteuropäischen Schriftkonvergenzen, in: Kadmos 28 (1989), 1-6
H. Haarmann (1989c), Writing in Old Europe and Ancient Crete – A Case of Cultural Continuity, in: Journal of Indo-European Studies 17 (1989), 251-277
Hier hat Haarmann einige Argumente dafür, dass es sich um eine Schrift handelt:
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»Es lassen sich etwas mehr als zweihundert individuelle Zeichen unterscheiden, einschließlich solcher Symbole, von denen man annehmen kann, dass sie Zahlenwerte und Maßeinheiten angeben. Eine Anzahl dieser Zeichen finden sich auf dem Boden von Tongefäßen als isolierte Symbole eingeritzt, so dass man sie auf den ersten Blick für Töpfermarken halten konnte (Abb. 29). Dass solche Symbole aber eigentliche Schriftzeichen sind, wir in mehrfacher Hinsicht deutlich. Einerseits treten die isoliert verwendeten Zeichen auch in Kombination mit anderen Symbolen an verschiedenen Stellen auf, beispielweise am oberen oder unteren Rand von Tongefäßen, und auch an deren Außenseite. Diese Kombinatorik von Zeichen in Gruppen sowie ihr Vorkommen an verschiedenen Stellen schließt bereits die Funktion von Töpfermarken aus. […] Ein weiteres Argument für den Schriftcharakter ist das Fehlen beschrifteter Gegenstände an alteuropäischen Siedlungsplätzen, also gerade einer Umgebung, wo die Herstellung von Tonware und die Verwendung von Töpfermarken – dort wo eine solche Tradition besteht – zum Alltagsleben gehört. Alles spricht dafür, dass in den alteuropäischen Regionalkulturen keine Töpfermarken in Gebrauch waren, und dass der kulturhistorische Stellenwert der verwendeten Symbole nur im Schriftgebrauch eine sinnvolle Erklärung findet. Die meisten Inschriften sind kurz und bestehen aus der Kombination einiger weniger Schriftzeichen. Aus dem Umstand, dass Beschriftungen, die nur zwei oder drei Zeichen umfassen, haben einige Forscher die Schlussfolgerung gezogen, dass es sich bei der alteuropäischen Schrift um die entwicklungsmäßige Vorstufe einer eigentlichen schriftlichen Fixierung von Texten handelt. So spricht Winn (1981) von einem Vorläufer der Schrift (pre-writing) und Masson (1984, 123) von einem Vorstadium der Schrift (stade précurseur de Pécriture). Aus verschiedenen Gründen ist eine solche Annahme nicht stichhaltig. Denn bei aller Kürze vieler Beschriftungen darf nicht übersehen werden, dass es auch eine ganze Anzahl längerer Inschriften gibt. « (Haarmann, Harald: Universalgeschichte der Schrift, Sonderausgabe 1998, S. 74ff.)