Das scheint mir der richtige Ansatz zu sein. Durch Aufklärung und Fortschritt geriet das Christentum in eine Krise; mit seinem Drohen und Warnen vor Apokalypse und Höllenstrafen konnte es nicht mehr überzeugen, es verlor an Glaubwürdigkeit. Aber wie es Gilbert Keith Chesterton auf den Punkt gebracht hat: „Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, dann glauben sie nicht an nichts, sondern an alles Mögliche. Das ist die Chance der Propheten – und sie kommen in Scharen.“ Die Menschen wollten nicht aufhören zu glauben, dass noch irgendwo etwas Besseres auf sie warten müsse – etwas, das sie von allem „erlöst“. Diese Hoffnung bedienten Nationalsozialismus und Kommunismus, die beide auf ihre Weise das Paradies auf Erden versprachen. Ihre Stifter und Prediger waren (wie schon die des Christentums und des Islam) getrieben von einer Katastrophenvision und verstanden es, ihre Erregung auf die Menschen zu übertragen, die wiederum den „Heilscode“ in ihrer Sprache erkannten. Als Gott fungierten die „Natur“ (für den Nationalsozialismus) und die „Geschichte“ (für den Marxismus-Leninismus). Die Totalitarismen stiegen zu säkularen Ersatzreligionen auf, auch weil sie die klassisch religiöse Vorstellung übernahmen, mit einem einzigen, „reinigenden“ Blutakt zu einer Totallösung kommen zu können.
Den Versuch, das Paradies auf Erden („Tausendjährige Reich“) zu erzwingen, unternahmen in Mitteleuropa bereits chiliastisch-messianische Bewegungen zwischen dem 11. und 16. Jahrhundert – und bereits sie erklärten den „Juden“ und den „Bourgeois“ („Wucherer“) zum Übel schlechthin (Norman Cohn hat dazu ein herausragendes Buch geschrieben). Diese Fantasien lebten weiter und kehrten dann im 20. Jahrhundert als eine Art säkular-militanter Chiliasmus wieder zurück. Auch in China kannte man chiliastische Vorstellungen (Parusie des „Maitreya“) und auch dort gab es messianische Bewegungen (etwa den Taiping-Aufstand) – deshalb war der Kommunismus in China erfolgreich, weil er sich in diese Tradition einfügte.
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Diese Deutung ist nicht neu und kann aus meiner Sicht durchaus eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, wenn man generelle Tendenzen und Gemeinsamkeiten totalitärer Systeme in den Blick nimmt. Insbesondere wird man wohl schwerlich bestreiten können, dass Nationalsozialismus/ Faschismus und Kommunismus gewisse Elemente einer religiösen Weltdeutung enthielten.
Allerdings scheinen mir bei genauerer Betrachtung einige Lücken aufzutauchen:
- Chiliasmus und religiöse Minderheiten des hohen und späten Mittelalters waren häufig keine einheitlichen Bewegungen und unterschieden sich untereinander sehr stark. Außerdem scheint es wenig wahrscheinlich, dass Vorstellungen, Ideen und Vorurteile gleichsam in den Winterschlaf fallen, um dann plötzlich ein halbes Jahrtausend später wieder aufzutauchen. Außerdem waren die verschiedenen "Häresien" recht stark über Europa verstreut, hatten also keineswegs in Deutschland und Russland einen besonderen Schwerpunkt.
- Der Säkularisierung der Gesellschaft war zu Beginn des 20. Jhdts. in Westeuropa viel stärker fortgeschritten als in Süd-, Mittel- und Osteuropa. demnach hätten dort viel eher Ersatzmechanismen greifen müssen, was aber nicht der Fall war, im Gegenteil: In den (noch) stärker religiös geprägten Gegenden breiteten sich faschistische Ideen offenbar meist stärker aus.
- Die Erfahrung des (Ersten) Weltkrieges mit seiner Gewalt und seiner umstürzenden Wirkung spielt bei einer solchen Deutung ebenso wie der Russische Bürgerkrieg keine Rolle, was mir nicht besonders plausibel erscheint, wenn man bedenkt, welche zentrale Rolle diese für die handelnden Akteure und ihr Weltbild besaßen.
- In gleicher Weise wird im chinesischen Fall die Erfahrung der westlichen und japanischen Vorherrschaft und die dabei verübten Gewalttaten nicht mit einbezogen, obwohl diese für die chinesischen Kommunisten eine zentrale Rolle spielten.
- Dann ist da noch der persönliche Aspekt: Hitler, Stalin und Mao waren ja für die Morde in ihrem Herrschaftsbereich sehr entscheidende Elemente. Insbesondere die Kulturrevolution ist kaum verständlich, wenn man die charismatische Wirkung und das Ansehen Maos bei der Jugend und seine persönliche Sicht von Geschichte ausklammert.
- Und zuletzt unterschieden sich die genannten Regimes auch voneinander. So hat nur das nationalsozialistische Deutschland gezielt auf einen Angriffs- und Eroberungskrieg hingearbeitet, der die (angenommene) Schwäche der anderen Länder ausnutzen sollte, während die SU und China meist eher defensiv und voller Angst vor einem Bündnis gegen sie agierten. Auch der Antisemitismus spielte in sowjetischer Zeit keine zentralere Rolle als während der Zarenherrschaft, von China ganz zu schweigen. Außerdem wurden die Morde in den beiden kommunistischen Ländern eher gegen vermeintliche Regimegegner und "Konterrevoutionäre" verübt, während in Deutschland und den von ihm eroberten Gebieten ethnische Gesichtspunkte den Ausschlag gaben.
Insgesamt wird man die Deutung der totalitären Regimes des vergangenen Jahrhunderts und insbesondere der von ihnen begangenen Verbrechen nicht allein oder vornehmlich auf ihre Rolle als Ersatzreligion beschränken können. Dies mag ein Element ihrer Entstehung und ihrer Struktur gewesen sein, aber wohl kaum das ausschlaggebende.