nach relativ kurzer Zeit saßen einflussreiche Gallier sogar als Senatoren in Rom.
"relativ kurz" ist relativ. Zwischen der Eroberung und der Aufnahme durch Claudius vergingen mehr als neunzig Jahre.
Ich habe den Verdacht, dass diese Personalisierung durchaus begründet war, weil Entscheidungen in den damals gegliederten Gemeinschaften keine irgendwie demokratischen Willensbildungsprozesse existierten und Entscheidungen "von oben nach unten" fielen.
Die Personalisierung war vermutlich insofern begründet, als in vielen Stämmen ein paar mächtige Adlige mit großem Gefolge als Meinungsführer und -bildner fungierten, die die Massen in ihrem Sinne zu lenken versuchten. Nur gab es offenbar normalerweise mehrere davon, die gegeneinander um den Einfluss in der Stammesversammlung rangen.
Die Möglichkeiten der Herrschenden waren nicht absolut, aber sie waren schon recht weitreichend.
Das hing wohl auch bei den Galliern von der Persönlichkeit des Herrschenden ab, vor allem aber davon, wie gut er im Stamm verankert war, wie viel Unterstützung er fand und wie stark die Opposition gegen ihn war. Ich habe schon das Beispiel des Liscus gebracht, der, obwohl formal Herrscher, sich bei den Haeduern nicht durchsetzen konnte. Von Caesar eingesetzte Herrscher hatten, vor allem wenn sie romtreu blieben, oft kein leichtes (und langes) Leben. Informelle Machthaber wie mächtige Adlige waren aber anscheinend auch nicht so mächtig und unangefochten, dass sie den Stamm wirklich lenken konnten.
Bei den Stämmen, die keinen König hatten, sondern ein gewähltes Oberhaupt oder überhaupt eine Art von aristokratischer Führung, scheint es meist einige einflussreiche Adlige gegeben zu haben, die miteinander rivalisierten und die Massen in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchten. Wenn dann einer von ihnen (oder ihre Marionette) formales Oberhaupt wurde, hingen seine Möglichkeiten und seine reale Macht offenbar davon ab, wie groß seine Anhängerschaft war und wie viel Rückhalt er im übrigen Volk hatte bzw. wie gut es ihm gelang, die Konkurrenz kleinzuhalten oder ruhigzustellen. Wenn ein Adliger allzu mächtig wurde oder verdächtigt wurde, nach der Alleinherrschaft zu streben, bekam ihm das oftmals auch nicht gut, siehe Orgetorix und Celtillus.
Bei Stämmen mit Königen scheint der König in der Regel zwar eine stärkere Position gehabt zu haben, vor allem wenn er angestammt war und nicht von Caesar eingesetzt. Aber unantastbar war er offenbar auch nicht, vor allem wenn er eine andere (vor allem romfreundliche) Politik betrieb als es der Mehrheit seines Stammes oder seiner Adligen gefiel (bzw. wenn mächtige Adlige ausnutzen konnten, dass seine Politik von der Stimmung des Volkes abwich, um ihn zu stürzen).
Beispiel: Die Sequaner haben Verträge mit Ariovist geschlossen und ihm ein Drittel ihres Gebiets abgetreten. So ein Vertrag ist nur möglich, wenn die Stammesführung weitreichende Verfügungsgewalt über Grund und Boden hatte. Sie musste in der Lage sein, den ursprünglichen "Besitzern" ihr Land wegzunehmen und - vermutlich - sie irgendwie zu entschädigen (im Sinne von Umsiedelung), was dann wieder in die Besitzverhältnisse anderer Leute eingriff.
Caesar schreibt, dass Ariovist einfach ein Drittel des Sequanerlandes okkupiert habe; zumindest habe Diviciacus das behauptet. Groß gefragt wurden die Sequaner also offenbar nicht.
Das halte ich für einen Trugschluss. Bei den Kelten bildeten die Krieger offenbar eine eigenständige gesellschaftliche Gruppe. Es gab einen Priesterstand, der offenbar sogar stammesübergreifend agierte (mit welchen Befugnissen auch immer). Und es gab ein Rechtssystem mit "Werkzeugen", um abweichendes Verhalten auch individuell zu sanktionieren. Caesar berichtet zum Beispiel, dass die Krieger, die als letzte zu Aufgeboten kamen, hingerichtet werden konnten. Und in seinem ersten Buch schildert er einen "Schauprozess" gegen Orgetorix, in Buch 6 schreibt er über die Folterung von hochgestellten Gallierinnen, die der Beteiligung am Tod ihres Ehemanns verdächtigt wurden. Über die Germanen schreibt Tacitus hingegen mit einem gewissen Erstaunen, dass die "Mächtigen" gerade NICHT das Recht hatten, Strafen zu verhängen.
Die keltische Gesellschaft war sozial sehr viel stärker differenziert als die germanische. Sie bot deshalb mehr Möglichkeiten der Interaktion und hatte notwendigerweise einen höheren Bedarf an Regulierung.
Dass die Gallier eine komplexere Sozialstruktur etc. hatten, bestreite ich nicht. Aber was sagt das über ihre Führung und die Willensbildung im Stamm aus sowie die Möglichkeit, einen Stamm zu kontrollieren? Spaltungen in Parteien, Umstürze, Ränke mächtiger Adliger ... all das konnte nicht vermieden werden. Bei den Germanen fand man das ebenso, trotz ihrer abweichenden Sozialstruktur.
Dass bei den Galliern Machthabern, die wirklich Macht hatten, also fest im Sattel saßen, mehr Möglichkeiten zugestanden wurden, ihre Untertanen gefügig zu halten und abweichendes Verhalten zu sanktionieren, als das bei den Germanen der Fall war, mag gut sein. Das war aber erst der zweite Schritt. Erst einmal mussten sie fest im Sattel sitzen, und das hing anscheinend vor allem davon ab, ob sie sich gegen die Adligen durchsetzen konnten. Wenn das nicht der Fall war, halfen ihnen anscheinend alle ihnen theoretisch zur Verfügung stehenden Macht- und Strafbefugnisse nichts.
Mir ist immer noch nicht klar, inwieweit die komplexere Sozialstruktur die römische Eroberung erleichtert haben soll, also inwieweit sie es erleichtert haben soll, die Stämme niederzuwerfen und/oder zu kontrollieren. Caesar versuchte meist einfach, ihm genehme Personen an die Macht zu bringen, sei es, dass er sie als Könige einsetzte, sei es, dass er ihre Wahl durchsetzte. Zumindest für die von ihm beschriebene Zeit hatte er mit diesen Versuchen nur beschränkt Erfolg: Viele der von ihm Eingesetzten wurden gestürzt, hatten den Stamm nicht im Griff oder fielen gar selbst ab. Besser lief es mit denen, die ohne Caesars Unterstützung Macht hatten, aber auch sie wechselten mitunter die Seite.
Über die Jahrzehnte nach Caesar wissen wir mangels Quellen leider nicht, wie die Stämme kontrolliert und gefügig gehalten wurden, nur dass es immer wieder regionale Aufstände gab, aber nichts über ihre Urheber und Hintergründe. In der Kaiserzeit war Gallien dann weitgehend ruhig. Es gab immer noch mächtige Adlige, die sich aber großteils mit der römischen Herrschaft arrangiert hatten. Warum? Wohl weil sie einfach die Aussichtslosigkeit von Aufständen erkannten. Außerdem beließen die Römer ihnen offenbar ihre soziale Position, soweit es sich mit der römischen Herrschaft vertrug. Der durchschnittliche Adlige hätte durch einen Aufstand vermutlich nur wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren gehabt. Somit fielen die Adligen als Rädelsführer weg und sorgten vermutlich sogar selbst dafür, dass es auch zu keinen "spontanen Volkserhebungen" kam, die auch ihre eigene Position gefährdet hätten. Der Unterschied zu Caesars Zeiten war wohl der, dass jetzt in den einzelnen Stämmen wohl niemand mehr gegen die Römer agitierte, sondern alle Adligen die römische Herrschaft akzeptierten.