Standesunterschiede gab es auch in Rom. Auch dort war der "Plebs" alles andere als gleichberechtigt. Wie viele Gallier in den Senat aufrückten, weiß ich auch nicht. Jedenfalls wurde die neue Provinz nach "relativ kurzer Zeit" nicht anders behandelt als andere Provinzen.
Ich wollte nicht auf die Standesunterschiede, sondern auf das Bürgerrecht hinaus. Dass die gallischen Provinzen schon relativ bald nicht anders behandelt wurden als andere Provinzen (sondern vielleicht sogar besser, wenn man an den Landtag der drei gallischen Provinzen denkt, der als Einrichtung nicht für alle Provinzen nachgewiesen zu sein scheint), ändert nichts am Unterschied zwischen Gallien und Italien.
1.314 und 1.31.10 hattest Du schon erwähnt. In 1.31.10 wird nur gesagt, dass Ariovist das erste Drittel des Landes "besetzt halte" und es wird beklagt, dass er nun ein zweites Drittel fordere. Wie es zur "Besetzung" des ersten Drittels kam, steht (imho!) in 1.32.5. Da erzählt Diviciacus im Namen der wegen ihrer Eide schweigenden Sequaner, dass alle gallischen Stämme wenigstens die Möglichkeit zur Flucht hätten - nur eben nicht die besagten Sequaner, weil die nämlich den Ariovist "in ihr Gebiet aufgenommen" hätten.
Das kann man natürlich im Sinne einer Freiwilligkeit interpretieren. Ich lese allerdings aus dem "recepissent" trotzdem nicht zwingend heraus, dass die "Aufnahme" freiwillig erfolgte.
Aber gut, wirklich klären wird sich das nicht lassen.
Wie maßgeblich der Einfluss der Mächtigen war, ist zweifelhaft. Einen Unterschied sehen wir darin, dass die gallischen Mächtigen erstmal eine Position an der Spitze des Staates einnehmen mussten, um einen Aufstand gegen Rom anzuzetteln oder wieder Frieden zu schließen. Egal wer an der Spitze stand: Er sprach für den ganzen Stamm und legte fest, wie der Stamm sich zu verhalten hatte.
In der Theorie vermutlich ja. Nur in der Praxis war das eben schwieriger, wie das Beispiel des häduischen Vergobreten Liscus zeigt, der sich nicht gegen Dumnorix durchsetzen und daher nicht seine Verpflichtungen gegen Caesar erfüllen konnte. Auch heute können theoretische und reale Macht von Staatsorganen schon mal auseinanderklaffen. Letztlich kommt es aber auf die reale an. Orgetorix auf der anderen Seite scheint kein formales Stammesoberhaupt gewesen zu sein und konnte trotzdem seinen Willen durchsetzen.
Es geht mir darum, dass bei den Galliern in der politischen Praxis an den mächtigen Adligen offenbar kein Weg vorbeiführte: Wenn der mächtigste Adlige selbst (gewähltes oder erbliches) Stammesoberhaupt war und seine Konkurrenten niederhalten konnte, dann konnte er wohl tatsächlich für den ganzen Stamm sprechen und dessen Verhalten festlegen. Wenn es allerdings mehrere konkurrierende mächtige Adlige gab, dann hatte das formale Stammesoberhaupt häufig ein Problem - und dann wurde der ganze Stamm für Caesar zum Unsicherheitsfaktor, weil sich nicht vorhersagen ließ, wie sich die stammesinternen Machtkämpfe weiter entwickeln würden - und ob der Stammesführer seine Verpflichtungen gegenüber den Römern im Stamm wirklich durchsetzen könne.
Das relativiert dann aber auch die (vermeintlich) leichtere Eroberbarkeit/Beherrschbarkeit Galliens aufgrund seiner Gesellschaftsstruktur.
In Germanien dagegen konnte sich der eine Mächtige für Rom erklären, ein anderer dagegen. Beide fanden Anhänger. Prominentestes Beispiel dafür sind die Cherusker: Eine Fraktion des Stammes blieb Rom treu, eine andere Fraktion hat gleichzeitig Legionäre niedergemacht.
Dann war der Unterschied zwischen Galliern und Germanen Deiner Meinung nach also der, dass bei den Galliern erst einmal die Adligen im Stamm um die Macht kämpften und der Sieger dann das Verhalten des ganzen Stammes bestimmte (zumindest bis zum nächsten Umsturz), während bei den Germanen Stämme geteilt agieren konnten, jeder mächtige Adlige mit seinem Anhang für sich?
Grob gesprochen könnte das hinkommen, wenngleich wir nicht wissen, wie geschlossen die Stämme in Gallien wirklich agierten; ich verweise dazu vor allem auf die Beiträge von beorna. Außerdem bleiben natürlich Fälle wie der von Liscus, in denen sich das Stammesoberhaupt in seinem Stamm nicht durchsetzen konnte und der Stamm gelähmt war. Auch sonst könnte ein Teil eines Stammes (also die Adligen und ihr Anhang, die mit der offiziellen Stammespolitik nicht einverstanden waren) sich zumindest passiv oder gar sabotierend verhalten haben, man denke an Dumnorix.
Und Tacitus berichtet weiter, dass niemand an das gebunden war, was die "Könige" oder "Adeligen" oder Angehörigen sonstiger Eliten vor der Volksversammlung gesagt haben. Wenn die "Mächtigen" gesprochen hatten, konnte das Volk Beifall zollen - oder auch nicht. Das Volk hatte die Wahl, welcher Fraktion es sich anschließen wollte. Und erst wenn jemand in der Volksversammlung Gefolgschaft zugesichert hatte, galt es als "Fahnenflucht", wenn er dann diese Zusage nicht einhielt.
Der Unterschied in den Beschreibungen römischer Autoren ist schon eklatant: Caesar schreibt, die "freien" Gallier der Unterschicht würden fast wie Sklaven wirken. Tacitus dagegen schreibt, die germanischen Sklaven würden fast wie freie Pächter erscheinen. Allein daraus lese ich schon ab, dass die gallisch/oppida-keltische Gesellschaft sehr viel "hierarchischer" aufgebaut war als die germanische.
Ja, das sehe ich auch so.
Doch was war wirklich? Die Sequaner hatten Ariovist zu Hilfe gerufen, um sich gegen Häduer im Kampf um die Zölle am Arar durchzusetzen und wie es scheint, waren die Sequaner dort erfolgreich. Merkwürdig erscheint allerdings, das der Häduer Dumnorix anscheinend diese Zöller kontrollierte und ein freundschaftliches Verhältnis mit den Sequanern pflegte. Diviciacus hingegen hatte um Beistand in Rom gebeten. Handelte es sich daher wirklich um einen Häduisch-Sequanischen Konflikt oder waren die Seiten durchaus gemischter?
Dumnorix erscheint doch öfters als Abweichler von der offiziellen häduischen Stammespolitik. Da die Häduer bei Magetobriga eine schwere Niederlage erlitten hatten und danach entsprechend geschwächt (und ihre damalige Führung wohl Geschichte) waren, ist naheliegend, dass Dumnorix das nutzen konnte, um die Führung der Häduer zu übernehmen und dann eine sequanerfreundliche Politik zu betreiben. Das (vor allem dass er anscheinend die Abtretung eines Teils des Häduerlands an die Sequaner akzeptierte) passte aber natürlich nicht allen, vor allem nicht seinem Bruder Diviciacus, der sich nach Rom begab.
Einen Widerspruch zu Caesars Darstellung sehe ich nicht.
Rom scheint unter dem Konsulat Cäsars diesen Konflikt rasch diplomatisch gelöst zu haben, denn Ariovist erhielt damals seinen Titel eines rex et amicus. Catamantaloedes des Sequanerkönnte dort ebenfalls bedacht worden sein.
Das haut chronologisch nicht hin. Caesar schreibt ausdrücklich, dass Ariovist unter seinem Konsulat, also 59 v. Chr., mit den Titeln "König" und "Freund" bedacht worden sei. Die Verschwörung des Orgetorix wird von Caesar ausdrücklich in das Jahr 61 datiert. Für die damalige Zeit schreibt Caesar im Plusquamperfekt (obtinuerat, appellatus erat), dass Catamantaloedes viele Jahre die Sequaner beherrscht gehabt habe und von den Römern Freund genannt worden sei. Somit war 61 die Herrschaft des Catamantaloedes also bereits vorbei, und auch seine Auszeichnung muss davor stattgefunden haben.
Wenn Dumnorix aber vom Sieg der Sequaner und Ariovists profitierte, dann kann die macht der Germanen so groß nicht gewesen sein.
Warum nicht? Es war doch im Interesse der Sequaner und Ariovists, dass bei den Häduern eine ihnen wohlgesonnene Person regierte. Vielleicht halfen sie auch aktiv mit, dass er bei den Häduern die Macht übernehmen konnte.
Zudem wurden in gallien und Germanen häufig Geiseln bei Vertragsabschlüssen getauscht. Das Ariovist Geiseln hatte deutet weniger auf Willkür, als auf ein Vertragsverhältnis hin. daher konnten geiseln auch nicht so einfach zurückgegeben werden, denn damit löste man den Vertrag.
Wer sagt denn, dass die Geiselstellung freiwillig erfolgte? Auch die Römer ließen sich gerne Geiseln stellen, z. B. von den Karthagern oder dem Achaischen Bund. Freiwillig war daran nichts. Auch Verträge wurden keineswegs immer freiwillig geschlossen, sondern dem Besiegten/Schwächeren blieb nichts anderes übrig.
Es ist dann auch davon auszugehen, daß Sequaner und Häduer ebenfalls gegenseitig und mit Ariovist geiseln tauschten, was Cäsar nicht erwähnt.
Eine Mutmaßung, die auf einer Mutmaßung beruht. Eine doppelte Mutmaßung kann man wohl kaum als Beleg dafür nehmen, dass Caesar zwecks Propagandalüge etwas verschwiegen habe.
Nun waren also alle Städte der Sequaner in der hand Ariovists, der sich anschickte Gallien zu erobern. Doch wo war er? Cäsar mußte in Gewaltmärschen tief ins Elsaß vordringen, bis er Ariovist antraf. keine Rede von Städten, die von Cäsar befreit wurden.
Wieso hätte sich Caesar mit der Belagerung von Städten aufhalten sollen? Den Ariovist galt es zu schlagen, nicht seine allfälligen Städtebesatzungen. Nach Ariovists Niederlage würden sich die Städte voraussichtlich ohnehin freiwillig ergeben. Außerdem hatte Caesar in diesem Jahr bereits gegen die Helvetier Krieg geführt, somit war die Jahreszeit vermutlich schon etwas fortgeschritten. Caesar hätte es sich gar nicht leisten können, Zeit mit Städtebelagerungen zu vergeuden, wenn er den Krieg noch in diesem Jahr beenden wollte. Vor allem aber erwartete Ariovist neuen Nachschub von jenseits des Rheins, somit musste sich Caesar beeilen, wenn er den Ariovist vor dessen Eintreffen schlagen wollte, was ihm auch gelang.
Es scheint, als ob tatsächlich haruden zu ihm gezogen waren, doch warum ca. 25,000 Haruden ebensoviel Land beanspruchen sollen, wie 120,000 Germanen Ariovists, erschließt sich nicht.
Wie Ariovist so schön gesagt haben soll: Das Recht des Krieges gestattet es dem Sieger, dem Besiegten nach Belieben zu gebieten. Wer die Macht hat, braucht keine rationale Rechtfertigung für seine Forderungen, er kann einfach verlangen.
Es scheint, als ob Cäsar bei Häduern und Sequanern auf Personen setzte, die ihm ergeben waren. Bei den Sequanern gab es anscheinend eine herrschende Fraktion, die das so, nicht mehr war, siehe Auszug der Helvetier/Orgetorix-Verschwörung. Dumnorix und Ariovist scheinen diese Fraktion unterstützt zu haben. gegen Dumnorix konnte man (noch) nicht vorgehen, ohne die Häduer zu verlieren. Die römische Fraktion bei den Sequanern konnte man hingegen am Besten dadurch unterstützen, daß man Ariovist beseitigte.
Vor allem wollte Caesar wohl bei den Häduern die romfreundlichen Kräfte stärken und an sich binden. Und wenn er die Hegemonie über Gallien anstrebte, konnte er keinen konkurrierenden Machtfaktor wie Ariovist dulden. Da kam ihm das Hilfsersuchen von Ariovists Gegnern gerade recht. Diese wiederum werden sich darüber im Klaren gewesen sein, dass sich jemand wie Caesar gegen Ariovist mobilisieren lassen würde.
Das alles widerspricht aber nicht Caesars Darstellung über Ariovists Umgang mit den Galliern. Im Gegenteil: Da Caesar den Ariovist einst selbst ausgezeichnet hatte, war es für ihn eigentlich peinlich, wenn er jetzt eingestehen musste, dass er einen Tyrannen ausgezeichnet hatte. Caesar hätte also eher Grund gehabt, den Ariovist möglichst reinzuwaschen und die Schuld für den Krieg gegen Ariovist z. B. dem Dumnorix und den Sequanern anzulasten, die durch ihre Umtriebe dafür gesorgt hätten, dass es zum Konflikt zwischen Caesar und Ariovist kam.