Gibt es einen Rassismus, der ohne den Bezug zur Abstammung auskommt?
Nach Ansicht gewisser Kreise ist dem so; sogar der Begriff des postrassischen Rassismus macht in manchen Abhandlungen die Runde, etwa bei Michael Dyson. Dies geschieht z.B. im Zusammenhang mit einer ablehnenden Haltung dem Islam gegenüber, in den USA aber zunehmend auch im Gefüge des sog. Intersektionalismus.
Persönlich erblicke ich darin (gerade in puncto Islam) einen intellektuell unaufrichtigen Versuch, zu verhindern, dass als verwerflich erachtete Positionen dem Stigma des Rassismus enteilen.
Zutreffender wäre vielleicht der Begriff des Kulturalismus, also der Glaube an die Unterlegenheit anderer Kulturen.
Dieser bereitet der Rassismusforschung indes Unbehagen, weil er sie sowohl vor konkrete Anwendungsprobleme als auch vor abstrakte Dilemmata stellt.
Konkrete Probleme insofern, als gewisse Verrenkungen notwendig sind, um bspw. die Diskriminierung, die ein zum Islam konvertierter Sachse von seinen sächsischen Nachbarn erfahren mag, als Rassismus zu bezeichnen.
Philosophische Schwierigkeiten treten hingegen insofern auf, als ("echte") Kulturalisten ihre Ablehnung einer Kultur für gewöhnlich an den Handlungen ihrer Angehörigen festmachen, mithin an zumindest prinzipiell freien Willensentscheidungen, nicht unabänderlichen äußerlichen Merkmalen.
Und spätestens dort, wo kulturelle Praktiken den Menschenrechten zuwiderlaufen, könnte Kulturalismus sogar zur Bürgerpflicht werden. Denn unser Menschenrechtsbegriff ist universalistisch; stellen wir ihn in Hinblick auf eine Kultur, eine Weltgegend zur Disposition, zweifeln wir auch zwangsläufig seine Allgemeingültigkeit an und riskieren, uns seines Schutzes zu benehmen.
Oder wie schon Bernard Kouchner hervorhob: Wenn wir nicht sagen wollen, dass eine Kultur, die Vergewaltigungsopfer wegen vermeintlichen Ehebruchs bestraft, einer Kultur unterlegen ist, die dies nicht tut, stellt sich die Frage – da es doch einerlei zu sein scheint –, warum nicht auch wir dazu übergehen, die Opfer zu bestrafen?
Gewiss gibt es viele Menschen, die unter dem Deckmantel des Kulturalismus rassistische Einstellungen hegen. Dennoch würde ich behaupten, dass im Westeuropa des 21. Jahrhunderts eher kulturalistische als im Wortsinne rassistische Denkmuster kursieren.
Aber sei dem wie es sei, der Rassebegriff ist deswegen noch lange nicht obsolet:
Wenn nein, könnte man das Wort Rassismus einfach aus dem Grundgesetzsartikel streichen.
(Ich nehme an, das Wort "Rasse" ist gemeint, nicht "Rassismus".)
Freilich kann man die in letzter Zeit häufiger erhobene Forderung diskutieren, ob nicht der "Rassebegriff" aus dem Grundgesetz getilgt werden sollte. Aber dann wird man nicht an der Frage vorbeikommen, was das Grundgesetz denn nun genau enthält: einen"Rassebegriff, oder den Begriff "Rasse"?
Hier besteht ein unscheinbarer, aber wichtiger Unterschied.
Das Grundgesetz stellt nach dem Willen des parlamentarischen Rates einen diametral dem NS-Unrecht entgegengesetzten Staatsentwurf dar, also auch zur Rassenideologie der Nazis. Rechtsbegriffe entwickeln sich außerdem fort.
Ist "Rasse" im modernen Sprachgebrauch nicht ein bloßes Synonym für 'Ethnie', das wahrscheinlich gerade deshalb beibehalten werden sollte, weil es dem Begriff des "Rassismus", den wir bekämpft sehen wollen, als Anknüpfpunkt dient?
Jedenfalls glaube ich nicht, dass sich das Verhalten der Gesellschaft durch die Steuerung ihres Sprachgebrauchs beeinflussen lässt.