@Rafael: Verzeih' meine verspätete Reaktion. Ich hatte überlegt: "Gotik" steht ja vor allem für Frankreich, "Renaissance" für Italien - beide Länder hatten und haben aber sehr vieles kulturell gemeinsam, weshalb mir die Antithese nicht so einleuchtete.
Die Einstufung der Gotik als "barbarisch" war ja auch den Zeitläuften unterworfen, wie etwa Günther Binding (Was ist Gothik? [2000]) einleitend ausführt; schon ein Jahrhundert vor Vasari sei bei Valla "alles Gotische schlecht, alles Schlechte gotisch" gewesen (S. 15), und die kunstgeschichtliche "Rehabilitation" der Gotik trat wohl erst nach der Mitte des 18. Jahrhundert ein, wobei u. a. Goethe zu nennen ist.
Bei den Zeitgenossen scheint die Renaissance-Idee vor allem eines zu sein: der Ausdruck eines anderen, neuen Selbstgefühls. Eugenio Garin schreibt: "Es ist allgemein ein polemisches Bewußtsein [sic], das natürlich nicht allein das neue Zeitalter formt, aber einige seiner Aspekte bestimmt" und sieht am Beginn zwei Beweggründe: "zur antiken Welt und zum klassischen Wissen zurückzukehren und das Ende einer Epoche der menschlichen Geschichte, der mittelalterlichen, zu proklamieren" (Die Kultur der Renaissance, in: Propyläen Weltgeschichte, Bd. 6 [1964], S. 429-534 [434]).
Warum das gerade in Italien geschah, hat viele Gründe, unter anderem sicher den, dass dort viele Städte ihre alten Bauten bewahrt hatten und die klassische Kunst weiterlebte und immer noch Bewunderung erregte. (Auf andere Faktoren wäre noch zurückzukommen.) Vorbereitet wurde dies bereits um 1300 durch Dichter wie Petrarca, welche die "neue Zeit" so beschrieben:
Nur schöne Seelen, die das Gute stärken
Bewohnen dann die Welt, die golden strahlet
Und schon und reich wird an antiken Werken (zit. ebd.)
Etwas überspitzt gesagt: Petrarca & Co. betrieben Geschichtspolitik.
Um die Kontroverse ein wenig zu schüren, setze ich aber nochmal bei Oswald Spengler an, der (Bd. 2, S. 355 f.) die oben erwähnte Differenz der Renaissance zur Gotik apodiktisch verneint: "Die Renaissance hat den starken Glauben der Gotik zur beständigen Voraussetzung des Weltgefühls. ... Man lasse doch endlich das Märchen von einer Erneuerung des 'Altertums' fallen. ... Der antike Mythos war ein Unterhaltungsstoff, ein allegorisches Spiel; durch seinen dünnen Schleier hindurch sah man den wirklichen, den gotischen, nicht minder scharf."
Entscheidend ist hierbei, wie Spengler "Gotik" kultur- bzw. mentalitätsgeschichtlich einordnet, nämlich als die Zeit dreier großer Schöpfungen: des Marienkultes, des Teufelsglaubens und des Bußsakraments (S. 358). Seine These, dass die Renaissance Fleisch vom Fleisch der Gotik sei, gewinnt unter diesem - zunächst befremdlich wirkenden - Aspekt an Plausibilität: Denn "Raffael war der innigste aller Madonnenmaler; ein fester Glaube an das Teufelswesen und an die Erlösung von ihm durch die Heiligen liegt dieser ganzen Kunst und Schriftstellerei [der R.] zugrunde, und alle ohne Ausnahme, Maler, Architekten, Humanisten, mochten sie die Namen Cicero, Virgil, Venus, Apollo täglich im Munde führen, haben die Hexenbrände allabendlich als etwas ganz Natürliches betrachtet und Amulette gegen den Teufel getragen", und als Leonardo "an der heiligen Anna selbdritt arbeitete, auf der Höhe der Renaissance, wurde in Rom im besten Humanistenlatein der Hexenhammer geschrieben (1487)" (S. 356).