Wie es der Zufall so will, schreibe ich selber gerade einen kleinen Aufsatz zu Kidd, deswegen werde ich auch nochmal meinen Senf dazugeben. Tut mir leid, wenn es etwas länger wird... ich bin nur gerade so enthusiastisch beim Thema. J Als erstes kommen jetzt mal ein paar Quellen, mit denen ich sehr gute Erfahrungen gemacht habe:
Don C. Seitz (Hg): The Tryal of Capt. William Kidd for Murther and Piracy. Dover, 2001
Das Tolle an Kidd ist ja, dass es über ihn jede Menge Primärquellen gibt, die man bequem bei Amazon bestellen kann. In diesem Buch findet sich nicht nur eine genaue Abschrift seiner sechs Gerichtsverhandlungen (fünf für Piraterie, einer für Mord an seinem Gunner, den er mit einem Eimer niedergeschlagen hat), sondern auch Originalkorrespondenz und ein bisschen Kontext.
Mein aktueller Lieblingssatz aus der Gerichtsverhandlung ist der folgende empörte Ausruf eines Gerichtsdieners: „How does he know what he is charged with? I have not told him!“
Robert C. Ritchie: Captain Kidd and the War against the Pirates. Harvard, 1986.
Ungeschlagener Klassiker zu Kidd – ein absolutes Sekundärliteratur-Muss, das auch pflichtschuldig bei jedem namhaften Piratenforscher als Quelle zitiert wird. Ritchie bietet einen detailreichen, differenzierten, gut lesbaren Einblick in Kidds Fall. Das ist umso interessanter, da Ritchie das Ganze nicht als Einzelschicksal liest, sondern als repräsentatives Phänomen einer ganzen Generation. Es liegt übrigens sehr nahe, das zu tun; ich sage gleich noch ein paar Worte dazu.
Peter Earle: The Pirate Wars. Thomas Dunne, 2003.
Nichts Spezielles zu Kidd, aber meiner Meinung nach gibt es selten besser aufbereitete Hintergrundinfos.
Daniel Defoe: A General History of the Pyrates. (Hg: Manuel Schonhorn) Dover, 1999.
Die General History wurde oben schon von Scorpio erwähnt. Es ist das wichtigste zeitnah geschriebene Standardwerk zu Piraten dieser Zeit. Es ist eine Art „Anatomy of Roguery“, eine Sammlung von Piratenbiographien. Auch von Kidd ist eine darunter. Die General History besteht aus zwei Bänden, von denen einer 1724 und einer 1728 als Fortsetzung geschrieben wurde. Kidds Bio steht im zweiten Teil, was auch das Problem daran ist. Wie viele Wissenschaftler festgestellt haben, ist der erste Teil sehr, sehr gut recherchiert – der zweite nicht, der enthält sehr starke Fiktionalisierungen. Übrigens ist die Ansicht, dass Defoe das Buch geschrieben hat, ziemlich umstritten. Die Defoe-Idee stammt aus den Dreißiger Jahren und ist von John Robert Moore („A checklist of the writings of Daniel Defoe.“ Archon Books, 1971). Manuel Schonhorn (Herausgeber der Edition, die ich genannt habe) folgt dieser Lesart und verteidigt sie auch im Vorwort. Meiner Meinung nach wurde die Vorstellung von Defoes Autorenschaft schon sehr überzeugend in Frage gestellt (Furbank, P.N. / Owens, W.R.: Defoe de-attributions: a critique of J.R. Moore’s Checklist. Hambledon Press, 1994). Dieses Autorendrama aber nur nebenbei. Im Prinzip ist es ja auch egal, wer’s jetzt genau war, hauptsache man kann den Text selber lesen. Aber nicht dass sich jemand wundert, weil mal Johnson und mal Defoe angegeben wird. Die ursprüngliche Autorenangabe ist nämlich Captain Charles Johnson.
Jetzt noch ein paar Kommentare zu oben gemachten Vorschlägen:
Erstmal was Kleines: Das mit William Kidd und John Kidd ist ziemlich klassisch. Es kommt im Kontext von Piraterie oft vor, dass einer einzigen Person verschiedene Namen oder Schreibweisen zugeordnet werden. Was natürlich nicht heißen muss, dass es in jedem Fall nur eine Person gibt. Aber bei John Kidd wäre ich mir sehr sicher, dass wir von der gleichen Person reden. Ich kenne z. B. auch noch Quellen mit Robert Kidd. Bei Blackbeard oder Avery ist es genau der gleiche Mist. Jeder popelige kleine Gerichtsschreiber, Bürokrat und Journalist schreibt irgendwas, und manchmal hat einer von denen was falsch mitgekriegt, was dann später von anderen wiederholt wird. So ist es eben.
Zu Kidd und Morgan: Ich würde davon abraten, die beiden zusammen zu diskutieren – da gibt es vieles, was fruchtbarer ist. Die beiden gehören unterschiedlichen Piratengenerationen an und agieren deshalb unter so verschiedenen Bedingungen, dass man sie in einem so kleinen Rahmen kaum gut vergleichen kann. Wie schon gesagt, wurde Morgan für seine Überfälle auf Spanien zum Ritter geschlagen – er agierte in einem Kontext kolonialer Machtkämpfe, in dem er seine Überfälle mit Leichtigkeit als patriotische Akte umdeuten konnte.
Kidd dagegen agiert in einer Umbruchzeit, die so eine freundliche Deutung nicht mehr unbedingt zuließ, und da sind wir auch wieder bei Ritchie. Ab der 1690er beruhigen sich die kolonialen Verteilungskonflikte, England erfährt eine politische Umstrukturierung, die Seewege nach Indien werden langsam lukrativer als die nach Amerika. Es werden neue Pirateriegesetze geschaffen. Piraterie gilt jetzt nicht mehr als patriotisch, sondern als verbrecherisch, unnatürlich, ein Angriff auf die gesamte Menschheit. Man nennt einen Piraten jetzt nicht mehr adventurer, Abenteurer, sondern hostis humani generis, Feind der gesamten Menschheit.
Und dann gab es nicht zuletzt Henry Avery. Avery kennt man heute kaum noch, aber er ist der Erzpirat seiner Zeit. 1695 hat er eine Schatzflotte des Großen Moguls von Indien gekapert, die erfolgreichste einzelne Raubaktion dieser gesamten Zeit. Der Große Mogul hätte die East India Company fast aus Indien rausgeschmissen, so wütend war er. Das gab ein riesiges Aufsehen, überall. Und Avery wurde nie geschnappt. In England wurde er sogar zu einem sagenumwobenen Volkshelden. Man erzählte sich, er hätte eine indische Prinzessin geheiratet und auf Madagaskar ein Piraten-Königreich geschaffen. Das waren damals so hartnäckige und vielerzählte Gerüchte, dass der englische und der schottische Hof während des Spanischen Erbfolgekriegs sogar selbsternannte „Diplomaten“ aus Madagaskar empfingen, die sich auf Averys Autorität beriefen.
Gleichzeitig hatte England mit Avery aber auch – verzeiht mir bitte den Vergleich – ein Problem, das wir in ähnlicher Form mit Amerika und Osama bin Laden erlebt haben. Es wurde für England langsam peinlich, dass Avery die East India Company so schädigen und damit England eine weithin hörbare Ohrfeige versetzen konnte, ohne dass man ihn dafür bestrafen konnte. Je länger er verschwunden blieb, desto wichtiger wurde ein Präzedenzfall, um zu beweisen, dass England dem Problem der Piraterie durchaus gewachsen war. Und diesen Präzedenzfall, so argumentieren viele, gab es dann mit Kidd.
Es waren auch alles sehr unglückliche Umstände. Kidd war im gleichen Gewässer wie Avery, er machte die gleichen Leute wütend wie Avery, auch er machte nur einen einzigen richtigen Fang. Ihm wurden automatisch die ganzen Wesenszüge zugeschrieben, die den Folklore-Avery auszeichneten. Weitere Probleme Kidds: Er hatte einen Knebelvertrag mit seinen Protegés, der ihn zum Erfolg verdammte, und er war scheinbar auch ein ziemlich bösartiger Kapitän. Außerdem wurde er ausgerechnet von Whigs protegiert, als die Tories gerade an die Macht kamen und wiederum die Whigs demütigen wollten. Deswegen ist Kidd auch der einzige Pirat, der je vor das Unterhaus geladen wurde und sich dort verteidigen musste.
Es ist ein spannendes Thema. Falls das mit der Facharbeit noch aktuell sein sollte (ich glaube ja nicht, aber vielleicht für spätere): Mein Vorschlag wäre einfach, rauszufinden, warum genau Kidd so ein Erzpirat gewesen sein soll und wir seinen Namen noch kennen, wenn er nur für fünf Fälle von Piraterie verurteilt wurde. Ich meine, fünf! Bartholomew Roberts hatte 400!