ich denke auch, dass die soziale Frage nicht gelöst ist, sondern eher kaschiert; und ja, im Grunde ist sie immer noch die gleiche wie vor 150 Jahren. Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ist immer noch heiß und wird auch wieder heißer. Gelöst wir er erst, wenn strukturell sichergestellt wird, dass Kapital und Arbeit auf den gleichen Personen zusammentreffen. Auch während der Zeit als der Begriff der Sozialen Frage aufkam, gab es solche Lösungsansätze aus dem bürgerlich-liberalen Lager, die aber untergegangen sind. Der Kommunismus war halt irgendwie sexier.
Wie Lili schon vor nunmehr drei Jahren schrieb, ist es fraglich, ob es sich um dieselbe Soziale Frage handelt, die im Laufe der Zeit zu lösen versucht worden ist und ob man diese auf das Antagonismenpärchen
Kapital und
Arbeit oder
Ausbeuter und
Proletarier reduzieren kann.
Karl Marx etwa hat - völlig zu Recht - von einer Klassengesellschaft gesprochen. Es gab den - im wesentlichen - zur Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Adel als überkommenen Rest einer ständischen Gesellschaftsordnung und als Klassen das Bürgertum, welches man unterteilen konnte in Besitzbürgertum und Bildungsbürgertum etc. und demgegenüber eine Klasse von Besitzlosen, eben
Proletariern, die im 19. Jhdt. auf der Suche nach einem Auskommen vom Land in die Städte strömten und die unter zum Teil unwürdigen Bedingungen hausten und von der Mildtätigkeit des Unternehmers abhängig waren.
Diese Situation hat sich völlig geändert,
Klassen gibt es eigentlich nicht mehr. Es gibt
Milieus. Und diese Milieus sind sehr viel komplizierter zu beschreiben, als dies mit dem Instrumentarium der Lehre von der Klassengesellschaft möglich ist. Proletarier gibt es eigentlich nicht mehr. Die Großfamilie in einem Raum mit Plumpsklo hinterm Haus und ohne Wasseranschluss ist heute - zumindest auf nationaler und europäischer Ebene - nicht mehr denkbar. Da hat jeder den Wasseranschluss, die getrennten Zimmer, die Heizung, die Grundversorgung, Radio, Fernseher, Computer (was man auch immer davon halten mag) etc. Die Situation ist also eine völlig andere.
Es ist sicherlich richtig, dass die bismarcksche Sozialpolitik und die Maßnahmen einiger der Großindustriellen, etwa der "Ruhrbarone" gewisse Ziele verfolgten ("Alles für den Arbeiter, nichts durch den Arbeiter.") und somit als Kaschierung zu bewerten sind; auch die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen während des Nationalsozialismus sind ja alles andere als fortschrittlich oder sozial bzw. sozial motiviert gewesen (de facto handelte es sich, ganz abgesehen von der Kriegsvorbereitung um Lohnkürzungen).
Die Soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards wirkt gewisssermaßen bis heute nach, auch wenn das System sich inzwischen überholt hat.
Die Real-Existenz eines sich selbst als
sozialistisch bezeichnenden Systems, auch wenn es ganz offensichtlich nicht wirklich funktionierte und Jahrzehnte am Rande des Bankrotts dahinschlitterte war auch immer ein wenig Korrektiv für die Unternehmer. Mit dem Wegbrechen des sogenannten Sozialismus in Folge der Veränderungen der Jahre 1982 - 1991, fiel dann auch dieses Korrektiv weg, was sich in der Folge durchaus auch in Westeuropa bemerkbar machte, die Arbeitswelt hat sich seitdem stark verändert, das soziale Gewissen der Unternehmer, welches offenbar durch das konkurrierende, dem Anspruch nach sozialistischen System aufrechterhalten wurde, scheint sich seitdem vielfach (aber selbstverständlich nicht überall) verabschiedet zu haben.
Von einer Kaschierung der Sozialen Frage kann man - zusammengefasst - punktuell sprechen, aber nicht grundsätzlich. Die Soziale Frage (wenn man denn auf den Singular besteht) verändert sich, taucht immer wieder neu in veränderter Form auf, die Welt ist in stetigem Wandel, die Soziale Frage mit ihr.