muck
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Ich habe bis 2016 HEMA trainiert, nach Fiore de'i Liberi. Die Abhandlungen der Fechtmeister gelten vielen ja als eher praxisfern und vorrangig für Zweikämpfe gemacht, aber es gibt auch Gegenstimmen, z.B. Bachrach in 'Warfare in Medieval Europe c.400-c.1453'. Und Marsden weist in 'Historical European Martial Arts in its Context' darauf hin, dass zwar bei Weitem nicht alle Kniffe Liechtenauers "kriegstauglich" gewesen seien, aber gewisse grundlegende Techniken auch auf dem Schlachtfeld zu Hause waren.
Was @Perquit's Frage angeht; meiner Ansicht nach werden die körperlichen Fähigkeiten, die das Kämpfen im Kontext des Mittelalters erforderte, gleichzeitig über- und unterschätzt.
Überschätzt, da das Fechten mit Blankwaffen an sich kein hohes Maß an Körperkraft und Ausdauer erfordert.
So wissen wir, dass bei der Schlacht von Visby (1361) auf Seiten der Verteidiger dreizehn-, vierzehnjährige Jungen kämpften. Wir wissen, dass der yorkistische Ritter Thomas Kyriell in seinem 66. Lebensjahr erfolgreich in der Schlacht von Mortimer's Cross (1461) kämpfte. Und Sanuto berichtet, dass Caterina Sforza in Ravaldino – zu diesem Zeitpunkt auch schon 36 Jahre alt – eigenhändig "einige" Männer im Kampf tötete.
Derartige Anekdoten gibt es viele – zu viele, um noch zu bestreiten, dass die Waffentechnik des Mittelalters grundsätzlich sogar alten Männern, Frauen und Kindern gestattete, sich ihrer Haut zu erwehren.
Anders als man vielleicht denken mag, eignen sich übrigens beidhändig zu führende Waffen für Anfänger oder weniger kräftige Personen besonders gut. Die Einbindung der zweiten Hand in die Postur macht diese Waffen führiger und verteilt ihr Gewicht auf zwei Arme. Dies gilt für keine Waffe mehr als für den besonders intuitiv handzuhabenden Speer, der nicht umsonst als ideal für "Anfänger" beschrieben wird.
Auch der Einfluss des Gewichts von Schutzwaffen wird häufig überschätzt. Da sich das Gewicht über die Körperoberfläche verteilt, behindert es den Bewegungsablauf weniger, als es dasselbe Gewicht auf den Rücken geladen täte. Tatsächlich deuten viele Quellen darauf hin, dass der Anstieg der Körpertemperatur unter der nicht gerade "atmungsaktiven" Rüstung für viele Kombattanten das weitaus größte Problem war.
Ich selbst habe zwar nie eine "richtige" Rüstung getragen, glaube solche Beschreibungen aber nur allzu gern. Meine Ausrüstung aus Fechtjacke, -hose, -maske, Schamkapsel und stählernen Panzerfäustlingen kam damals zusammen auf ca. 12 kg (eine gut angepasste gotische Plattenrüstung wiegt ~25 kg). Ich war nie besonders fit, trotzdem war das Gewicht kein Problem für mich. Nicht zu überhitzen, das war eine Herausforderung!
Daher sage ich, die physischen Anforderungen werden auch unterschätzt. Und das kurioserweise oft von den Leuten, die in der Materie etwas mehr drinstecken. Was wirklich ein hohes Maß an Körperkraft und Ausdauer erfordert, das ist das Fechten unter widrigen (≈ wahrscheinlich anzutreffenden) Umständen.
Viele Zweikämpfe scheinen rasch vorüber gewesen zu sein, wahrscheinlich in Sekunden – aber eben nicht alle! Wir wissen von Gerichtskämpfen, die unterbrochen werden mussten, weil sich beide Kontrahenten hoffnungslos verausgabt hatten. Und wir wissen natürlich von Schlachten, die Stunden dauerten.
Denn dass ich mit einem feindlichen Waffenknecht fertig werde, heißt nicht, dass ich auch mit seinem Kameraden fertig werde, oder mit dessen Kamerad. Zumal im Kontext eines Krieges noch andere Anstrengungen in Rechnung zu stellen sind, so manche Schlacht wurde nach einem Gewaltmarsch geschlagen.
Der zweite Irrtum betrifft das auch heute bei Kampfsport-Fans beliebte Sujet, dass technische Finesse bloßer Muskelkraft überlegen sei. Das ist natürlich ein verlockender Gedanke; denn warum sonst sollte man bspw. zehn Jahre lang für den schwarzen Gürtel im Brasilianischen Jiu-Jitsu trainieren wollen, wenn es nichts "nützt"? Nur sieht die Realität leider anders aus, ebendarum gibt es ja die Gewichtsklassen im Kampfsport.
Ich würde behaupten: Die Prämisse, dass Technik Stärke übertrumpft, gilt nur in nicht repräsentativen Extremfällen, und das wird auch auf realen Schlachtfeldern gegolten haben, weil die körpermechanischen Sachzwänge unverändert gelten. Und es ist wenig wahrscheinlich, dass eine körperlich unterlegene, aber technisch viel versiertere Person auf dem Schlachtfeld (oder im Kontext eines Gerichtskampfes) jemandem gegenübertritt, der zwar bärenstark ist, aber vom Kämpfen nichts versteht.
Interessant ist vielleicht noch die Frage, was unter mittelalterlicher "Wehrtauglichkeit" zu verstehen wäre. Was das anlangt, würde ich annehmen, dass die Menschen im Schnitt bessere Voraussetzungen mitbrachten als wir heute (und dabei denke ich nicht etwa an moderne Phänomene wie die verbreitete Fettleibigkeit). Ritter wurden ja bekanntermaßen von Kindesbeinen an die Strapazen des Kampfes gewöhnt.
Aber auch Waffenknechte oder z.B. die Milizionäre der städtischen Bürgerwehren trainierten regelmäßig. Und der Durchschnittsmensch, der vielleicht ad hoc Haus und Hof verteidigen musste, wird jedenfalls körperliche Entbehrungen gewohnt gewesen sein – man denke nur daran, was für eine Knochenarbeit die vorindustrielle Landwirtschaft war. Damit war die physische Belastbarkeit wohl allgemein höher.
Was @Perquit's Frage angeht; meiner Ansicht nach werden die körperlichen Fähigkeiten, die das Kämpfen im Kontext des Mittelalters erforderte, gleichzeitig über- und unterschätzt.
Überschätzt, da das Fechten mit Blankwaffen an sich kein hohes Maß an Körperkraft und Ausdauer erfordert.
So wissen wir, dass bei der Schlacht von Visby (1361) auf Seiten der Verteidiger dreizehn-, vierzehnjährige Jungen kämpften. Wir wissen, dass der yorkistische Ritter Thomas Kyriell in seinem 66. Lebensjahr erfolgreich in der Schlacht von Mortimer's Cross (1461) kämpfte. Und Sanuto berichtet, dass Caterina Sforza in Ravaldino – zu diesem Zeitpunkt auch schon 36 Jahre alt – eigenhändig "einige" Männer im Kampf tötete.
Derartige Anekdoten gibt es viele – zu viele, um noch zu bestreiten, dass die Waffentechnik des Mittelalters grundsätzlich sogar alten Männern, Frauen und Kindern gestattete, sich ihrer Haut zu erwehren.
Anders als man vielleicht denken mag, eignen sich übrigens beidhändig zu führende Waffen für Anfänger oder weniger kräftige Personen besonders gut. Die Einbindung der zweiten Hand in die Postur macht diese Waffen führiger und verteilt ihr Gewicht auf zwei Arme. Dies gilt für keine Waffe mehr als für den besonders intuitiv handzuhabenden Speer, der nicht umsonst als ideal für "Anfänger" beschrieben wird.
Auch der Einfluss des Gewichts von Schutzwaffen wird häufig überschätzt. Da sich das Gewicht über die Körperoberfläche verteilt, behindert es den Bewegungsablauf weniger, als es dasselbe Gewicht auf den Rücken geladen täte. Tatsächlich deuten viele Quellen darauf hin, dass der Anstieg der Körpertemperatur unter der nicht gerade "atmungsaktiven" Rüstung für viele Kombattanten das weitaus größte Problem war.
Ich selbst habe zwar nie eine "richtige" Rüstung getragen, glaube solche Beschreibungen aber nur allzu gern. Meine Ausrüstung aus Fechtjacke, -hose, -maske, Schamkapsel und stählernen Panzerfäustlingen kam damals zusammen auf ca. 12 kg (eine gut angepasste gotische Plattenrüstung wiegt ~25 kg). Ich war nie besonders fit, trotzdem war das Gewicht kein Problem für mich. Nicht zu überhitzen, das war eine Herausforderung!
Daher sage ich, die physischen Anforderungen werden auch unterschätzt. Und das kurioserweise oft von den Leuten, die in der Materie etwas mehr drinstecken. Was wirklich ein hohes Maß an Körperkraft und Ausdauer erfordert, das ist das Fechten unter widrigen (≈ wahrscheinlich anzutreffenden) Umständen.
Viele Zweikämpfe scheinen rasch vorüber gewesen zu sein, wahrscheinlich in Sekunden – aber eben nicht alle! Wir wissen von Gerichtskämpfen, die unterbrochen werden mussten, weil sich beide Kontrahenten hoffnungslos verausgabt hatten. Und wir wissen natürlich von Schlachten, die Stunden dauerten.
Denn dass ich mit einem feindlichen Waffenknecht fertig werde, heißt nicht, dass ich auch mit seinem Kameraden fertig werde, oder mit dessen Kamerad. Zumal im Kontext eines Krieges noch andere Anstrengungen in Rechnung zu stellen sind, so manche Schlacht wurde nach einem Gewaltmarsch geschlagen.
Der zweite Irrtum betrifft das auch heute bei Kampfsport-Fans beliebte Sujet, dass technische Finesse bloßer Muskelkraft überlegen sei. Das ist natürlich ein verlockender Gedanke; denn warum sonst sollte man bspw. zehn Jahre lang für den schwarzen Gürtel im Brasilianischen Jiu-Jitsu trainieren wollen, wenn es nichts "nützt"? Nur sieht die Realität leider anders aus, ebendarum gibt es ja die Gewichtsklassen im Kampfsport.
Ich würde behaupten: Die Prämisse, dass Technik Stärke übertrumpft, gilt nur in nicht repräsentativen Extremfällen, und das wird auch auf realen Schlachtfeldern gegolten haben, weil die körpermechanischen Sachzwänge unverändert gelten. Und es ist wenig wahrscheinlich, dass eine körperlich unterlegene, aber technisch viel versiertere Person auf dem Schlachtfeld (oder im Kontext eines Gerichtskampfes) jemandem gegenübertritt, der zwar bärenstark ist, aber vom Kämpfen nichts versteht.
Interessant ist vielleicht noch die Frage, was unter mittelalterlicher "Wehrtauglichkeit" zu verstehen wäre. Was das anlangt, würde ich annehmen, dass die Menschen im Schnitt bessere Voraussetzungen mitbrachten als wir heute (und dabei denke ich nicht etwa an moderne Phänomene wie die verbreitete Fettleibigkeit). Ritter wurden ja bekanntermaßen von Kindesbeinen an die Strapazen des Kampfes gewöhnt.
Aber auch Waffenknechte oder z.B. die Milizionäre der städtischen Bürgerwehren trainierten regelmäßig. Und der Durchschnittsmensch, der vielleicht ad hoc Haus und Hof verteidigen musste, wird jedenfalls körperliche Entbehrungen gewohnt gewesen sein – man denke nur daran, was für eine Knochenarbeit die vorindustrielle Landwirtschaft war. Damit war die physische Belastbarkeit wohl allgemein höher.
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