Arabische Literatur im Mittelpunkt. Schriftsprache, Dichtung und Islam sind das einende Band. Zum Gastauftritt der arabischen Welt bei der Frankfurter Buchmesse 2004 legen deutschsprachige Verlage zahlreiche Novitäten vor.
Die arabische Literatur boomt im deutschsprachigen Buchmarkt – nur keiner merkt es. Seit dem Literaturnobelpreis für den Ägypter Nagib Machfus 1988 weist die Zahl der aus dem Arabischen übersetzten Bücher, eine jährliche Zuwachsrate von zehn bis 20 Prozent aus. Konnte man Mitte der 80er Jahre nur eine Handvoll zeitgenössischer arabischer Autoren auf Deutsch lesen, so sind heute rund 150 Werke der arabischen Literatur lieferbar – Gedichtbände, Romane, Anthologien und Klassiker.
Dabei sind die auf Französisch schreibenden Nordafrikaner wie Tahar Ben Jelloun oder Assia Djebbar noch gar nicht mitgezählt, ebenso wenig die Koran-Ausgaben oder Sachbücher über die arabische Welt. Mit den Herbstprogrammen wird der vorläufige Höhepunkt dieses Trends erreicht. Denn die arabische Welt ist die Gastregion der Frankfurter Buchmesse 2004 – was sich in den Verlagsprogrammen entsprechend widerspiegelt.
Was ist überhaupt die arabische Welt
Die Wahrnehmung der arabischen Welt und Kultur orientiert sich an den politischen Ereignissen der letzten Jahre - nach dem 11. September 2001 waren bald alle deutschen Koranausgaben vergriffen, und erst vor kurzem hat ein deutscher Verlag mit der Übersetzung des (miserablen) Romans von Saddam Hussein Zabiba und der König einen denkbar fragwürdigen Verkaufserfolg erzielt.
Die Entscheidung der Frankfurter Buchmesse, in diesem Jahr die arabische Welt - organisatorisch vertreten durch die arabische Liga - zum Schwerpunktland zu machen, ist daher ebenso richtig wie gewagt. Denn eines ist klar: Das wird kein unproblematischer Messeschwerpunkt werden.
Die arabische Region, die sich von Mauretanien und Marokko im Westen bis zum Irak und zur arabischen Halbinsel im Süden erstreckt (Türkei und Iran ausgenommen), ist geographisch und kulturgeschichtlich ein relativ homogener Raum. Die Bevölkerung der 22 Länder ist mehrheitlich muslimisch, Arabisch ist die Amts- und Muttersprache der meisten Menschen, die dort leben. Trotz großer Dialekt-Unterschiede, ähnlich wie zwischen Deutschland und der Schweiz, bildet das klassische Arabisch nach wie vor die gemeinsame Literatursprache. Ein Iraker kann problemlos einen marokkanischen Roman lesen – sofern nicht zuviel Umgangssprache in den Dialogen vorkommt. Insofern ist es richtig, von "der arabischen Literatur" zu reden.
Die Zentren der arabischen Verlagswelt sind Beirut und Kairo, und die großen, in London angesiedelten arabischen Tageszeitung, wie zum Beispiel al-Hayat oder al-Quds-Al-Arabi, die fast täglich Buchbesprechungen bringen, werden überall in der arabischen Welt vertrieben – wenn sie nicht gerade verboten sind.
Doch diese Homogenität wird konterkariert durch die sprichwörtliche politische Uneinigkeit der Araber, die auch Folgen für die Kultur hat. So gibt es zum Beispiel in den Golfstaaten keine nennenswerte literarische Produktion. Dafür sitzt dort das Geld. Ein Großteil der arabischen Aktivitäten auf der Buchmesse wird von den Golfstaaten finanziert – die Autoren aber werden aus Ägypten, Syrien, Libanon oder dem Exil kommen.
Zwischen Neugier und Zurückhaltung
Auch wenn die Zahl der Übersetzungen kontinuierlich steigt, gibt es hierzulande Berührungsängste mit der arabischen Literatur – was sich an den Herbstprogrammen der Verlage ablesen lässt: Häuser, die seit jeher orientalische Literatur publiziert haben, haben dieses Segment verstärkt. Die anderen, darunter die Mehrzahl der großen Verlage, lassen vorläufig die Finger davon oder setzen auf das Sachbuch.
Konkurrenzlos bei arabischer Literatur ist der Basler Lenos Verlag. Rund 50 zeitgenössische arabische Romane und Erzählungssammlungen hält der Verlag derzeit als Hardcover und Taschenbuch lieferbar, darunter viele der ganz großen Autoren aus der arabischen Welt. Eine hervorragende und mit 6.90 Euro denkbar günstige Einführung ist die repräsentative Anthologie Auf Besuch, die im Juli erscheint und die wichtigsten Lenos-Autoren vorstellt.
Bereits seit Frühjahr liegt bei Lenos Sains Hochzeit, das vierte Buch des Sudanesen Tajjib Salich (geboren 1929) vor, einer der größten, auch auf Deutsch ohne Abstriche lesenswerten arabischen Autoren. Unübertroffen ist sein 1966 erschienenes Hauptwerk Zeit der Nordwanderung, das zu einem der wenigen Kultbücher der arabischen Literatur wurde.
Die Erfolge des aus Libyen stammenden Tuareg-Autors Ibrahim al-Koni (Die Magier) sollen im Herbst mit den Sahara-Erzählungen fortgesetzt werden (Die steinerne Herrin). Mit mittlerweile sieben Büchern ist al-Koni einer der Schwerpunkt-Autoren des Basler Verlags. Außerdem besonders empfehlenswert: Die surreal-makabren, erfrischend tabulosen Kurgeschichten des 1931 geborenen Syrers Sakarija Tamer. In der Sammlung Die Hinrichtung des Todes (erscheint im August) schickt der im Londoner Exil lebende Autor berühmte Persönlichkeiten der arabischen Geschichte immer in die falsche Zeit – eine der wenigen Satiren in der heutigen arabischen Literatur.
Zwei weitere Schweizer Verlage haben ein ungewöhnlich starkes arabisches Programm, der Ammann-Verlag und der Unionsverlag. Union-Leiter Lucien Leitess scheint den Ehrgeiz zu haben, sukzessive das Gesamtwerk des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus auf Deutsch herauszubringen. Das sage und schreibe 19. Machfus-Buch kommt im Juli unter dem Titel Die Reise des Ibn Fattuma heraus – ein Roman, in dem der Nobelpreisträger seine Stärken souverän ausspielt. In Gestalt des abenteuerlustigen Ibn Fattuma entführt der Ägypter seine Leser in ferne Länder und fremde Sitten.
Mitten in die Gegenwart, ins Herz des israelisch-palästinensischen Konflikts, trifft dagegen die bedeutendste palästinensische Autorin, Sahar Khalifa (geboren 1941), mit ihrem mittlerweile sechsten Werk bei Union (Die Verheißung). Khalifa wird auch zur Buchmesse kommen: Das Goethe-Institut hat sie zum Gespräch mit Jutta Limbach eingeladen. Man darf hoffen, dass die ebenso charmante wie lebhafte Palästinenserin eine Lesereise anschließt.
Dichtung hoch im Kurs
Für die Araber selbst ist die angesehenste Gattung übrigens nicht der Roman, sondern seit vorislamischer Zeit vor 1500 Jahren die Versdichtung. Wer die arabische Literatur wirklich kennen lernen will, kommt daher um die Lyrik ebenso wenig herum wie derjenige, der ohne Umwege gleich das Feinste lesen will. Hier hat der Ammann Verlag seine Stärke: Die beiden wichtigsten arabischen Dichter, der Syrer Adonis und der Palästinenser Mahmoud Darwish, werden bei Ammann in repräsentativen zweisprachigen Ausgaben verlegt. Im Herbst kommt nun der zweite Band der großangelegten Adonis-Auswahl. Darin findet sich das berühmte Landgedicht Ein Grab für New York aus dem Jahr 1970, das die Ereignisse des 11. September dichterisch vorwegnimmt. Adonis ist übrigens auch als erstklassiger Vortragskünstler bekannt - er wird sicher zu einigen Lesungen nach Deutschland kommen.
Ansonsten findet man arabische Lyrik in diesem Herbst nur in Kleinverlagen wie dem Verlag Hans Schiler, der aus der Konkursmasse der Berliner Fachbuchhandlung Das arabische Buch hervorging. Dort erscheinen demnächst unter anderem Gedichte des derzeit namhaftesten irakischen Lyrikers, Saadi Yusuf, der seit langem in London lebt. Bisher waren seine Gedichte auf Deutsch nur in Anthologien vertreten (Die Farbe der Ferne. Moderne arabische Dichtung. C.H. Beck).
Keine Angst vor Klassikern
Unter den renommierten deutschen Verlagen hat C.H. Beck das stärkste orientalische Programm. Die bibliophil gestaltete, dennoch preisgünstige Neue orientalische Bibliothek ist derzeit die einzige Buchreihe im deutschsprachigen Raum, die den großen klassischen Werken des islamischen Kulturkreises eine Heimat bietet. Alle anderen Häuser publizieren mittlerweile fast ausschließlich moderne Autoren. Die in der Neuen orientalischen Bibliothek erscheinenden Werke zählen zur Weltliteratur, und der Erfolg der Neuübersetzung von Tausendundeine Nacht in diesem Frühjahr beweist, dass man diese Literatur auch verkaufen kann, wenn das Marketing stimmt und die Buchhändler mitziehen. Die Neuausgabe von Tausendundeine Nacht wird auch auf der Messe den Schwerpunkt des arabischen Programms von Beck bilden.
Der international hochgehandelte, doch in Deutschland bislang erfolglose libanesische Romancier Elias Khoury – wie Sahar Khalifa ein literarischer Anwalt der Palästinenser – setzt seine deutsche Verlagsodyssee fort. Von Das arabische Buch ist er zu C.H. Beck gewechselt, sein jüngstes Buch, Das Tor zur Sonne erscheint nun bei Klett-Cotta. Es ist ein Epos über den ersten arabisch-israelischen Krieg 1948 und die sich anschließenden Flüchtlingsschicksale. Das 400-Seiten Werk gilt in der arabischen Welt als sein Opus-Magnum.
Bei Hanser war das arabische Segment bislang vor allem durch den populären deutsch schreibenden Syrer Rafik Schami vertreten. Im Herbst tritt der Iraker Najm Wali mit seinem Roman Die Reise nach Tell al-Lahm hinzu, der von den Irrungen und Wirrungen arabischer Intellektueller der Post-68-er-Generation berichtet. Wali lebt in der Bundesrepublik als Korrespondent für arabische Zeitungen und spricht sehr gut Deutsch.
Suhrkamp bringt die lang erwartete Neuausgabe des Romans Sitt Marie-Rose von Etel Adnan, eine der berühmtesten Darstellungen des libanesischen Bürgerkriegs. Zudem legt der Verlag einen Band mit scharfsinnigen, tagebuchähnlichen Notaten der in Kalifornien und Paris lebenden, englisch und französisch schreibenden Libanesin vor.
Nagib Machfus schließlich wird durch die Aufnahme in die Bibliothek Suhrkamp geadelt. Hier erscheint eine Neuauflage des vergriffenen Klassikers Das Hausboot am Nil.
Die Novitäten im, Sommer und Herbst sind Lesestoff genug für das Publikum – und für den Messeschwerpunkt. Problematisch für die arabische Literatur erweist sich ein anderer Umstand: Es gibt kaum Kritiker, die auf orientalische Literatur spezialisiert sind. Von den großen Zeitungen lassen nur die Neue Zürcher Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung regelmäßig arabische Literatur besprechen.
Die Spreu vom Weizen trennen
Somit besteht die Gefahr, dass im kommenden Herbst zwar genügend arabische Bücher auf dem Markt sind, aber nur wenige, die diese Bücher bekannt machen und die Spreu vom Weizen trennen können. Zudem gibt es keine Überblicksdarstellungen, mit deren Hilfe sich der interessierte Buchhändler, Kritiker oder Leser informieren könnte. Ein Geheimtipp: Bei der Wiener Edition Selene erscheint im September ein Werk, das in diese Marktlücke stößt: Erlesener Orient. Ein Führer durch die Literatur der islamischen Welt.
Fazit: Beim Buchmesse-Schwerpunkt Arabische Welt sind Neugier, Aufgeschlossenheit und Experimentierfreude bei allen Beteiligten gefragt: Buchhändlern, Kritikern, Literaturveranstaltern, Verlagen und nicht zuletzt Lesern. Der Lohn dafür ist die Entdeckung eines neuen literarischen Kontinents, der einen lange nicht loslassen wird und der noch viele Überraschungen bereithält.
Quelle: Goethe.de