parago schrieb:
Stimmt ja so nicht hundertprozentig. Die Kinderarbeit wurde ja nicht generell verboten, sondern lediglich neu geregelt, und das hauptsaechlich aufgrund oeffentlichen Drucks. (Hauptgegner der Kinderarbit zum damaligen Zeitpunkt waren z.B. Lehrervereinigungen und Frauenbewegungen.) Eigene Kinder ueber 10 Jahren durften auch nach der Neuregelung 1903 weiterhin im Familienbetrieb beschaeftigt werden. Die ausserfamiliaere Grenze wurde auch lediglich auf 2 jahre mehr festgelegt, also Kinder die 12 und aelter waren durften beschaeftigt werden.
Grundsätzlich verboten wurde die Kinderarbeit in Deutschland erst nach 1945, das weitere regelt heute das Jugendarbeitsschutzgesetz, dessen Einhaltung vom Gewerbeaufsichtsamt überwacht wird.
Hallo parago und alle anderen,
ein eigenes Kapitel der Kinderarbeit, sind die
Schwabenkinder. Gehört vielleicht nicht ganz zum Thema, doch das interessante daran ist auch, das die Kindermärkte 1915 abgeschafft wurden. Doch einen merklichen Nachlass der Kinderwanderungen hat es erst ab 1921 gegeben, als in Baden-Württemberg die Schulpflicht auch für ausländische Kinder eingeführt wurde.
Einige Fallbeispiele:
August D.
Wir waren die ärmste Familie im Dorf. 1939 stirbt die Mutter, da war ich neun Jahre alt und hatte noch vier Geschwister, das jüngste erst zehn Monate.
Daheim waren wir so arm, dass ich von sechs Tagen an vier Tagen einen Kostplatz hatte, das heißt, ich durfte jeden Tag bei einem anderen Bauern zu Mittag essen, um den Vater zu entlasten. Ich hatte Schuhe, die waren mit Draht umwickelt, damit sie nicht auseinander fielen. Wir haben für acht Mark Monatsmiete im Gemeindehaus gewohnt.
Am 6. März 1940 kam ich weg. Da war noch Winter.
Ich habe viel geweint.
Immer hab ich an die Mama gedacht und an die Geschwister. Wir waren ja gern zusammen.
Und Angst hab ich gehabt, so viel Angst. Immer hab ich gedacht, lieber Gott, lass mir wenigstens den Papa. Lass ihn nicht auch noch sterben, damit ich nicht allein bin auf der Welt.
Mein Trost waren die Kühe. Ich hab sie in den Arm genommen und mich an ihnen ausgeweint. Beim Viehputzen hab ich oft geweint.
Ich musste Viehputzen und Misten.
Von den Bauersleuten habe ich keine Liebe erfahren. Gar nichts. Man war wie das Vieh. Bloß, dass man noch weniger gegolten hat.
Immer wollte ich den Hof anzünden. Ja, das wollte ich. Aber ich hab es nicht getan, weil mir die Tiere Leid taten.
Wenn man so allein ist, da weint man halt immer. Ja, ich hab so viel geweint.
Wir hatten keine Schuhbänder für die Schuhe, sondern Draht.
Die Zähne hab ich mir im Stall mit Viehsalz geputzt.
Die einzige Freizeitbeschäftigung am Sonntag war das Mäusefangen.
Das Heimweh hat einen schier umgebracht, ja.
Willi D.
Ich bin 1930 weggekommen, da war ich zehn Jahre alt. Daheim waren wir acht Kinder.
Ich kam nach Wangen im Allgäu. Mein Bauer hatte zwei Töchter und zwei Söhne - aber mit denen hatte ich praktisch keinen Kontakt.
Um vier Uhr morgens musste ich aufstehen. Nie, überhaupt nie konnte ich ausschlafen!
Ich habe auch nicht in einer richtigen Schlafkammer geschlafen, sondern in der angebauten Kornkammer, zusammen mit einem Tagelöhner.
Der Bauer hatte siebzig Stück Vieh im Stall. Die musste ich immer wieder putzen. Er hat das Putzen nachgeprüft, indem er extra helle Handschuhe angezogen hat und damit über die geputzten Tiere fuhr. Und wehe, sie waren nicht sauber!
Wenn ich mit meinen siebzig Kühen da allein im Regen auf der Weide stand, da hab ich maßlos Heimweh gekriegt. So furchtbar, das kann ich gar nicht erzählen.
Abends gings dann heim und einfach in die kalte Kornkammer, auch wenn man durch und durch nass war. Da gabs kein Pardon.
Ich war ein Ausländer. Und ich war arm. Mehr muss man doch nicht sagen, oder?
Zweimal war ich im Schwabenland. Beim zweiten Mal bin ich zusammen mit meiner Schwester und einem anderen Buben abgehauen. Unser Bauer hat schwarze Magie im Stall betrieben, da hatten wir solche Angst, dass wir auf und davon sind. Die Polizei hat uns dann aufgegriffen und in den Zug gesetzt. So sind wir wieder heim. Danach musste ich nicht mehr fort.
Willi K.
Wir kamen, ein ganzer Waggon voller Buben, nach Hergats. Wir wurden von einem Pater begleitet, der uns dann auch vermittelte. Man hat uns den blauen Himmel versprochen - wir konnten uns nicht vorstellen, was uns da draußen erwartete. Der blaue Himmel jedenfalls nicht.
Ich war ein eher schwächliches Kind. Der Bauer hat gleich meine Arme angefasst, um meine Muskeln zu prüfen.
Die Bäuerin hat gefragt, ob er nichts Besseres gefunden hätte als ausgerechnet mich. Das war das erste, was ich von ihr hörte.
Man ist halt fremd. Man ist fremd!
Der Knecht war eifersüchtig auf mich, weil ich schneller melken konnte als er. Trotzdem musste ich mit ihm in einer Kammer schlafen.
Arbeiten musste ich viel. Um fünf Uhr früh aufstehen, im Sommer schon um vier - und vor elf ist man selten ins Bett.
Ich musste misten, melken und zweimal die Woche Kühe putzen. Auch Holz hacken. Gehasst habe ich das Kartoffel-Entkeimen im Keller.
Das Viehhüten war auch nicht einfach, es gab ja nirgends Zäune, aber ringsum Äcker mit Korn und Kartoffeln und Klee!
Manchmal war es empfindlich kalt, so barfuß in kurzen Hosen bei Tau und Reif auf den Wiesen! Bis in den November hinein durfte ich keinen Schuh anziehen.
Am Morgen gab es Hafermus, oft auch mittags und abends.
Friseur sah ich die ganze Zeit keinen.
Der chronische Schlafmangel war für mich das Schlimmste! Manchmal war ich so müde, dass ich im Gehen und Stehen eingeschlafen bin. Aber wehe, der Bauer hat einen gesehen! Da hat's gleich Prügel gegeben! Nein, das würde ich meinem ärgsten Feind nicht antun, so was.
Manchmal hat man den Kindern, die daheim nicht gefolgt haben, gedroht: Wenn du nicht brav bist, musst du ins Schwabenland!
Die haben schon gewusst, warum sie damit gedroht haben.
Quelle
Die Schwabenkinder - Die Geschichte des Kaspanaze
@Ursi: Könntest du das Buch vielleicht als Empfehlung aufbereiten?
Liebe Grüße
Cassandra