Germanische Stämme, Volksstämme, Ethnien - aktueller Wissenssstand

Ja okay, das räume ich natürlich ein.
Vielleicht bin ich auch einfach zu bequem, um alles auf dem Silbertablett brühwarm serviert zu bekommen.
Und das ärgert natürlich Personen, die sich ihr Wissen mühsam angeeignet zu haben.

Aber - ein Einwand - es ist ein Unterschied, ob man als Laie bestimmte Themen vertiefen möchte oder ob man sich berufsseitig damit jahrzehntelang beschäftigt und über ein Gebiet der Altertumswissenschaften promoviert hat.
Mein Wissen beruht auf dem gymnasialen Schulstoff der 1970/1980er Jahre und natürlich bin ich interessiert, was sich mittlerweile getan hat und v.a. womit man sich heutzutage (2023) beschäftigt.
 
Um tiefer in die Materie einzusteigen, müsste man vielleicht wissen, wie ist die Landschaft der Altertumswissenschaften aufgebaut? Welche Lehrstühle beschäftigen sich z.B. mit der Epoche der Augusteischen Germanenkriege und was sind die aktuellen Forschungsgebiete? Wer sind die aktuellen Dozenten, die sich aktuell damit beschäftigen?
Was wird in Deutschland gelehrt und was international?
Gibt es da überhaupt eine lokale|nationale|internationale Arbeitsteilung zwischen Forschung, Denkmalpflege, Ausgrabungen, etc.?
Wie ist das organisiert?
Stehen Einrichtungen wie Museum und Park Kalkriese für sich allein, lehren und forschen sie im Verbund mit Lehrstühlen an Universitäten?

Dtld. ist ein föderales Land. Bildung ist Ländersache, also jedes der 16 Bundesländer ist verantwortlich für seine Schulen und Universitäten als Bildungseinrichtungen. Gleichzeitig wird Forschung aber auch auf Bundesebene organisiert, da greifen also Bund und Länder ineinander, was mal mehr, mal weniger gut funktioniert.

Da du explizit Kalkriese angesprochen hast, werde ich die Verknüpfung wissenschaftlicher Einrichtung anhand von Kalkriese skizzieren: Die Grabungen in Kalkriese sind nach den Funden von 1987 1988 angelaufen. Damals war das ganze in den Händen der Kreisarchäologie Osnabrück, in Zusammenarbeit mit der Universität Osnabrück. Kreisarchäologien sind Denkmalschutzbehörden. Ihr Augenmerk liegt vor allem im Erhalt von archäologischen Bodendenkmalen oder ihrer dokumentarischen Sicherung, so sie aus diversen Gründen nicht erhalten werden können, wohingegen die Universitäten der Forschung und Lehre verpflichtet sind.

Irgendwann ist dann das Museum Kalkriese, das bereits von der Kreisarchäologie Osnabrück eingerichtet wurde, als eigenständiges „Unternehmen“ daraus hervorgegangen. Die Eheleute Rost/Wilbers-Rost haben an der Uni Osnabrück Seminare gegeben. 2016 hat für die Grabungen Prof. Salvatore Ortisi (dessen Frau für das DAI in Athen arbeitet) von der Uni Osnabrück die wissenschaftliche übernommen, Ortisi ist noch in demselben Jahr an die Uni München berufen worden, behielt aber die wissenschaftliche Leitung in Kalkriese. Die Kreisarchäologie Osnabrück, das Museum Kalkriese und die diversen Universitäten sind also miteinander verknüpft, auch wenn die Kreisarchäologie und das Museum Kalkriese mittlerweile getrennte Organisationen sind.

2016 bis 2022 schrieb eine Doktorandin des Bergbau-Museums Bochum ihre Diss. über den metallurgischen Fingerabdruck der in Kalkriese gemachten Funde. Diese Diss. wurde von Beginn an medial begleitet. Abgesehen davon müssen Forschungsprojekte drittmittelfinanziert werden, diese Drittmittel müssen eingeworben werden und die Stiftungen haben Gremien, welche über die Drittmittelverteilung befinden: Ist das Forschungsvorhaben überzeugend? In diesen Gremien sitzen dann wiederum Fachleute (z.B. Professoren von Universitäten), welche das bewerten und somit die Grundlage dafür geben, ob ein Forschungsvorhaben drittmittelfinanziert wird.

Teile des kürzlich gefundenen Schienenpanzers aus Kalkriese wurden im vergangenen Jahr im LWL-Römermuseum in Haltern (NRW) im Rahmen einer Ausstellung als Leihgabe ausgestellt.

Ulrich Wertz von der Villa Borg (Saarland) bzw. Nds. Amt für Bodendenkmalpflege (leider dieses Jahr verstorben) machte regelmäßig für Kalkriese numismatische Espertisen

Auf internationaler Ebene haben die Eheleute Rost/Wilbers-Rost ihre Forschungsergebnisse mit amerikanischen Schlachtfeldarchäologen, die am Little Big Horn arbeiteten geteilt und verglichen.

Es gibt in der Wissenschaft in regelmäßigen Abständen Kolloquien und Symposien. Da kommen dann Fachwissenschaftler verschiedener Disziplinen zu einem bestimmten Thema zusammen und halten Forschungsvorträge und Diskussionen, die dann auch in Tagungsbänden publiziert werden. Also beispielsweise zu Kalkriese. Oder zu Germanicus. Oder zu Medizin in der Antike in Xanten, wo dann Kalkrieser Archäologen Kalkrieser Knochenfunde vorstellen….

Kalkriese selbst organisiert im Übrigen neben seiner Dauerausstellung, die auch alle paar Jahre mal überarbeitet wird (durch neue Funde ergänzt, neue Technik, neue didaktische Konzeption, neue Theorien), auch regelmäßig Sonderausstellungen. Das können sowohl Ausstellungen zu eigenen herausragenden Funden sein (etwa die Goldmünzen, die 2016 gefunden wurden, oder der Schienenpanzer mit der Fessel) als auch Ausstellungen zu anderen archäologischen Themen, die sich oft aber nicht immer um Römer und/oder Germanen oder Schlachtfeldarchäologie drehen. Vor einigen Jahren gab es eine Sonderausstellung zum Thema Migration aus archäologischer Perspektive, in einem anderen Jahr zu Piraterie im Mittelmeer in der Antike. Dazu muss Kalkriese natürlich mit anderen Instituten und Museen auf internationaler Ebene zusammenarbeiten (denn i.d.R. haben deutsche Institute wenig archäologisches Material zu mediterraner Piraterie in der Antike in ihren Magazinen liegen).

Ich schrieb ja oben auch von einem Gegeneinander.

Als man in den 1990er Jahren mit den Funden von Kalkriese an eine breitere Öffentlichkeit ging – spätestens ab 1999 war offiziell von Varusschlacht die Rede – da gab es viel Widerstand. Sehr breit aus außerwissenschaftlicher Perspektive, aber punktuell auch aus wissenschaftlicher Perspektive. Die Kritik war nicht immer konstruktiv formuliert, aber grundsätzlich ist Kritik in der Wissenschaft notwendig, um Wissenschaftspositivismus zu vermeiden, um Argumentationen zu verbessern. Kritik gibt ja auch neue Impulse.* Besonders von den Universitäten Münster (Glüsing) und Hannover (Kehne) kam Kritik an der Zuordnung. Über die Jahre ist die Kritik aber immer leiser geworden und irgendwann verstummt. Man kann heute davon ausgehen, dass die herrschende Meinung in der Wissenschaft die ist, dass Kalkriese (ein) Ort der Varusschlacht ist, wobei das letztlich wissenschaftlich betrachtet eigentlich unwichtig ist.





*aufgrund von Kritik an der Germanenwallhypothese hat es z.B. die Grabungen der Jahre 2016 – 19 gegeben, welche der These nachspürten, ob der Oberesch nicht doch ein Römerlager war. Die Frage, ob Kalkriese Varusschlacht oder nicht doch Germanicus/Caecina war, ist Grundlage für die Untersuchungen nach dem metallurgischen Fingerbadruck der Legionen gewesen; in der Numismatik (Münzen, Gegenstempel) wurde noch mal genau hingeschaut, weil daran eben dann auch die Datierung hing, ob das Ereignis vor oder nach 10 n. Chr. stattgefunden hat.
 
Ich bin heute der Frage nachgegangen, ob das Museum von Las Navas de Tolosa, das auch ein Museum ist, welches sich einer Schlacht widmet, nämlich der Schlacht von Las Navas de Tolosa 1212 zwischen verschiedenen christlichen Herrschaften (Kastilien, Navarra, Aragón, zzgl. Rittern und Soldaten aus Frankreich und aus Österreich - wobei die Österreicher erst ankamen, als die Schlacht schon geschlagen war, die Franzosen tw. wg. unterschiedlicher Konzeptionen vorzeitig wieder abreisten - die Spanier waren wenig begeistert, dass die Franzosen die morerías angriffen, die Maurenviertel in den christlich beherrschten Regionen) und den Almohaden archäologische Funde zeigt, den das geht aus der Website des Museums nicht klar hervor.

Also recherchierte ich dazu und fand einen Artikel, der 2015 in der Zeitschrift ARPI. Arqueología y Prehistoria del Interior Peninsular 02 veröffentlicht wurde: Ramírez Galan, Mario: Las Navas de Tolosa: musealizando su campo de batalla (S. 51 - 67) Und in diesem Artikel stand dann plötzlich etwas, was mich hellhörig machte. Zunächst aber, zur Kontextzalisierung, zwei Zitate aus dem Forum:

Auf internationaler Ebene haben die Eheleute Rost/Wilbers-Rost ihre Forschungsergebnisse mit amerikanischen Schlachtfeldarchäologen, die am Little Big Horn arbeiteten geteilt und verglichen.
[...]
Dazu muss Kalkriese natürlich mit anderen Instituten und Museen auf internationaler Ebene zusammenarbeiten (denn i.d.R. haben deutsche Institute wenig archäologisches Material zu mediterraner Piraterie in der Antike in ihren Magazinen liegen).
,
Was mich ärgert, sind bornierte und/oder faktenwidrige Argumentationen, Versuche die Kalkrieser Funde zu bagatellisieren. Kalkriese ist ein international anerkannter Fundort, dessen Bedeutung sich - entgegen den Vorstellungen mancher Laien - eben nicht daran misst, ob es nun der Ort dieser einen Schlacht war oder nicht.

Mario Ramírez Galan schreibt dort (S. 52):

La musealización de los campos de batalla es una quimera en nuestro país, una utopía, ya que hay factores que imposibilitan la introducción de esta forma de gestión patrimonial dentro de la mentalidad española. Todo ello sitúa a nuestro país, siendo bastante condescendientes, en posi-ciones secundarias dentro de la arqueología de campos de batalla y de la musealización de esta tipología de yacimientos.

En este campo de la arqueología hemos decidido centrarnos en Estados Unidos, Francia y Alemania, buscando países de distintas zonas que trabajen el acondicionamiento de estos lugares para la visita del público interesado en la historia militar, sin olvidarnos de otros lugares como Ingla-terra o Canadá donde la musealización de esta tipología de yacimientos es de gran nivel, y conoci-da a nivel mundial.

Übersetzung

Die Musealisierung von Schlachtfeldern ist eine Chimäre in unserem Land, eine Utopoe, schon ein gewisse Faktoren der spanischen Mentalität es unmöglich machen, diese Form der Verwaltung des Kulturerbes einzuführen. All das situiert unser Land, sehr herablassend auf den hinteren Plätzen auf dem Feld der Schlachtfeldarchäologe und der Musealisierung solcher Arten von Fundplätzen.

Auf diesem Feld der Archäologie haben wir uns entschieden, uns auf die Vereinigten Staaten, Frankreich und Deutschland zu konzentrieren, um in verschiedenen Regionen Länder zu finden, welche daran arbeiten diese Orte für ein militärhistorisch interessiertes Publikum zugänglich zu machen, ohne dabei England oder Kanada zu vergessen, wo die Musealisierung dieser Art von Fundplätze von hohem Niveau und international bekannt ist.
Nachdem Ramírez Galan zunächst einige Schlachtfelder verschiedener Zeitstellung in den USA thematisch anreißt, kommt er auf Frankreich (Schlachtfelder der beiden Weltkriege zu sprechen, und geht dann schließlich zu Deutschland über. Hier in Dtld. rekurriert Ramírez Galan auf nur ein einziges Bsp., S. 53 f:

En último lugar nos desplazamos a Alemania, con la batalla de Kalkriese, uno de los hitos dentro de la arqueología de campos de batalla. En este lugar, según R. Zulauf y L. Schweingruber un nuevo tipo de museo arqueológico nace del intenso juego de conjunto entre el paisaje, la arquitectura, el arte y la didáctica museística, que mediante talas extensas y repoblaciones forestales ha creado una posible imagen del paisaje histórico.​

Zuletzt versetzen wir uns nach Dtld., mit dem Schlachtfeld von Kalkriese, einem der Meilensteine in der Schlachtfeldarchäologie. An diesem Ort, nach [den Schweizer Architekten L[ukas] Schweingruber und R[ainer] Zulauf erwächst ein neuer Typ des archäologischen Museums in einem intensiven Spiel zwischen Landschaft, Architektur, Kunst und der Museumsdidaktik, das mittels weitläufiger Baumfällungen und forstwirtschaftlicher Wiederbesiedlung ein mögliches Bild der historischen Landschaft geschaffen hat.
Im weiteren Verlauf wird ein wenig die Architektur des Museums und des Parks beschrieben, bzw. die Beschreibung der Landschaftsarchitekten zitiert und paraphrasiert und was diese sich dabei gedacht haben (Perspektivenwechsel, Schlacht aus römischer und germanischer Perspektive nachvollziehabr machen...). (Zulauf, R. y Schweingruber, L. de 2008: Museo-parque Kalkriese (Osnabrück, Alemania). Un lugar conmemorativo para pensar y preguntarse. PH: Boletín del Instituto Andaluz del Patrimonio Histórico 6, 66, S. 90 - 105)

Meine eigentliche Frage, die mich überhaupt auf diesen Artikel brachte, wurde aber auch beantwortet. Ja, in Las Navas de Tolosa werden auch archäologische Funde ausgestellt. Und der Aussichtsturm des Museums in Las Navas erinnert frappierend an den in Kalkriese.

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Wobei der Turm in K'Riese (links) aus Flugroststahl ist, wohingegen meine Bilderauswahl des Turms in Las Navas de Tolosa eine Spur weit manipulativ ist, weil ich, um die Ähnlichkeit hervorzuheben, ein Sonnenunter- (oder -auf?-) -gangsbild ausgewählt habe.
 
Guten Abend, ich habe jetzt nicht alle Antworten durchgelesen, aber würde gerne auch Meinung dazu sagen, weil ich glaube, Stamm = Abstammung = Ethnie usw. ist wohl eine falsche Herangehensweise aus heutiger Sicht.
Also meine These zur Diskussion: Nehmen wir die Amaler bei den Ostgoten. Eine "Kernsippe" um die sich herum "Gleichgesinnte" gescharrt haben. Die Ausübung von Macht beruht aber - wie in allen Zeiten- auf den aktuellen Stand der Technik und wie weit ich meine Macht ausdrücken und durchsetzen kann. So weit konnte ich auch herrschen. da seid ihr doch alle bei mir, oder ?! (Ostgoten) Erfolg mit der Eroberung von Italien unter Theoderich. Dann kommt Byzanz und nur Niederlagen. Und die letzten Goten... irgendwo !
Zurück zum alten Rom. Rom war zentral regiert und auf den aktuellsten Stand der Technik und Kommunikation. Seine Macht reichte aber nur bis Schottland, Mauretanien, knapp an Nubien, Mesopotamien und Karpaten. Warum haben sie nicht Indien erobert ? Zentral regierte Reiche (Persien/Indien) und die waren wesentlich näher am Regierungssitz. (military overstrecht) Militärische Überdehnung.
Kommen wir zurück auf germanische Stämme. Eine Sippe macht den Warlord und seine Macht reicht soweit, wie er seine "Mitläufer" am Rand vor Überfällen schützen kann. Da spielt wahrscheinlich Abstammung oder sonstige Verwandschaft keine große Rolle. Die Germanen haben sich nicht als Germanen verstanden(eine Ethnie)! Außerdem sollte man das germanische Heil nicht außer Acht lassen. Wenn der "Führer" im übertragen Sinne kein "Heilsbringer" mehr ist und nur Schlachten verliert, dann orientieren sich die "Randgruppen" an den Machtgrenze eben anderweitig. Deshalb wird wohl auch der Stamm der Cherusker sich aufgelöst haben. Erst war Arminius der "Gröfaz", dann kamen die Römer wieder, er hat meist verloren und zurück gezogen, nicht mehr richtig gewonnen, dann Verrat, dann Auflösung vom Stamm.
Vielleicht sollte man Stamm vor 1500 bis 2000 Jahren mehr so als Interessengemeinschaft sehen auf Erfolgsaussicht. Bleibt der Erfolg aus, dann löst sich der Stamm auf.
 
Man muss wohl von Fall zu Fall differenzieren.

Tatsächlich gab es Stämme, die nur kurz fassbar sind (jedenfalls nur für kurze Zeit in den Quellen auftauchen). Sofern das nicht einfach nur auf die schlechte Quellenlage zurückzuführen ist, ist die Annahme, dass sie (etwa um einen erfolgreichen Anführer und/oder für eine bestimmte Unternehmung) neu entstanden und (etwa nach einem Misserfolg oder dem Tod des Anführers) rasch wieder zerfielen bzw. sich einem anderen Stamm anschlossen, plausibel.

Es gab aber auch Stämme, die über etliche Jahrhunderte hinweg bestanden, etwa die Langobarden, die Markomannen oder die Quaden. Natürlich hatten sie in all dieser Zeit nicht nur Erfolge. Sie muss schon mehr verbunden haben als nur ein gemeinsames Interesse oder ein erfolgreicher Anführer. (Entgegen manchen Darstellungen aus späterer Zeit ist auch nicht unbedingt anzunehmen, dass sie jahrhundertelang konstant von derselben erfolgreichen Sippe geführt wurden.) Das heißt natürlich nicht, dass es sich bei diesen Stämmen um konstante, klar abgegrenzte Verbände im Sinne von Abstammungsgemeinschaften gehandelt hat. Abspaltungen und Absorbierungen anderer Gruppen wird es auch bei ihnen gegeben haben. Aber der Stamm als solcher überdauerte.

Die Cherusker sind übrigens noch bis Ende des 1. Jhdts. fassbar, überdauerten Arminius also sehr wohl.

Zu den Amalern: Wirklich fassbar sind sie erst ab dem 4. Jhdt. (Die von Iordanes überlieferte lange Genealogie ist erstens vermutlich unhistorisch, zweitens die Zuordnung mancher tatsächlich belegter früher Gotenführer zu den Amalern zumindest fraglich, und drittens bedeutet sie nicht, dass die angeblichen frühen Amaler tatsächlich Stammesführer gewesen wären.) Die Goten als solche existierten aber schon vor und unabhängig von den Amalern. Als Stammesführer konstitutiv können sie höchstens für die Ostgoten gewesen sein. Nach dem Erlöschen der Amaler lösten sich die Ostgoten aber dennoch nicht auf, sondern machten unter anderen Königen weiter, von denen einer (Erarich) nicht einmal Gote war.

Ähnlich die Westgoten und ihre angebliche traditionelle Führungssippe, die Balthen. Tatsächlich fassbar sind die Balthen erst mit Alarich I., und sie erloschen nach nicht einmal eineinhalb Jahrhunderten.
 
Mitentscheidend dürfte auch bei den germanischen Gruppierungen das Prestige eines Namens gewesen sein, wenn auch nicht nur. Der Name der Sueben etwa war sehr langlebig, und es ist bisweilen unklar, ob damit eine Bevölkerungsgruppe ("Stamm") oder eher eine Kriegerkaste gemeint war. Zudem gab es verschiedenste Gruppierungen dieses Namens, ob im heutigen Portugal, in Pannonien oder als Vorläufer der "Schwaben". Ob diese Gruppierungen einen gemeinsamen Ursprung hatten, oder nur der Name "cool" war, bleibt dahingestellt.
Auf Grund ihrer Erfolge wurde auch der Name "Franken" Mode. Viele wollten plötzlich Franken sein, und andere Namen in der Region verschwinden nach und nach. Das Prestige des Frankennamens überstrahlte die übrigen. Über Verwandtschaft sagt das erst mal nichts aus.
 
Das Prestige des Frankennamens überstrahlte die übrigen.
Aber nicht den Namen der Bayern! :D

Gut, sie wurden schon nach kurzer Zeit Vasalen der Franken, aber im süddeutschen Raum und bis nach Italien, Österreich und Slowenien wurden sie nicht als Franken, sondern weiterhin als Bayern wahrgenommen.

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Gut, sie wurden schon nach kurzer Zeit Vasalen der Franken, aber im süddeutschen Raum und bis nach Italien, Österreich und Slowenien wurden sie nicht als Franken, sondern weiterhin als Bayern wahrgenommen.

Das unterscheidet sie nicht von den Sachsen und Alemannen, die eben auch als Sachsen und Alemannen wahrgenommen wurden.

Der Unterschied ist der: Die Namen der Sachsen und der Alemannen strahlten so weit aus, dass 'Deutschland' heute noch auf Finnisch Saksa, auf Estnisch Saksamaa, auf Französisch Allemagne, auf Spanisch Alemania und auf Türkisch Almanya heißt.
 
Hallo,

ich finde Swantewits Ansatz sehr diskussionswürdig.
Vor allem der Begriff "Kernsippe". Ich glaube wir sind noch keinen Millimeter vorwärtstgekommen, wie die germanische (Dorf)gesellschaft z.B. während der Augusteischen Germanenkriege aufgebaut war.
Da gibt es weder Beschreibungen noch Graphiken, gar nichts.

Abstammungsgemeinschaften. Da sind wir doch wieder Bei Sören - Sörensen, Hansen, Petersen, Klausen, Nissen und, und, und ...
Sohn des XX als namensgebende Abstammungsgemeinschaft.

Nehmen wir mal an, Segestes hätte 5 ♂ Söhne und 5 ♀ Töchter.
♂ Erstgeborener - Hoferbe (Herrenhof) + Fürstentitel
♂ Zweitgeborener - wird mit Fürstentochter YY verheiratet und darf mit ihr im Dorf der Schwiegertochter einen Ableger gründen
♂ Drittgeborener - ist noch etwas da, was verteilt werden kann?!?
♀ Erstgeborene Thusnelda - wird Chattenfürsten Adgandestrus versprochen

Na ja, da kommt man sowieso nicht weiter.

Grüße
 
Ich glaube wir sind noch keinen Millimeter vorwärtstgekommen, wie die germanische (Dorf)gesellschaft z.B. während der Augusteischen Germanenkriege aufgebaut war.
Da hat sich wohl nicht sehr viel verändert. Es war eine patriarchische Gesellschaft, d.h. es herrschte Hypergamie: Frauen konnten in höhere Klasse heiraten, ohne dass dadurch das Prestige des Mannes darunter litt. Und das ist in Deutschland – und anderen patriarchischen Gesellschaften – im Großen und Ganzen immer noch so.

Gut, Frauen haben nicht mehr die Aufgabe, für möglichst viele Nachkommen zu sorgen, aber einen Stammhalter sollten sie schon noch hervorbringen. :D

Und in dörflichen Gesellschaften gibt es nicht mehr, wie bis in die 1950-60er Jahre, den sog. reichen (Groß)Bauern, den zu heiraten für alle Frauen des eigenen und der Nachbardörfer einen sozialen Aufstieg bedeuten konnte, weil das Bauersein kein hohes Ansehen mehr genießt, sondern, wie überall, das Geld und ev. der akademische Titel.

Ebenso haben Soldaten ihr hohes Ansehen, das sie bis zum I. und II. Weltkrieg gehabt haben, verloren.

Dafür hat aber das Ansehen von Frauen zugenommen, wenn sie was können und/oder gut aussehen: Die Nachrichten- und Sportsendungen und die allwöchentliche Talkrunden werden z.B. inzwischen von Frauen dominiert, ich habe den Eindruck, die wenigen Männer haben dort nur noch eine Alibifunktion. :D

Doch Patriarchat hin oder her, Frauen waren auch in der Antike Strippenzieherinnen im Hintergrund, d.h. oft taten ihre Männer das, was ihre Frauen sagten – andernfalls gab es u.U. keinen Sex; Sexstreik ist obrigens keine neue Erfindung – siehe Lysistrata des Aristophanes.
 
Der Unterschied ist der: Die Namen der Sachsen und der Alemannen strahlten so weit aus, dass 'Deutschland' heute noch auf Finnisch Saksa, auf Estnisch Saksamaa, auf Französisch Allemagne, auf Spanisch Alemania und auf Türkisch Almanya heißt.

Das kann man aber auch damit erklären, dass die Nachbarvölker den Namen des nächstliegenden germanischen Stammes auf Deutschland übertrugen; außer die slawischen Völker, die an Bayern grenzen, und da einen anderen Weg gingen.
 
Das kann man aber auch damit erklären, dass die Nachbarvölker den Namen des nächstliegenden germanischen Stammes auf Deutschland übertrugen; außer die slawischen Völker, die an Bayern grenzen, und da einen anderen Weg gingen.

Also im Hinblick auf die Türkische Bezeichnung "Almanya" haut das jedenfalls nicht hin, da hätte das dann eher "Bavaria" wenn nicht "Austria" heißen müssen.

Aus französischer Perspektive vage ich auch die Prognose, dass es hier nichts mit geographischer Nähe zu tun hat, denn rein gographisch waren da die Alemannen nicht näher, als die Franken.
Die Bezeichnung im Französischen mag eher etwas damit zu tun haben, dass man sich selbst in der Tradition der Franken sieht (deswegen heißt es ja la France) und sich auf die "Alemannen" eher aus Abgrenzungsgründen als aus Gründen der Geographie verständigt hat.

Sind aus estnischer und finnischer Sich die Sachsen der nächtsgelegene germanische Stamm gewesen? Wage ich zu bezweifeln.
 
Bei den Finnen und Esten stellt sich wohl die Frage, woher sie die Namen haben. Sie könnten sie von den Nordgermanen übernommen haben, unter denen "Saxland" eine gebräuchliche Bezeichnung für das (südlich von Dänemark liegende) Sachsen und auch ganz Deutschland war. Insbesondere Dänen und Schweden waren auch im Ostseeraum unterwegs (Estland stand im Mittelalter zeitweise unter dänischer Herrschaft) und könnten die Bezeichnung den dortigen Anrainern weitervermittelt haben.
 
Das kann man aber auch damit erklären, dass die Nachbarvölker den Namen des nächstliegenden germanischen Stammes auf Deutschland übertrugen
Im Fall des Alemannennamens waren es jedenfalls nicht die Nachbarvölker. Die Bezeichnung regnum Alamanniae haben die "Deutschen" wohl selber erfunden:

"Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird im Heiligen Römischen Reich die Bezeichnung regnum Alamanniae anstelle von regnum Theutonicum für den engeren Bereich des „deutschen“ Königreiches gebräuchlich."​

Alamannen – Wikipedia
 
Der Alemannenname zieht sich jedenfalls einmal rund ums Mittelmeer: Allemagne > Alemania/Alemanha >
ألمانيا/Almāniyyā > Almanya
Dagegen Germania in Italien (aber tedesco) und Rumänien, Γερμανία, Германија (maz.),
Германия (russ.), Герма̀ния (bulg.), גרמניה
Dagegen Njemačka (kroat.), Niemcy (pol.), Німе́ччина (ukr.) -> das Ungarische übernimmt die westslaw. Variante: Németország
Weißrussisch kennt beide im Slawischen verbreiteten Varianten: Няме́ччына oder Герма́нія

Kurios: der arab. Name für Österreich leitet sich vom westslaw. Namen für Dtld. ab: النمسا/al-nāmsā, vgl. auch die Karl May-Figur Kara Ben Nemsi (Karl Sohn des Österreichers/Deutschen)
In historischen hebräischen Texten sind die Deutschen die Aschkenasim, wir verstehen jiddischsprachige Juden und deren Nachkommen als Aschkenasim. Der im modernen Ivrit benutzte Name Germaniah gehört zur ostslawischen Gruppe, es gibt die linguistische Minderheitenmeinung, dass Modernhebräisch eigentlich eine indoeuropäische, stark durchs Russische beeinflusste Sprache sei.
 
Hallo Dion,
besten Dank für das Stichwort Hpergamie.
Mal eine andere Frage: ab wann haben wir denn mehr oder weniger gesicherte Aufzeichnungen, wie die kleinbäuerliche Gesellschaft aufgebaut war?
Die Altsachsen als direkte Nachfahren? Ab wann wird der Faden klarer? Wo kommen z.B. die Ostfalen ins Spiel? Kann man das Stammesherzogtum Sachsen als Ankerpunkt nehmen oder wissen wir darüber genauso wenig wie über die Cherusker, Chauken, Angrivarier, etc.
Widukind von Corvey Herkunftssage der Sachsen ...

Ich zitiere mal WP:
Es ist fraglich, ob es vor der Eroberung und Christianisierung durch Karl den Großen in Sachsen schon ein Stammesherzogtum mit einer Person oder gar einer Familie gab, in deren Händen dauerhaft die Führung des ganzen Sachsenstammes lag. Nach Widukind von Corvey war ein Herzog („herizogo“) zunächst das, was der Name im Althochdeutschen aussagt: „Derjenige, der in Kriegszeiten vor dem Heer zieht“ (dux belli).
Hausbau und Bewaffnung sind doch sehr ähnlich, vermutlich war ihre Gesellschaft auch sehr ähnlich aufgebaut und sicherlich nicht fundamental anders.

Was ich damit sagen will.
Die Menschen, die Umwelt und die Gegebenheiten haben sich ja nicht fundamental geändert.
Ohne äußeren Druck ändert der Mensch seine Gewohnheiten nicht unbedingt freiwillig. Und es war ja offensichtlich nicht so, dass z.B. ständig neue Völkerscharen durchs Weser- und Leintal rauschten, sich neu durchmischten oder das Alte ausrotteten.
Die Segestes-Sippe wurde ja schließlich auch nicht ausgerottet, starb aus oder sonst wie. Sondern sie nahm vielleicht neue Herrschaftsformen an. Vielleicht eine neue Fürstenfamilie, die dann nicht mehr unter dem roten Stammesschild, sondern unter dem blauen Sachsenschild lief. Keine Ahnung, ob das realistisch ist?!?

Aber alles andere blieb doch höchstwahrscheinlich über größere Zeiträume (Jahrhunderte) mehr oder weniger konstant, oder? Die gleiche Rinderrasse - okay vielleicht irgendwann doch mal mit friesischen Rinderrassen eingekreuzt (um mehr Milchleistung zu bekommen ;-)) aber der Rest. Bewirtschaftungsformen, ackerbauliche Nutzung, das blieb doch alles bis ins Frühmittelalter, oder?

Die schärfste Zäsur war doch die Unterwerfung durch die Franken und die alles umwälzende Zwangschristianisierung. Das könnte man doch eher als die Stunde Null ansehen. Von dort an, also dem Jahr 804 wurde alle fundamental anders.
Will heißen, die Unterwerfung durch Karl den Großen war sicherlich prägender als der Kontakt mit den Römern und die Augusteischen Germanenkriege --- erst ab der Eingliederung ins Fränkische Reich änderte sich bei den germanischen Ureinwohnern alles radikal wie fundamental.

What I mean: Menschen und ihre Gesellschaften ändern sich nicht freiwillig aus dem Inneren heraus.
Erst durch biologisch-technischen Fortschritt, die Erkenntnis, z.B. dass andere Landsorten einen Mehrertrag bringen, dass eine andere Nutzungsweise erfolgreicher als die ursprüngliche ist. Wandel durch Handel. Mehr Nahrung, größere Familien, mehr Arbeitsteilung in der dörflichen Gesellschaft etc.
Aber eine andere Sprache, eine andere Erbfolge, ein anderes Rechtsystem kommt nur durch äußere Einflüsse wie z.B. fremde Eroberer zustande.

Könnte etwas dran sein oder ist es eine haltlose Bullshit-These? Was meint Ihr?

Ich kriege bestimmt wieder Mecker, weil ich zu viele unterschiedliche Dinge zusammenschmeiße. Sorry für den unqualifizierten Beitrag.
 
Die Menschen, die Umwelt und die Gegebenheiten haben sich ja nicht fundamental geändert.
(...)
Die schärfste Zäsur war doch die Unterwerfung durch die Franken und die alles umwälzende Zwangschristianisierung.
(...)
Erst durch biologisch-technischen Fortschritt, die Erkenntnis, z.B. dass andere Landsorten einen Mehrertrag bringen, dass eine andere Nutzungsweise erfolgreicher als die ursprüngliche ist. Wandel durch Handel. Mehr Nahrung, größere Familien, mehr Arbeitsteilung in der dörflichen Gesellschaft etc.
Aber eine andere Sprache, eine andere Erbfolge, ein anderes Rechtsystem kommt nur durch äußere Einflüsse wie z.B. fremde Eroberer zustande.

Den Stamm der Sachsen gab es vor und nach der fränkischen Unterwerfung. Zur Zeit des Arminius gab es ihn nach allem, was wir wissen, noch nicht.

Eine Veränderung der Wirtschaftsweise kann auch eine Veränderung der Gesellschaft nach sich ziehen, und die kann tiefgreifender und umfassender sein als eine Eroberung. Nimm nur (als extremes Beispiel) die Industrialisierung. Niemand musste GB erobern, dennoch hat es sich extrem verändert, auch wenn die Sprache und die Grundzüge des Rechtssystems gleich blieben sind. In Frankreich hat sich auch das Rechtssystem (und in großen Teilen des Landes die auch die Sprache) geändert.

Zwischen dem 1. und dem 10. Jh. hat sich das freie Germanien verändert, auch wenn es nicht Teil des römischen Reiches war; wie du sagst durch Handel durch Wandel, eine Entwicklung der Produktivkräfte, Bevölkerungswachstum, das entstehen neuer politischer Strukturen wie der Großstämme. Wir kennen die Details nicht, aber dass es eine solche Entwicklung gab ist mE nicht von der Hand zu weisen.

Sicher, Veränderungen, die durch Eroberung und Unterwerfung initiiert werden, sind oft traumatischer, da meist schneller und (mehr) durch Gewalt erzwungen, aber Veränderungen aus der Gesellschaft selbst heraus, die durch ökonomische Prozesse inittiert werden, können sehr tief gehend sein.
 
Hausbau und Bewaffnung sind doch sehr ähnlich,
Hausbau orientiert sich idR daran, was
  • Klimatisch notwendig ist (Flach- oder Schrägdach)
  • Was an Baumaterialien vorhanden ist
  • Wie der Lebensunterhalt erwirtschaftet wird
Waffentechnologie vor Erfindung der Feuerwaffen ist eigentlich global relativ einheitlich. Seit dem Mesolithikum existieren Pfeil und Bogen, Hiebwaffen. Hiebwaffen sind seit den Metallzeiten verbessert und tw. zu Stichwaffen "ausgereift" worden aber im Prinzip bis ins 19. Jhdt. relativ gleich geblieben, der Streitkolben < Keule verschwindet im ausgehenden Mittelalter, aber Schwert und Dolch bleiben. Bis auf die Franziska, die Wurfaxt der Franken, kennen wir eigentlich keine Waffen, die ethnisch zuordenbar sind und selbst bei der ist das keineswegs 100%ig sicher. Der Atlatl ist in Europa vergessen worden (war hier aber im Mesolithikum im Gebrauch, weshalb wir das Nahua-Wort Atlatl für die Speerschleuder verwenden).
Eine ethnische Differenzierung anhand von Waffen ist nicht wirklich möglich.
 
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