lynxxx
Aktives Mitglied
Schade, das es keine grünen Sterne mehr gibt! :weinen:Ich hätte da einige oben vergeben.
R.A.: Im Prinzip hast du recht... wenn es denn in einer Fachzeitschrift/wiss. Buch abgehandelt würde.
Aber nicht in einem Massenmedium, wo viele Leser gesagtes nicht selber mangels Wissen einzuordnen wissen. Deshalb müsste man ihnen den Kontext, auch den ausserislamischen Kontext, wenigstens teilweise erläutern, ansonsten bekommt er eine ganz falsche Vorstellung von der historischen Gegebenheit.
Aber darum geht es dem Autor ja auch gar nicht in diesem Artikel. Es geht um Angst, um Xenophobie, um Politik.
Dazu wildert er in fremden Gefilden rum, sprich, er tut so, als würde er ein "Experte für den Islam" sein, durch seine zahlreichen hist. Beispiele, durch scheinbar detailierte Kenntnisse, jedoch ist er wie ein Mediävist, der eine physikalische Gleichung erklären will. Jedem Islamwissenschaftler sträuben sich die Haare, ob Flaigs Unkenntnis. (Das ist selbst bei angeblich kundigen Islamwissenschaftlern wie bei Raddatz der Fall, die aber in ihrer Zunft isoliert sind, so wie Klimawandel-Leugner, die aber bis vor kurzem gern gesehen Talkgäste waren). Das weiß der Ottonormal-Leser ja nicht, auch nicht hier. Wie ich schon in diesem Thread mit Bedauern feststellen musste: Die Wut der arabischen Welt - Seite 6 - Geschichtsforum
Er nimmt 1400 Jahre Islam, und greift sich willkürlich irgendwelche Dinge heraus, rührt kräftig rum, und stellt das als Beleg seiner Thesen oder Gedanken hin.
Es kommt aber auch im Islam darauf an, zu unterscheiden zwischen Theorie und Praxis. Das gilt auch für andere Religionen, deren Führer mal im Namen von Gott gehandelt haben, mal für die Geldbörse. Und dann muss man differenzieren zwischen Minderheiten und Mehrheitsauffassungen.
Und nicht jeder Tyrann in der isl. Geschichte ist eben ein typischer und zu verallgemeinender Fall, genausowenig wie bei christl. Reichen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, die nichtislamischen Minderheiten waren in der Theorie durchaus zweitklassige Bürger. In der Praxis sieht die Sache aber wesentlich komplexer aus, z.B. gingen im Osm. Reich zahlreiche Frauen zu islamischen Gerichten, weil sie dort mehr "Frauenrechte" hatten (passt so gar nicht ins heutige Klischee, oder? ):
Zitat aus Quataert, siehe Lit.Tipp im Osm. Reich-Subforum:
"Christian widows frequently registered in the Islamic courts because these provided a greater share to the wife of the deceased than did ecclesiastical law. Or, take the case of dhimmi girls being forced into arranged marriages by fellow Christians or Jews. Since Islamic law required the female’s consent to the marriage contract, the young woman in question could go to the Muslim court that took her side, thus preventing the unwanted arranged marriage."
Dann wurde im 19. Jahrhundert ja das "europäische" Recht im Osm. Reich eingeführt (Stichwort: Tanzimat), und nun waren alle Bürger gleich, alle mussten zum Militärdienst, und was passierte? Viele Nichtmuslime weigerten sich, oder wollten keinen Militärdienst leisten, und bezahlten lieber eine "Befreiungsgebühr", um z.B. weiterhin ihre Äcker bestellen zu können, was dann im Endeffekt die Situation der Kopfsteuer früherer Jahrhunderte bedeutete; die nichtmuslimischen Frauen versuchten oft noch sich nach isl. Recht scheiden zu lassen, weil sie dort mehr Rechte hatten, aber es wurde nach und nach eingeschränkt, weil nun das europäische Recht galt, und das hieß im Endeffekt, die "Frauenrechte" sanken höchstwahrscheinlich im Niveau.
Dies nur mal als kleines Beispiel der historischen Komplexität. Wer mal eine aktuelle Übersicht über die letzten 500 Jahre (islamisch-) osmanischer Zeit haben möchte, dem empfehle ich die beiden engl. Bücher im Lit.Tipp wärmstens, viele Mythen werden dort entzaubert, auch z.B. die angebliche Ghettoisierung in musl. Stadtviertel und christ. und jüd. Stadtviertel. Es zeigten sich nach Auswertung von Registern in den letzten 20 Jahren, dass die Durchmischung in vielen Städten viel stärker als angenommen war, und dasd Einkommen der bestimmende Faktor der Nachbarschaft war. Einige Stadtviertel, wie das kurdische in Alleppo hatten gar keine Kurden mehr, nur die Bezeichnung. usw. Oder das es kaum oder keine musl. Händler gab, auch ein "Urban Myth"...
Unten werde ich dazu ein oft kolportiertes Stück näher anschauen, um die Argumentationslinien und Denkfehler aufzuzeigen.
Aber erst einmal willkürlich einige Dinge aus dem Faz-Artikel herausgegriffen, auch in den historischen Kontext gestellt (jetleechan hat ja schon angefangen):
1. " finden sich im Programm, das der Gründer der Muslim-Brüderschaft Hassan Al Banna ..." Hassan al-Banna hat diese Worte in den dreissiger Jahren des 20. Jh. gesprochen. Ich brauche nicht erinnern, wer noch alles in diesem Jahrzehnt bei uns Schwachsinniges gesagt hat. Aber es ist auch egal, was er sagt, denn es ist eine extremistische Äußerung eines Islamisten. Also eines Teils des Islam, der heute in aller Munde ist, aber wie die Rechtsextremen bei uns nicht mehr als maximal 15% der Muslime ausmachen. Und davon sind auch nicht alle gewaltbereit, was auch oftmals vergessen wird. Es gibt auch Sympathisanten, Globalisierungsverlierer, diese gibt es aber überall, ohne dass sich irgendeine konkrete Gefahr (für uns) ergibt. Weiteres zu der Entstehung der Muslimbrüder Anfang des 20. Jh. auch unten.
2. "sie [die Muslimbrüder] gelten als ,moderat“" Falsch. Was soll das denn? Das ist Quatsch, sie gelten bei uns und in Ägypten als Extremisten und werden vom Verfassungsschutz überwacht. Er weiß das sicherlich auch, da er dieses aber nun schreibt, wird seine eigentliche Absicht mit dem Artikel nur deutlich.
3. "Gewiß, winzige pazifistische Strömungen im Islam haben diese Interpretation nicht akzeptiert" Falsch. Das Haus des Islam und des Krieges ist Theorie. Wie bei vielen Ideologien und Religionen. Die Praxis findet man hier: http://www.geschichtsforum.de/297399-post10.html
Abgesehen davon, dass es nicht winzige Strömungen sind oder waren. Da muss er mal aufdröseln, welches Jahrhundert er meint, welche Region, welche Gruppen.
4. "andere Strömungen, etwa die sogenannten charidschitischen" Falsch. Hier bringt er den Dschihad durcheinander und das vereinfachend auf die Formel "Heiliger Krieg" . Heute machen übrigens die Charidschiten weniger als 1 Promille der islamischen Strömungen aus.
Damals (7. Jh.!) wollten sie nach den ersten Kalifen den geeignesten Muslim zum Kalifen wählen lassen, egal woher er kam, nicht wie die Mehrzahl der Muslime es wollte, in direkter Linie vom Geschlecht des Propheten (Sunniten) oder vom Schwiegersohn Ali (Schiiten). Mehr zu den Charidschiten, zum Dschihad, zum Haus des Islam und dem Haus des Krieges hier: http://www.geschichtsforum.de/f36/dynastien-namen-und-begriffe-der-isl-welt-14238/
Besonders Punkt 3,4,7 und 8.
5. "eine Fatwa des Großmufti der Al-Azhar-Universität in Kairo von 1948" Al-Azhar ist eine bedeutende Uni, aber Fatwas gibt es wie Sand am Meer, und man findet zu jedem kleinem "Pups" eine Fatwa, heute, wie in der Historie. Verbindlich sind sie nicht. (Zur Erinnerung: Im Islam gibt es keine kirchliche Hierarchie, die den Zugang zu Gott reglementiert, jeder hat einen direkten Draht, also keine kirchl. autoritäre Strukturen im Islam)
Damals (1948) war zudem die Zeit der Entkolonialisierung und ich möchte mal wissen, welche Völker damals die (europäische) Haager Landkriegsordnung interessierte? So ein Schwachsinn.
6. "deshalb wurden sie in der Regel für höchstens zehn Jahre abgeschlossen" Falsch, im osmanischen Reich schon mal nicht. Will nun nicht jedes Jahrhundert durchgehen.
7. "den militärisch überlegenen Muslimen, die Gegenseite unentwegt zu erpressen; auf diese Weise sind im Laufe der Jahrhunderte riesige Mengen an Geldern und Menschen an die muslimische Seite geflossen" Falsch. Verträge wurden auch geschlossen, weil die muslimische Seite schwächer wie die Gegenseite war. "Erpressen" ist der falsche Ausdruck, er verwechselt das mit dem "Vasallentum", welches schon die Römer nutzten, um ihr Weltreich stabil zu halten, so z.B. auch die Osmanen. Das war intelligent, und teilweise auch zum Vorteil für beide Seiten (Pax Romana, Pax Osmanica), sofern die Vassallenfürsten intelligent genug waren, loyal zu sein, und nicht in ihre eigenen Taschen über das Maß zu wirtschaften. Siehe das gestaffelte osm. Herrschaftssystem auch hier:
http://www.geschichtsforum.de/316183-post5.html
Und wo sollen "riesige Mengen an Menschen" in die isl. Gebiete geflossen sein? Mir sind keine größeren Völkerwanderungen ausser den türkischen und mongolischen bekannt. Vielleicht noch die Juden Spaniens ins Osmanische Reich. Und dazu noch ein paar Protestanen ins osmanische Ungarn und Moldau (Luthers Polemiken folgten daraufhin). Aber deren Wanderungen haben weiß Gott nichts mit einer "Erpressung" zu tun.
Zu den "Erpressungen" siehe auch die Tribute im Film in Punkt 8, interessanterweise oft auch von kirchlichen Vertretern eingetrieben, komisch, ne?
8. "Ibn Chaldun. [...] gezwungen zur Religion des Islam zu bekehren.“
Höchstwahrscheinlich Falsch. Zuerst, er sollte mal langsam anfangen, zu erwähnen, WANN jemand was gesagt hat, Chaldun lebte im 14. Jh. und letzteren Teil des Satzes halte ich für eine Fälschung. (Zur Erinnerung: Im Islam gibt/gab es bis auf wenige Ausnahmen keine Zwangsislamisierung). Ich denke mind. ein Übersetzungsfehler und wiederum die ungenaue Wiedergabe des kleinen und großen Dschihads. (kleiner Dschihad = milit. Kampf, großer Dschihad=geistiger Kampf gegen seine eigenen Schwächen, seinen Schweinehund)
siehe hier für den Autoren:
http://www.geschichtsforum.de/f36/i...-huntington-toynbee-p-kennedy-und-marx-14767/
Wer mal wissen will, wie die ersten Jahrhunderte des Islam abliefen, wieso so viele Massen Konvertierten, wie sich die Steuern entwickelten (z.B. waren alle Konvertierten erst von der Steuer befreit, was bedeutete, dass die Nichtkonvertierten die Last aller tragen mussten und die Steuerlast durch immer mehr Konversionen immer stärker wurde, bis man sich dann ein anderes Steuersystem ausdachte.) der kann oben im Link den "Noth" lesen, oder sich mal das Vorlesungsskript, und sich die Vorlesungsfilme anschauen:
Vorlesung: Geschichte und Geographie der islamischen Welt (WS 2004/05)
z.B. Film 11a Tribute, Entstehung von Kopfsteuer, usw.
Um das Word-Script (1. Link) lesen zu können, braucht ihr den Transkriptions-Font Beyrut: http://www.orient.uni-freiburg.de/fmoll/material/transkriptionsfontsbeyrut.exe
(Man kann das Skript auch nutzen, um zu ermitteln, was in welchem Film behandelt wird)
9. " Indes, die Kreuzfahrer handelten nach gängigem Kriegsrecht;" Sie handelten nach gängigen Kriegsrecht, indem sie ihre Glaubensbrüder, die orientalischen Christen bei der Erstürmung erstachen? Handelten die Kreuzfahrer bei der Plünderung von Konstantinopel auch nach gängigem Kriegsrecht? Nach der "Haager Landkriegsordnung"?
10. "führte in siebenundzwanzig Jahren fünfundzwanzig Feldzüge" Und was tat Napoleon? Cäsar? Spaziergänge? Und zu den Massakern zuvor, habe ich keine Lust alles zu untersuchen, es gab Massaker, immer und überall, auf allen Seiten, mal mehr, mal weniger blutig, wer hätte z.B. gedacht, dass Ende des 20. Jh. immer noch das in Jugoslawien passieren konnte? Scheint im Menschen drin zu stecken, egal welcher Couleur. Abgesehen davon wiederspricht er sich auch, denn er betont doch immer das Sklaventum? Wenn die immer alles massakrieren, wieso dann nicht besser Versklaven und Profit schlagen? Entweder oder? (Vielleicht komme ich nochmals zum Sklaventum...)
11. "Amorium (838) ist lange ein Fanal geblieben; die städtische Kultur Anatoliens hat sich davon nie wieder erholt." Falsch. Man kann heute teilweise noch die Ruinen oder auch stehende Gebäude aus Zeiten danach sehen, die ein eindrucksvolles Zeugnis von hoher städtischer Kultur sind. Abgesehen von der Literatur, die man konsultieren kann. Der Ikonoklasmus (Bildersturm) des Byz. Reiches hat im Übrigen ebenfalls verheerende Wirkungen auf die Kunst und Kultur gehabt.
----------------
Ich habe erst 25% durchgesehen, und schon so viele Sachfehler, abgesehen von den Verkürzungen und dem Herauspicken einzelner Aspekte, um die Argumentation des großen Ganzen zu unterfüttern. Vielleicht lese ich demnächst den Rest mal durch. Falls ihr das auch wollt.
(Achja, was mir ad hoc noch einfällt: theoretische Kleiderordnungen für die "Schutzbefohlenen", also Christen, Juden, gab es tatsächlich, manchmal auch mehr oder minder durchgesetzt, ABER, Kleiderordnungen galten auch für Muslime, und auch für die Leute in christl. Reichen, was z.b. das Tragen bestimmter Farben anbelangt. Nicht so wie heute, wo jeder tragen kann, was er will. Damals hatten bestimmte Zünfte im musl. Gebiet bestimmte Farben, Kleidungsstücke, einige Farben waren reserviert für den Sultan, die Wesire, usw. Also wenn denn mal ein Sultan oder ein Gouverneur besonders mal auf die Kleiderordnungen seiner Untertanen achtete, oder ein Kadi oder ein Zunftaufseher, dann galt es nicht nur für die Christen und Juden, sondern auch für die Muslime. Dieses sollte man wissen, sonst denkt man noch, och, schade, die durften nicht alles tragen, was sie wollten.)
Ansonsten geht auch Flaig in die Denkfalle, wie viele andere, die meinen "der Islam" sei Staat und Kirche im einem, also muss ich hier mal ausholen, und fasse mal zusammen:
Es geht im Prinzip um seine Frage ob Demokratie und Islam vereinbar sind, bzw. waren, das Verhältnis von Staat und Religion im Islam, damals wie heute [Exkurs]:
Westliche Sicht: meistens Unversöhnlich (zumindest in den Medien)
Sprachliches Problem am Satz: Islam = Religion. Demokratie = politisches System.
R.A.: Im Prinzip hast du recht... wenn es denn in einer Fachzeitschrift/wiss. Buch abgehandelt würde.
Aber nicht in einem Massenmedium, wo viele Leser gesagtes nicht selber mangels Wissen einzuordnen wissen. Deshalb müsste man ihnen den Kontext, auch den ausserislamischen Kontext, wenigstens teilweise erläutern, ansonsten bekommt er eine ganz falsche Vorstellung von der historischen Gegebenheit.
Aber darum geht es dem Autor ja auch gar nicht in diesem Artikel. Es geht um Angst, um Xenophobie, um Politik.
Dazu wildert er in fremden Gefilden rum, sprich, er tut so, als würde er ein "Experte für den Islam" sein, durch seine zahlreichen hist. Beispiele, durch scheinbar detailierte Kenntnisse, jedoch ist er wie ein Mediävist, der eine physikalische Gleichung erklären will. Jedem Islamwissenschaftler sträuben sich die Haare, ob Flaigs Unkenntnis. (Das ist selbst bei angeblich kundigen Islamwissenschaftlern wie bei Raddatz der Fall, die aber in ihrer Zunft isoliert sind, so wie Klimawandel-Leugner, die aber bis vor kurzem gern gesehen Talkgäste waren). Das weiß der Ottonormal-Leser ja nicht, auch nicht hier. Wie ich schon in diesem Thread mit Bedauern feststellen musste: Die Wut der arabischen Welt - Seite 6 - Geschichtsforum
Er nimmt 1400 Jahre Islam, und greift sich willkürlich irgendwelche Dinge heraus, rührt kräftig rum, und stellt das als Beleg seiner Thesen oder Gedanken hin.
Es kommt aber auch im Islam darauf an, zu unterscheiden zwischen Theorie und Praxis. Das gilt auch für andere Religionen, deren Führer mal im Namen von Gott gehandelt haben, mal für die Geldbörse. Und dann muss man differenzieren zwischen Minderheiten und Mehrheitsauffassungen.
Und nicht jeder Tyrann in der isl. Geschichte ist eben ein typischer und zu verallgemeinender Fall, genausowenig wie bei christl. Reichen.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, die nichtislamischen Minderheiten waren in der Theorie durchaus zweitklassige Bürger. In der Praxis sieht die Sache aber wesentlich komplexer aus, z.B. gingen im Osm. Reich zahlreiche Frauen zu islamischen Gerichten, weil sie dort mehr "Frauenrechte" hatten (passt so gar nicht ins heutige Klischee, oder? ):
Zitat aus Quataert, siehe Lit.Tipp im Osm. Reich-Subforum:
"Christian widows frequently registered in the Islamic courts because these provided a greater share to the wife of the deceased than did ecclesiastical law. Or, take the case of dhimmi girls being forced into arranged marriages by fellow Christians or Jews. Since Islamic law required the female’s consent to the marriage contract, the young woman in question could go to the Muslim court that took her side, thus preventing the unwanted arranged marriage."
Dann wurde im 19. Jahrhundert ja das "europäische" Recht im Osm. Reich eingeführt (Stichwort: Tanzimat), und nun waren alle Bürger gleich, alle mussten zum Militärdienst, und was passierte? Viele Nichtmuslime weigerten sich, oder wollten keinen Militärdienst leisten, und bezahlten lieber eine "Befreiungsgebühr", um z.B. weiterhin ihre Äcker bestellen zu können, was dann im Endeffekt die Situation der Kopfsteuer früherer Jahrhunderte bedeutete; die nichtmuslimischen Frauen versuchten oft noch sich nach isl. Recht scheiden zu lassen, weil sie dort mehr Rechte hatten, aber es wurde nach und nach eingeschränkt, weil nun das europäische Recht galt, und das hieß im Endeffekt, die "Frauenrechte" sanken höchstwahrscheinlich im Niveau.
Dies nur mal als kleines Beispiel der historischen Komplexität. Wer mal eine aktuelle Übersicht über die letzten 500 Jahre (islamisch-) osmanischer Zeit haben möchte, dem empfehle ich die beiden engl. Bücher im Lit.Tipp wärmstens, viele Mythen werden dort entzaubert, auch z.B. die angebliche Ghettoisierung in musl. Stadtviertel und christ. und jüd. Stadtviertel. Es zeigten sich nach Auswertung von Registern in den letzten 20 Jahren, dass die Durchmischung in vielen Städten viel stärker als angenommen war, und dasd Einkommen der bestimmende Faktor der Nachbarschaft war. Einige Stadtviertel, wie das kurdische in Alleppo hatten gar keine Kurden mehr, nur die Bezeichnung. usw. Oder das es kaum oder keine musl. Händler gab, auch ein "Urban Myth"...
Unten werde ich dazu ein oft kolportiertes Stück näher anschauen, um die Argumentationslinien und Denkfehler aufzuzeigen.
Aber erst einmal willkürlich einige Dinge aus dem Faz-Artikel herausgegriffen, auch in den historischen Kontext gestellt (jetleechan hat ja schon angefangen):
1. " finden sich im Programm, das der Gründer der Muslim-Brüderschaft Hassan Al Banna ..." Hassan al-Banna hat diese Worte in den dreissiger Jahren des 20. Jh. gesprochen. Ich brauche nicht erinnern, wer noch alles in diesem Jahrzehnt bei uns Schwachsinniges gesagt hat. Aber es ist auch egal, was er sagt, denn es ist eine extremistische Äußerung eines Islamisten. Also eines Teils des Islam, der heute in aller Munde ist, aber wie die Rechtsextremen bei uns nicht mehr als maximal 15% der Muslime ausmachen. Und davon sind auch nicht alle gewaltbereit, was auch oftmals vergessen wird. Es gibt auch Sympathisanten, Globalisierungsverlierer, diese gibt es aber überall, ohne dass sich irgendeine konkrete Gefahr (für uns) ergibt. Weiteres zu der Entstehung der Muslimbrüder Anfang des 20. Jh. auch unten.
2. "sie [die Muslimbrüder] gelten als ,moderat“" Falsch. Was soll das denn? Das ist Quatsch, sie gelten bei uns und in Ägypten als Extremisten und werden vom Verfassungsschutz überwacht. Er weiß das sicherlich auch, da er dieses aber nun schreibt, wird seine eigentliche Absicht mit dem Artikel nur deutlich.
3. "Gewiß, winzige pazifistische Strömungen im Islam haben diese Interpretation nicht akzeptiert" Falsch. Das Haus des Islam und des Krieges ist Theorie. Wie bei vielen Ideologien und Religionen. Die Praxis findet man hier: http://www.geschichtsforum.de/297399-post10.html
Abgesehen davon, dass es nicht winzige Strömungen sind oder waren. Da muss er mal aufdröseln, welches Jahrhundert er meint, welche Region, welche Gruppen.
4. "andere Strömungen, etwa die sogenannten charidschitischen" Falsch. Hier bringt er den Dschihad durcheinander und das vereinfachend auf die Formel "Heiliger Krieg" . Heute machen übrigens die Charidschiten weniger als 1 Promille der islamischen Strömungen aus.
Damals (7. Jh.!) wollten sie nach den ersten Kalifen den geeignesten Muslim zum Kalifen wählen lassen, egal woher er kam, nicht wie die Mehrzahl der Muslime es wollte, in direkter Linie vom Geschlecht des Propheten (Sunniten) oder vom Schwiegersohn Ali (Schiiten). Mehr zu den Charidschiten, zum Dschihad, zum Haus des Islam und dem Haus des Krieges hier: http://www.geschichtsforum.de/f36/dynastien-namen-und-begriffe-der-isl-welt-14238/
Besonders Punkt 3,4,7 und 8.
5. "eine Fatwa des Großmufti der Al-Azhar-Universität in Kairo von 1948" Al-Azhar ist eine bedeutende Uni, aber Fatwas gibt es wie Sand am Meer, und man findet zu jedem kleinem "Pups" eine Fatwa, heute, wie in der Historie. Verbindlich sind sie nicht. (Zur Erinnerung: Im Islam gibt es keine kirchliche Hierarchie, die den Zugang zu Gott reglementiert, jeder hat einen direkten Draht, also keine kirchl. autoritäre Strukturen im Islam)
Damals (1948) war zudem die Zeit der Entkolonialisierung und ich möchte mal wissen, welche Völker damals die (europäische) Haager Landkriegsordnung interessierte? So ein Schwachsinn.
6. "deshalb wurden sie in der Regel für höchstens zehn Jahre abgeschlossen" Falsch, im osmanischen Reich schon mal nicht. Will nun nicht jedes Jahrhundert durchgehen.
7. "den militärisch überlegenen Muslimen, die Gegenseite unentwegt zu erpressen; auf diese Weise sind im Laufe der Jahrhunderte riesige Mengen an Geldern und Menschen an die muslimische Seite geflossen" Falsch. Verträge wurden auch geschlossen, weil die muslimische Seite schwächer wie die Gegenseite war. "Erpressen" ist der falsche Ausdruck, er verwechselt das mit dem "Vasallentum", welches schon die Römer nutzten, um ihr Weltreich stabil zu halten, so z.B. auch die Osmanen. Das war intelligent, und teilweise auch zum Vorteil für beide Seiten (Pax Romana, Pax Osmanica), sofern die Vassallenfürsten intelligent genug waren, loyal zu sein, und nicht in ihre eigenen Taschen über das Maß zu wirtschaften. Siehe das gestaffelte osm. Herrschaftssystem auch hier:
http://www.geschichtsforum.de/316183-post5.html
Und wo sollen "riesige Mengen an Menschen" in die isl. Gebiete geflossen sein? Mir sind keine größeren Völkerwanderungen ausser den türkischen und mongolischen bekannt. Vielleicht noch die Juden Spaniens ins Osmanische Reich. Und dazu noch ein paar Protestanen ins osmanische Ungarn und Moldau (Luthers Polemiken folgten daraufhin). Aber deren Wanderungen haben weiß Gott nichts mit einer "Erpressung" zu tun.
Zu den "Erpressungen" siehe auch die Tribute im Film in Punkt 8, interessanterweise oft auch von kirchlichen Vertretern eingetrieben, komisch, ne?
8. "Ibn Chaldun. [...] gezwungen zur Religion des Islam zu bekehren.“
Höchstwahrscheinlich Falsch. Zuerst, er sollte mal langsam anfangen, zu erwähnen, WANN jemand was gesagt hat, Chaldun lebte im 14. Jh. und letzteren Teil des Satzes halte ich für eine Fälschung. (Zur Erinnerung: Im Islam gibt/gab es bis auf wenige Ausnahmen keine Zwangsislamisierung). Ich denke mind. ein Übersetzungsfehler und wiederum die ungenaue Wiedergabe des kleinen und großen Dschihads. (kleiner Dschihad = milit. Kampf, großer Dschihad=geistiger Kampf gegen seine eigenen Schwächen, seinen Schweinehund)
siehe hier für den Autoren:
http://www.geschichtsforum.de/f36/i...-huntington-toynbee-p-kennedy-und-marx-14767/
Wer mal wissen will, wie die ersten Jahrhunderte des Islam abliefen, wieso so viele Massen Konvertierten, wie sich die Steuern entwickelten (z.B. waren alle Konvertierten erst von der Steuer befreit, was bedeutete, dass die Nichtkonvertierten die Last aller tragen mussten und die Steuerlast durch immer mehr Konversionen immer stärker wurde, bis man sich dann ein anderes Steuersystem ausdachte.) der kann oben im Link den "Noth" lesen, oder sich mal das Vorlesungsskript, und sich die Vorlesungsfilme anschauen:
Vorlesung: Geschichte und Geographie der islamischen Welt (WS 2004/05)
z.B. Film 11a Tribute, Entstehung von Kopfsteuer, usw.
Um das Word-Script (1. Link) lesen zu können, braucht ihr den Transkriptions-Font Beyrut: http://www.orient.uni-freiburg.de/fmoll/material/transkriptionsfontsbeyrut.exe
(Man kann das Skript auch nutzen, um zu ermitteln, was in welchem Film behandelt wird)
9. " Indes, die Kreuzfahrer handelten nach gängigem Kriegsrecht;" Sie handelten nach gängigen Kriegsrecht, indem sie ihre Glaubensbrüder, die orientalischen Christen bei der Erstürmung erstachen? Handelten die Kreuzfahrer bei der Plünderung von Konstantinopel auch nach gängigem Kriegsrecht? Nach der "Haager Landkriegsordnung"?
10. "führte in siebenundzwanzig Jahren fünfundzwanzig Feldzüge" Und was tat Napoleon? Cäsar? Spaziergänge? Und zu den Massakern zuvor, habe ich keine Lust alles zu untersuchen, es gab Massaker, immer und überall, auf allen Seiten, mal mehr, mal weniger blutig, wer hätte z.B. gedacht, dass Ende des 20. Jh. immer noch das in Jugoslawien passieren konnte? Scheint im Menschen drin zu stecken, egal welcher Couleur. Abgesehen davon wiederspricht er sich auch, denn er betont doch immer das Sklaventum? Wenn die immer alles massakrieren, wieso dann nicht besser Versklaven und Profit schlagen? Entweder oder? (Vielleicht komme ich nochmals zum Sklaventum...)
11. "Amorium (838) ist lange ein Fanal geblieben; die städtische Kultur Anatoliens hat sich davon nie wieder erholt." Falsch. Man kann heute teilweise noch die Ruinen oder auch stehende Gebäude aus Zeiten danach sehen, die ein eindrucksvolles Zeugnis von hoher städtischer Kultur sind. Abgesehen von der Literatur, die man konsultieren kann. Der Ikonoklasmus (Bildersturm) des Byz. Reiches hat im Übrigen ebenfalls verheerende Wirkungen auf die Kunst und Kultur gehabt.
----------------
Ich habe erst 25% durchgesehen, und schon so viele Sachfehler, abgesehen von den Verkürzungen und dem Herauspicken einzelner Aspekte, um die Argumentation des großen Ganzen zu unterfüttern. Vielleicht lese ich demnächst den Rest mal durch. Falls ihr das auch wollt.
(Achja, was mir ad hoc noch einfällt: theoretische Kleiderordnungen für die "Schutzbefohlenen", also Christen, Juden, gab es tatsächlich, manchmal auch mehr oder minder durchgesetzt, ABER, Kleiderordnungen galten auch für Muslime, und auch für die Leute in christl. Reichen, was z.b. das Tragen bestimmter Farben anbelangt. Nicht so wie heute, wo jeder tragen kann, was er will. Damals hatten bestimmte Zünfte im musl. Gebiet bestimmte Farben, Kleidungsstücke, einige Farben waren reserviert für den Sultan, die Wesire, usw. Also wenn denn mal ein Sultan oder ein Gouverneur besonders mal auf die Kleiderordnungen seiner Untertanen achtete, oder ein Kadi oder ein Zunftaufseher, dann galt es nicht nur für die Christen und Juden, sondern auch für die Muslime. Dieses sollte man wissen, sonst denkt man noch, och, schade, die durften nicht alles tragen, was sie wollten.)
Ansonsten geht auch Flaig in die Denkfalle, wie viele andere, die meinen "der Islam" sei Staat und Kirche im einem, also muss ich hier mal ausholen, und fasse mal zusammen:
Es geht im Prinzip um seine Frage ob Demokratie und Islam vereinbar sind, bzw. waren, das Verhältnis von Staat und Religion im Islam, damals wie heute [Exkurs]:
Westliche Sicht: meistens Unversöhnlich (zumindest in den Medien)
Sprachliches Problem am Satz: Islam = Religion. Demokratie = politisches System.