Ich bin zwar nicht Brissotin, aber so, dass er der Französischen Revolution abspricht, dass sie keine Zielsetzungen gehabt hätte, habe ich seinen Beitrag keineswegs verstanden. Er hat ja nur geschrieben, dass diese Zielvorstellungen nicht klar definiert waren. Dafür war sie auch viel zu heterogen, dafür hatte die Revolution zu unterschiedliche Phasen, zu unterschiedliche Akteure und Antriebskräfte. Fast alle Gebildeten in ganz Europa, und nicht nur dort blickten mit Faszination oder auch Schrecken, auf das, was sich in Frankreich abspielte, und viele Beobachter, darunter so unterschiedliche Charaktere wie Friedrich Schiller und Edmund Burke wendeten sich angesichts des Terrors davon ab, durchaus mit plausiblen Motiven. Keine Zielvorstellungen hatte die Revolution sicher nicht, eher wird man sagen können, dass sie in manchem daran scheiterte, dass sie sich nicht mit erreichbaren, maßvollen Zielen begnügte. Welche das waren, welche das hätten sein sollen, hätten sein können, darüber lässt sich trefflich streiten, auch über den Zeitpunkt wo sie eigentlich ihren Anfang und ihr Ende nahm. Bei der Einberufung der Generalstände? Beim Bastillesturm?
Als das Volk die Bastille stürmte, hatte sicher selbst der Kühnste nicht daran gedacht, Ludwig XVI. und Marie Antoinette zu exekutieren. Eine gerechtere Einkommensverteilung, Mitbestimmung des 3. Standes, eine konstitutionelle Monarchie, bezahlbare Brotpreise und "Zuckererbsen, bis die Schoten platzen" wie Heinrich Heine sagte, damit wären die meisten zufrieden gewesen, und damit hätte es sein Bewenden haben können.
Hatte es aber nicht. Auf dem Höhepunkt schien es, als ob alles möglich sein könnte, als ob man alles ändern könnte, selbst die Natur des Menschen. Die Französische Revolution war ein Jahrhundertereignis, das die Welt in die Moderne katapultierte. In der Retrospektive formulierte einer, der ein fast biblisches Alter erreichte, sagte Goethe: "Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen." Das wusste Goethe, der das Ancien Regime, das Direktorium, Napoleon und die Restauration erlebte, bei der Kanonade von Valmy 1792 natürlich nicht, das hätte keiner damals abschätzen können. Aber in der Retrospektive hatte er durchaus recht. Die Revolution, sie begann als eine Revolte und endete in einer Plutokratie und damit hätte es enden können, aber da kam ein Militärdiktator Napoleon- Hegel erschien er wie der "Weltgeist zu Pferde", der das alte Europa so gründlich aufmischte, dass es nicht wusste, wie ihm geschah. "Er atmete Preußen an, und Preußen hörte (beinahe) zu bestehen auf" schrieb Heinrich Heine, der Napoleon ein positives Andenken bewahrte. Kein Wunder, er führte die Emanzipation der Juden ein, machte sie zu gleichberechtigten Bürgern. Das wurden sie in Deutschland endgültig erst nach Bismarcks Reichsgründung 1870. Napoleon exportierte die Ideen die Aufklärung, ordnete Europa neu, bis sich diese Ideen gegen seinen Beherrscher wendeten. Als Beherrscher Europas ist er dann schließlich gescheitert, wie bisher noch jeder gescheitert ist, der sich an diesem Projekt versuchte. Aber so ganz austreten ließen sich die Ideen der Französischen Revolution auch nicht, als man beim Wiener Kongress die Uhren wieder zurückzudrehen versuchte, ganz so, als habe die Französische Revolution niemals stattgefunden.
Die Erklärung der Menschenrechte, sie hatte Bestand, auch wenn sie letztlich eine Utopie blieb, vielleicht bleiben musste. Aber wie alle Utopien entfesselte sie gewaltige Antriebskräfte. Als man die Sklaverei wieder einführte- in den französischen Kolonien endete sie erst 1848- erhoben sich in Haiti die Sklaven, und es kam dort zu einem der zahlreichen Sklavenaufstände, der einer der wenigen war, der gelang. 1802 änderten sich zwar letztlich nicht die Herrschaftsverhältnisse, aber doch die der Herren, die die Herrschaft ausübten. Als Napoleon in Spanien einfiel, mischten Simon Bolivar und Jose´de San Martin das spanische Kolonialreich auf, brachten Südamerika mit den Ideen der Französischen Revolution die Unabhängigkeit.
Wie war doch mal die Eingangsfrage? War Napoleon der Vollender oder Verräter der Französischen Revolution? Was für eine blöde Frage! Wer denkt sich so einen Schwurbelquark nur aus, um arme Pennäler damit zu quälen, als gäbe es nur die beiden Alternativen! Vollendet hat Napoleon die Revolution nicht, er hat sie beendet. Hätte er sie vollendet, wäre er vielleicht nicht auf Sankt Helena gestorben, und niemand würde sich erdreisten, ihn einen Verräter zu nennen. Es ist die Frage, ob er sie verraten hat. In gewisser Weise hat er die Ideen der Revolution von der Utopie in Realpolitik umgesetzt und hat ihr Geltung verschafft. So etwas hat natürlich immer etwas unschöne Züge: Pressezensur, Autokratie, Wiedereinführung der Sklaverei, Etablierung des modernen Polizeistaates mit einem Typen wie Fouché an der Spitze.
Er hat aber auch moderne Rechtsstaaten geschaffen. Als Eroberer ist Napoleon letztlich gescheitert, nicht aber als Staatsmann. Seine Departements gibt es heute noch. Ebenso den Code Civil Napoleon. Der war im Rheinland gültig bis in den 1890ern das BGB eingeführt wurde. Im Grunde basieren fast alle modernen bürgerlichen Gesetzbücher nicht nur Europas auf Grundlagen, die im Code Civil entwickelt wurden. In Napoleons Staaten konnte man sogar aus der Kirche austreten, die Zivilehe wurde eingeführt, und erstmals waren alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Als 1813 einer von Napoleons Gegnern, Kurfürst Wilhelm I. von Hessen zurückkehrte, jubelte ihm das Volk zu, denn Napoleon und sein kleiner Bruder der "König Lustig" Jerome hatten sich unbeliebt gemacht, obwohl der Modellstaat des Königreichs Westphalen mit der Hauptstadt Kassel viele moderne Züge hatte. Der große Bruder in Paris hatte rücksichtslos auf die Ressourcen des Landes zurückgegriffen. 2012 kehrten anlässlich einer Ausstellung, die man Jerome widmete erstmals Kunstschätze zurück, die Napoleon 1806 hatte mitgehen lassen, und sie kehrten nach der Ausstellung auch wieder nach Paris zurück. Schlimmer noch, durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht mussten zahlreiche Hessen, Thüringer Westfalen und andere Deutsche in Kriegen kämpfen, die nicht die ihren waren. Sie wurden heftiger verheizt, als das je einer der im Soldatenhandel tätigen Landgrafen gewagt hätte. Aus Moskau und Spanien kamen nur Trümmer der westphälischen Armee zurück. Soldatenspielerei liebte Wilhelm I. von Hessen viel zu sehr, um seine Truppen so zu verheizen. Als er zurückkehrte, unter Jubel der Bevölkerung, die sogar für lau jubelte, machte er alles, aber auch alles rückgängig, was an die Revolution erinnerte. Er führte buchstäblich alte Zöpfe wieder ein. Im hessischen Militär wurde die Frisur aus der Zeit des Alten Fritz wieder Pflicht, aber die Justiz, die Napoleons kleiner Bruder reformiert hatte, die beließ Wilhelm, was letztlich auch für ihre Qualität sprach. Vorher hatte als Strafrecht noch die immer wieder reformierte Constitutio Criminalis Carolina aus der Zeit von Kaiser Karl V. gegolten. Es wurde moderne Prozessführung, Urteilsfindung auf Indizienbasis statt auf Geständnis, Qualifizierung des Justizpersonals, moderne Gendarmerie eingeführt.
War Napoleon nun ein Verräter? Dazu lässt sich pragmatisch sagen, jemand, nach dem man edle Cognacs nennt, ohne sich lächerlich zu machen oder Proteststürme zu entfachen, wird man niemals einen Verräter nennen können, ohne Gegenwind zu bekommen. Bei Bismarck hat es nur zu einem Hering gereicht, und Hitler könnte man nicht auf Cognacetiketten kleben, selbst wenn der in Russland erfolgreicher, als Napoleon gewesen wäre.