Wir neigen dazu, Juden in Dtld./Europa immer durch die Opfer-Brille (gemeint ist hier Juden als ewige Opfer) zu betrachten (ausgenommen Antisemiten). Jüdische Geschichte findet irgendwie immer nur als Geschichte der Pogrome statt. Antijüdische Gesetzgebung der Westgotenkönige, Pogrome während des Ersten Kreuzzuges, Pogrome während der Pest, Spanische Inquisition, Christlich-Soziale (Arbeiter-)Partei, NS-Zeit. Wir vergessen aber gerne, dass es dazwischen immer auch lange Phasen eines friedlichen Zusammenlebens gab, ohne dass das einen durchgängig existenten Antijudaismus relativieren soll. Wir sollten das Judentum weniger durch die Opfer-Brille betrachten sondern die Existenz des europäischen Judentums auch stärker abseits der unfriedvollen Episoden betrachten, ohne aber dabei zu vergessen, dass die europäischen Juden immer von Verfolgung bedroht waren. Aber jüdisches Leben in Europa ist weitaus mehr, als eine Geschichte der Verfolgung und Bedrohung.
Pogrome waren ja auch im Mittelalter keineswegs die Regel, sondern eher eine Ausnahmeerscheinung. Karl der Große stellte Juden als Kammerknechte unter seinen Schutz, und als der Mob während des Ersten Kreuzzugs über die jüdischen Gemeinden von Worms und Speyer herfiel, waren die Juden nicht vogelfrei, sondern standen unter dem Schutz des Bischofs, der freilich nicht über die Macht verfügte, sie dann auch tatsächlich schützen zu können.
So fatal auch Pogrome wie die von Worms und Speyer sein mochten, als noch einschneidender erwiesen sich Ausweisungsdekrete. Ralf M. hat auf das Beispiel von Erfurt verwiesen. 1453 verlor die jüdische Gemeinde Erfurts ihren urbanen Lebensraum, und das änderte sich dann wohl erst wieder mit der Judenemanzipation im Königreich Westphalen, als Juden erstmals voll- und gleichberechtigte Bürger wurden. Pogrome waren relativ selten, Juden standen in der Regel unter dem Schutz der Landesherren, die sich diesen Schutz freilich teuer bezahlen ließen. Städte, die Juden duldeten, wiesen ihnen besondere Viertel und Gassen zu, Straßennamen wie die Jüdenstraße in Göttingen erinnern noch daran. Der Schutz der Obrigkeit schützte aber nicht gegen Erpressungen der Obrigkeit selbst. Während der über 1000jährigen Geschichte der Juden in Deutschland oder besser in den deutschen Ländern, waren es nur wenige Jahre, in denen Juden tatsächlich im ihr Leben fürchten mussten. Der Humanismus und die Aufklärung, die Haskala, sie wurden auch von Juden geprägt, Juden nahmen am öffentlichen Leben teil und lebten zwar nicht immer harmonisch, den weitaus größeren Teil dieser 1500 Jahre aber im durchaus friedlichen Miteinander mit ihren christlichen Nachbarn. Seit dem 19. Jahrhundert nahmen Juden Familiennamen an, und Namen wie Oppenheimer, Warburg, Frankfurter, Maynzer und wie sie alle hießen, belegen, dass Juden sich als Teil der "deutschen Nation" verstanden und viele glühende Patrioten wurden.
Die Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland, in Europa war nicht eine Geschichte der Pogrome, es gäbe ein holzschnittartiges Bild, wollte man sie darauf reduzieren. Wenn es in der mehr als 1000 Jahre alten Geschichte der Juden in Deutschland und Europa nur wenige Jahre waren, in denen Juden um ihr Leben fürchten mussten, so waren es auch wenige Jahre, in denen Juden nicht um ihren Besitz fürchten mussten, in denen ihnen nicht in die Tasche gelangt wurde, in denen sie nicht weniger Rechte, als Christen hatten, in denen sie nicht von bestimmten Berufen ausgeschlossen waren. Noch weniger Jahre waren es, in denen Juden die vollen Bürgerrechte genossen, gleichberechtigte Bürger waren.