@ Turgot Ach Mist, ist mir so rausgerutscht, war nicht böse gemeint. Ich war ehrlich erstaunt darüber, dass Dein Blick bisher noch nicht so stark auf die Dramatik fokussiert war, die dem Abend des 30. Juli innewohnt.
Hier das Telegram Bethmann an Tschirschky vom 30. Juli, Ausgang 21:00 Uhr, die zeitgenössischen Höflichkeitsfloskeln Ew.Exc. etc habe ich weggekürzt...
Wenn Wien, wie nach Ihrem Telefongespräch mit von Stumm anzunehmen, jedes Einlenken, insbesondere den letzten Greyschen Vorschlag, ablehnt, ist es kaum mehr möglich, Russland die Schuld an der ausbrechenden Konflagration zuzuschieben. Seine Majestät hat auf Bitten des Zaren die Intervention in Wien unternommen, weil er sie nicht ablehnen konnte, ohne den unwiderleglichen Verdacht zu erzeugen, daß wir den Krieg wollen. Das Gelingen dieser Intervention ist allerdings erschwert dadurch, daß Russland gegen Österreich mobilisiert hat. Dies haben wir heute England mit dem Hinzufügen mitgeteilt, dass wir eine Aufhaltung der russischen und französischen Kriegsmassnahmen in petersburg und Paris bereits in freundlicher Form angeregt hätten, einen neuen Schritt in dieser Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, was den krieg bedeuten würde. Wir haben deshalb Grey nahegelegt, seinerseits nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken, und erhalten soeben seine entsprechende Zusicherung durch Lichnowsky. Glücken England diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt, so dokumentiert Wien, dass es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Russland schuldfrei bleibt. Das ergibt für uns der eigenen Nation gegenüber eine ganz unhaltbare Situation. Wir können deshalb nur dringend empfehlen etcetc – folgt Dein Zitat. (Ganzer Text zB im dtv-Geiss, Doku 143, p. 308-309)
Dann noch zur Kenntnis Tschirschkys ein Telegram Wilhelms an Franz Joseph, in der nochmals der halt-in-Belgrad-Vorschlag ins Spiel gebracht wird, Franz Josef solle sich schnell entscheiden.
Ganz ehrlich: ich komme mit diesem zutiefst widersprüchlichen Text nicht klar. Auf der einen Seite alles wie gehabt (das ging die ganze Julikrise über so): Bloß aufpassen, dass man schön Russland ins Unrecht setzt! Andererseits ist dieser Text, wie auch die Weltbrandtelegramme, schon recht dringend formuliert. Am ehesten einen konsistenten Sinn ergibt er vielleicht, wenn man unterstellt, Bethmann fahre zweigleisig:
Wien soll akzeptieren – schöner Triumph für die Mittelmächte...
Wenn Wien nicht akzeptiert...tja, liebe SPD, ich hab alles versucht – Russland aber machte mobil (genau so kam es ja auch)
Also wieder die Doppelgleisigkeit a la Riezler 7. Juli (ein Beleg dafür, dass die Riezler-TBs in Teilen authentisch sein dürften – nur fehlt eben wichtiges)
Allerdings bei der Interpretation dieses Textes bitte auch folgendes im Hinterkopf haben: Seit dem 28. läuft ja die Bethmann-Vermittlung (es sind in Wahrheit zwei fast identische, die vom 28. auf Wilhelms Vorschlag hin und die jetzige auf Greys fast identischen). Seit zwei Tagen signalisiert Bethmann Wien auch (und nicht nur als Subtext, sondern zT ganz wörtlich): Psst, passt mal auf, wir verstehen Euch ja, aber wir müssen jetzt so ein bißchen Vermittlung spielen... Für den 28. ist das evident. Am 28. hat Bethmann zweifellos Schein-Vermittlung betrieben und dies Wien (edit: Und tschirschky!!!) auch eindeutig so signalisiert. Und selbst dieses Telegram enthält diesen Gedanken (leider, liebes Wien, muss ich aus politischen Gründen so ein bißchen Vermittlung simulieren) ja mehr oder weniger offen. Vergl auch die angeblichen Schwierigkeiten der Vermittlung wg russischer T e i lmobilmachung. Bethmann hat, wenn er dieses mal die Vermittlung ernst meinte, dies nicht dringlich genug signalisiert. Er hätte im Zweifelsfall mit Bündniskündigung drohen müssen, um Wien die Ernsthaftigkeit klar vor Augen zu stellen. W e n n Berlin diese Vermittlung ernsthaft gemeint hat. Was man zumindest bezweifeln muss, zumal sie ja zwei Stunden später abgebrochen wurde.
Und: Bethmann insistiert auf vermittlung, weil er wg SPD nicht mehr völlig frei pro krieg entscheiden kann. Der krieg muss nach Verteidigungskrieg gegen den Zarismus „schmecken“.
Übrigens: Belgrad besetzen dürfen, europäisch garantiert, und die Serben dürfen sich nicht wehren...das ist doch nicht pille-palle! Das war auch und gerade nach damaligen Maßstäben schon eine ziemlich heftige Nummer, um das mal so zu sagen. Indem Wien seinen kleinen Krieg einfach durchzockte, trägt Wien ganz zweifellos schwere Mitverantwortung. Das habe ich aber auch nie bestritten.