Konnte Napoleon 1813/14 Frieden schließen?

Mir geht es weniger darum, wer Nachfolger werden hätte können, sondern darum, ob Napoleon einen Friedensschluss politisch "überlebt" hätte.

Ich denke, das ist dann vermutlich eine Frage des Zeitpunkts:

Schliesst er kurzfristig nach dem russischen Desaster Frieden mit Russland, eventuell unter der Aufgabe von Polen, so verblieben Napoleon etliche Zugewinne an Macht und Territorien. Ein "politisches Überleben" ist durchaus vorstellbar wenn er seine militärische Macht weiterhin über Mitteleuropa ausübt und Frankreich polizeilich kontrolliert. Der Friede mit England wird ihm jedoch verwehrt bleiben.

Schliesst er Frieden nachdem er 1813 besiegt wird unter Annahme der "natürlichen Grenzen", also bei gleichzeitigem Vormarsch der Alliierten zum Rhein, so verliert er Mitteleuropa welches ihm bislang wirtschaftlich zur "Ausbeutung" zur Verfügung stand. Auch wenn er den Friedensschluß als solchen politisch überlebt wird er an den wirtschaftlichen Folgen scheitern und abdanken oder zur Abdankung gezwungen werden.

Wartet er, wie geschehen, bis zur letzten Patrone, ist die Frage nach politischem Überleben obsolet geworden.

Letztlich basiert die Fähigkeit, Frieden zu schliessen, auf der Anerkennung von Grenzen. Vom Charakter her war Napoleon jedoch grenzenlos. Seine Grenzen wurden allenfalls bestimmt von der maximalen Ausdehnung seiner militärischen Macht. Napoleon hätte schon eine Wesensveränderung durchführen müssen um überhaupt, egal ob 1812/13 oder 1813/14, Frieden zu schliessen.
 
Letztlich basiert die Fähigkeit, Frieden zu schliessen, auf der Anerkennung von Grenzen. Vom Charakter her war Napoleon jedoch grenzenlos. Seine Grenzen wurden allenfalls bestimmt von der maximalen Ausdehnung seiner militärischen Macht. Napoleon hätte schon eine Wesensveränderung durchführen müssen um überhaupt, egal ob 1812/13 oder 1813/14, Frieden zu schliessen.
Das sehe ich auch so.

Hatte er je bei einem Friedensschluss zuvor als derjenige dastehen müssen, der einlenkt?

Ich glaube nicht.

Auch zu einem Kompromissfrieden gehört viel; vielleicht sogar mehr als die (militärische) Überwindung eines Feindes verlangte eine Selbstüberwindung dem Verlierer etwas ab. (Man denke mal an das Hadern von König Friedrich August I. von Sachsen, als er ja schon nicht mehr verhandeln konnte, sondern mehr oder weniger Gefangener der Alliierten war, aber eben dennoch der Abtretung der Hälfte seines Territoriums nicht zustimmen mochte.)
 
Ich denke, das ist dann vermutlich eine Frage des Zeitpunkts:
Schliesst er kurzfristig nach dem russischen Desaster Frieden mit Russland, eventuell unter der Aufgabe von Polen, so verblieben Napoleon etliche Zugewinne an Macht und Territorien. Ein "politisches Überleben" ist durchaus vorstellbar wenn er seine militärische Macht weiterhin über Mitteleuropa ausübt und Frankreich polizeilich kontrolliert. Der Friede mit England wird ihm jedoch verwehrt bleiben.
Ein Frieden allein mit Rußland halte ich für nicht möglich. Mal davon abgesehen, dass N. territoriale Federn an Rußland hätte lassen müssen, hätte dies aber auch das Ende der Kontinantalsperre bedeutet, denn eine erneute "Schmach von Tilsit" hätte der Zar - mit Blick auf die wirtschaftlichen Probleme Rußlands - nicht auf sich nehmen können. Die daraus entstehende neue Situation und die völlige Nichtberücksichtigung der Interessen der anderen Mächte hätten diesen Frieden nur zu einem Waffenstillstand gemacht.
Zudem war sich der Zar im klaren darüber, dass wenn er Polen wollte, er Österreich und Preußen Entschädigung an anderer Stelle hätte bieten müssen, wenn diese Eroberung dauerhaft sein sollte. Unter diesem Aspekt hätte er befürchten müssen, auch im Falle eines Friedens mit N., dass jetzt er Interessenkonflikte mit genannten Staaten bekommt und er möglicherweise dann sogar isoliert dastehen könnte.
Schliesst er Frieden nachdem er 1813 besiegt wird unter Annahme der "natürlichen Grenzen", also bei gleichzeitigem Vormarsch der Alliierten zum Rhein, so verliert er Mitteleuropa welches ihm bislang wirtschaftlich zur "Ausbeutung" zur Verfügung stand. Auch wenn er den Friedensschluß als solchen politisch überlebt wird er an den wirtschaftlichen Folgen scheitern und abdanken oder zur Abdankung gezwungen werden..
Die "natürlichen" Grenzen halte ich für das, was überhaupt erreichbar gewesen wäre. Allerdings sicherer erreichbar, wenn sofort nach der Niederlage in Rußland Frieden geschlossen worden wäre.

Aber hätte N. diese Grenzen politisch überlebt?

1814/15 hatte sich die ältere Linie der Bourbonen als tragfähig erwiesen, die bereits vor der Niederlage N. unter den Verbündeten abgesprochenen Grenzen von 1792 zu garantieren.

15 Jahre später sah es anders aus:
"Selten hat ein Monarch die Hoffnungen, die man bei seinem Regierungsantritt auf ihn setzte, so arg enttäuscht wie Louis-Philippe. Denn wenn sich die Republikaner, die das legitime Königtum gestürzt hatten, auch unter dem Zwang der Umstände mit dem Herzog von Orléans als der "besten der Republiken" abfanden, so doch nur in der Erwartung, dass der neue König sofort darangehen würde, die Verträge von 1815 zu zerreißen und Frankreich mit der Rheingrenze die europäische Vormachtstellung wiederzugeben." [1]

Unterstellen wir, N. wäre zur Vernunft gekommen und er hätte Anfang 1813 den Frieden in den "natürlichen" Grenzen geschlossen. Wer hätte diesen Frieden, der mit ungeheuren Gebietsabtritten einher hätte gehen müssen - außer ein paar klugen Strategen - begreifen , ja hinnehmen können? N. wäre politisch völlig unter Druck geraten, er wäre als Verräter der Interessen Frankreichs gebranntmarkt worden.

Ein weniger kommt gar nicht in Frage. Es wäre wohl erwartet worden, dass der Kaiser die Grenzen baldestmöglich wieder korrigiert. Politisch kaum zu überleben und wirtschafliche Aspekte kämen zusätzlich noch erschwerend hinzu.

Und so muss wohl festgestellt werden, dass N. tatsächlich keinen Frieden schließen konnte, weil ihn ein Frieden politisch erledigt hätte.

Grüße
excideuil

[1] Rohden, Peter Richard: „Die klassische Diplomatie – Von Kaunitz bis Metternich“, Koehler & Amelang, Leipzig, 1939, Seite 223
 
Typen wie Talleyrand und Fouche drehten ihr Fähnchen nach dem Wind...
Ich denke mal, dass diese Einschätzung eher zeitgenössischen Karrikaturen und Urteilen von Zeitgenossen geschuldet ist. Politisch stellt sich das anders dar, auch wenn das Wirken beider in den verschiedensten Regimen natürlich den Verdacht nahelegt.

Talleyrand war maßgeblich am 18./19. Brumaire beteiligt und im Konsulat sorgte er für die Schaffung der neuen Monarchie unter Napoleon, auch wenn er den Kaisertitel ablehnte.

Er begleitete N. Außenpolitik aktiv bis 1807. Die Verkündung der Kontinentalsperre und die Schlacht bei Pr. Eylau ließen den Entschluss reifen, dass die expansive Politik nicht gut enden kann und er trat nach Tilsit zurück.

In Erfurt 1808 wirkte er in Richtung eines russisch/österreichischen Bündnisses, um zu erreichen, dass das Gleichgewicht in Europa wiederhergestellt und der "Kaiser" - territorial gesprochen- wieder "König" wird. Deutlich wird erstmals, dass er die Interessen Frankreichs vom Kaiser trennt, ohne allerdings das System Empire (allerdings ohne expansive Außenpolitik!) in Frage zu stellen.

Talleyrand übt im Dez. 1808 den Schulterschluss mit Fouché. Es folgt im Jan. 1809 die berüchtigte Szene. In der Folge arbeitet Talleyrand direkt mit Österreich und Rußland zusammen. Beide Staaten haben eigene Diplomaten bei ihm "akreditiert". Er gilt mit Fouché als das Haupt der Friedenspartei, ohne allerdings politisch wirksam zu werden. (Der Nachteil der Opposition!)

Er bleibt N. loyal gegenüber (briefliche Warnung vor den Bayern) und am 28. März 1814. Er lehnt aber jede politische Stellung: Gouverneur von Polen in Warschau vor dem Rußlandfeldzug und das Angebot N. wieder Außenminister zu werden ab. Den Rußlandfeldzug selbst hält er für "den Anfang vom Ende" Napoleons.

Er wartet geduldig ab, kompromitiert sich nicht in der Affäre Malet, hält Fäden zu den Bourbonen (seinen Onkel) und wohl auch über seinen langjährigen Freund Montrond zum Herzog von Orléans.

Die Affäre Malet 1812 zeigte die innenpolitische Instabilität des Empire.
Talleyrand zog seine Schlussfolgerungen:
„Am 26. Oktober (1812) äußerte er (in einem Brief an Caulaincourt) seine Verwunderung, „mit welcher Leichtigkeit es einem gelingt, Soldaten zu beeindrucken, wenn man einen Senatsbeschluss in der Hand hält.“ Und am 31. Oktober 1812 konstatierte er: „Das, was Menschen, die nachdenken, aller Aufmerksamkeit wert sein sollte, ist der Umstand, dass die breite Masse keine klaren Vorstellungen vom Senat hat.““

Den eigentlichen Gedanken entdeckte er aber nur (seiner langjährigen Freundin) Aimée de Coigny im November 1812:
„Dieser Mann da (Napoleon) taugt nicht mehr für das Gute, das er bewirken könnte, seine Zeit, da er mit Gewalt die Revolution zähmte, ist vorbei; die Ideen, die er allein noch bannen könnte, sind ohnedies nur noch schwach und stellen keine Gefahr mehr dar, aber es wäre fatal, würden sie gänzlich erlöschen. Er hat die Gleichheit zerstört, das ist gut; aber die Freiheit muss uns erhalten bleiben; ebenso die Gesetze; dafür bietet er keine Gewähr. Das ist der Moment, ihn zu stürzen. Sie kennen die alten Befürworter dieser Freiheit, wie Garat und einige andere. Ich könnte auch noch auf Sieyès warten, die Geduld bringe ich auf. Man muss in ihrem Geist die Gedanken ihrer Jugend wieder entflammen: das ist eine Macht.“ [1]

Der eigentliche Todesstoß des Empire erfolgte am 28. März 1814. Im Regentschaftsrat wurde über den Verbleib der Kaiserin in Paris beraten. Talleyrand sowie fast alle anderen Anwesenden plädierten für den Verbleib. Ein Brief Napoleons, in dem er kundtat, dass er seine Frau und seinen Sohn nicht in die Hände des Feindes fallen lassen wollte - was zwar gut korsisch gedacht, aber politisch tötlich war - gab den Ausschlag. Die Kaiserin mit dem Hof und den Würdenträgern verließ am folgenden Tag Paris.

Talleyrand inszinierte eine Komödie, und blieb - seltsamerweise von Rivigo und Pasquier unbehelligt - in Paris.

Seine Stunde schlug am 31. März 1814 als er den Zaren bei sich aufnahm und die Proklamation iniziierte, dass weder mit N. noch seiner Familie weiter verhandelt würde.
Jetzt zeigte sich, dass die bisher inhaltslose Würde eines Vice-Grand-Electeur doch Bedeutung haben kann, denn Talleyrand hatte das Recht, den Senat einzuberufen.

Am 1. April 1814 beschloss der Senat eine provisorische Regierung mit Talleyrand an der Spitze mit dem Auftrag, eine neue Verfassung zu entwerfen, am 2. April die Absetzung Napoleons, Armee und Volk wurden vom Treueeid entbunden.

Die folgenden Tage galten der neuen Verfassung, die liberaler als die des Kaiserreiches gestaltet wurde. Es sollten die Errungenschaften der Revolution und die Gesetze des Kaiserreiches erhalten bleiben. Im Grunde sollte nur eine Dynastie die andere ablösen, jetzt allerdings auf konstitutioneller Basis regieren.

Dass Talleyrand sich in der Wahl der Nachfolge für die Bourbonen entschied, ist nicht verwunderlich:

"Frankreich wollte, trotz der Schrecknisse der Invasion, frei und geachtet dastehen, und dieses Ziel war nur durch das rechtmäßige Königshaus der Bourbonen zu erreichen.
Europa, noch in steter Furcht, obwohl seine Heere mitten in Frankreich standen, verlangte Frankreichs Entwaffnung und seine alten Grenzen, und forderte zugleich Garantien eines dauernden Friedens, und auch dazu konnten nur die Bourbonen verhelfen… Nur das Haus Bourbon konnte in kürzester Zeit, und ohne Gefahr für Europa, die fremden Heere zum Rückzug bewegen, die Frankreichs Boden bedeckten. Mit dem Haus Bourbon verlor Frankreich seine Riesengestalt, um dafür seine frühere Größe einzutauschen.“ [2]

Und so sah der Beschluss des Senats vom 6. April vor, dass Xavier ... aus freien Stücken vom französischen Volk auf den Thron berufen wird. Allerdings nur, wenn der neue König die Verfassung vorher anerkennt.

Es lief etwas anders als geplant, der kommende König konnte seinen salisischen Anspruch durchsetzen, Louis XVIII begriff aber, dass ohne eine Verfassung, die die Errungenschaften der Revolution und des Kaiserreiches nicht widerspiegelte seine Herrschaft nicht möglich war.

Mit den Alliierten wurde ein Waffenstillstand geschlossen werden, später (30. Mai 1814) der 1. Pariser Frieden. Die bereits vor der Einnahme von Paris von den Alliierten festgelegten Grenzen konnten geringfügig (630000 Einwohner) vergrößert werden. Auch wurden keine Reparationen festgelegt - und dies angesichts der jahrzehntelangen Räuberein der Franzosen in Europa! - und selbst die geraubten Kunstwerke wurden nicht zurückgefordert!

Talleyrand begleitete diesen Frieden als Außenminister des Königs. Er hat versucht, diesen Frieden so schnell als möglich zu erreichen, um auch zu erreichen, dass die Besetzung Frankreichs so kurz als möglich war. Diese Schnelligkeit ist ihm (zeitgenössisch) oft zum Vorwurf gereicht, aber ganz ehrlich, die "natürlichen" Grenzen waren unerreichbar.

Betrachtet man den politischen Druck, der auf Louis Philippe lastete (siehe vorh. Beitrag) und das 2. Kaiserreich, dann wird man wohl anerkennen müssen, dass zum Zeitpunkt 1814 tatsächlich nur die Bourbonen möglich waren. Wohl jede andere Dynastie (Bernadotte nicht möglich, aber Marie Luise, Prinz Eugen) hätten wohl schon den Keim eines neuen Krieges in sich getragen.

Dass Talleyrand kein Royalist war zeigt sich in der Beurteilung des Baron Vitrolles:
„Er hat die Restauration nicht gewählt, die für ihn viel stachliger war als jede andere Kombination, wie die Regentschaft der Marie-Louise, der Sohn des Orléans oder irgend sonst eine. Er hätte bei jeder anderen Kombination eine weit bessere Garantie seiner Interessen gefunden. Trotzdem versuchte er nichts, diese seine Interessen in den Vordergrund zu schieben; er erlitt die Restauration als die Notwendigkeit und begegnete ihr mit allem seinen Geiste.“ [3]

Sicherlich hatte Talleyrand eine starke 2. Seite der Medaille, keine Frage, aber seine politische Entscheidungen waren immer französisch, auch wenn dies Zeitgenossen oft nicht verstanden.

Grüße
excideuil

[1] Willms, Johannes: Talleyrand Virtuose der Macht 1754-1838, C.H. Beck, München, 2011, Seite 192
[2] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, Bd. 2 1891, Seite 108
[3] Blei, Franz: „Talleyrand“, Rowohlt, Berlin, 1932, Seite 231
 
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