Was ist denn eigentlich Eure eigene Idee zum Thema. Und ob Theorien empirisch belegbar sind ist strittig wenn es um die Geisteswissenschaften geht.
Nein, das ist nicht strittig. Sie sind durchaus nicht vollständig belegbar, sonst würde es sich ja um Fakten handeln und nicht um Theorien im Sinne descriptiver Erklärungsansätze.
Zur Theorie, die diesen Namen verdiehnt, gehört aber eben auch die bekannten anzuerkennen und in das Erklärungsmodell mit einzubeziehen.
Bisher stehen die Thesen von Ghandour im Raum, die dann nochmal mit 25 Zitaten untermauert wurden.
Der eigene Denkansatz fehlt mir hier bisher völlig.
Der eigene Denkansatz kommt nach der Eruierung des Forschungsstandes, sofern dieser nicht als bekannt vorrausgesetzt werden kann, was bei diesem, doch eher ungewöhnlichen Thema offensichtlich nicht der Fall ist.
Wenn nun belegbar ist, dass sich islamische Gesellschaften früherer Jahrhunderte weniger prüde verhielten, muss offensichtlich eine Veränderung der gesellschaftlichen Normen eingetreten sein und diese kann entweder durch innere Entwicklungen oder Importen von außen vermittelt worden sein, so weit, so profan.
Man könnte an diesem Punkt unterstellen, dass der Narrativ der Selbsttransformation zur immunisierung gegen äußere Bedrohungen einen kleinen Schönheitsfehler aufweist, denn er betrifft durchaus auch Gesellschaften, die von direkten Eingriffen der europäischen Staaten weitgehend verschont blieben.
Nehmen wir hier einmal den Iran, sprich das ehemalige Persien und Saudi-Arabien. Es hat im 19. Jahrhundert seine Besitzungen in der südlichen Kaukasusregion an das russische Reich verloren und war während des 2. Weltkriegs zeitweise besetzt, in seiner Existenz als eigenständige Gesellschaft aber nie dauerhaft bedroht.
Nehmen wir Saudi-Arrabien, das vom imperialiern Ausgreifen der Briten und Franzosen in Richtung des osmanischen Reiches ja sogar dezidiert territorial profitierte und mehr oder minder aus freien Stücken heraus mit den Europäern kooperierte.
Die beiden Gesellschaften sind diejenigen, die da heute mit am rigidesten sind. Für die Türkei wird man mit Ausnahme der Periode von Sèvres bis Lausanne ähnliches unterstellen können. Diese Gesellschaften haben eigentlich keinen Anlass zu einer dauerhaften Belagerungs-Mentalität gehabt, in der Türkei spielt vielleicht das Trauma wegen des Verlusts des eigenen Imperiums eine gewisse Rolle, eine traumatische Femdherrschaft im Sinne des Kolonialismus/Imperialismus gab es hier nicht.
Demgegenüber müsste auffallen, dass diverse Gebiete, die einer solchen Herrschaft durchaus unterworfen waren keine einheitlichen ideologischen Vorstellungen zur Oranisation der Gesellschaft in diesem Sinne entwickelten. Welche für die Gesamtbevölkerung verbindlichen ideologischen oder religiösen Glaubenssätze gibt es etwa in Indien? Wie steht es da mit diversen Gesellschaften im subsaharischen Afrika, wo Islam und Christentum durchaus existieren, aber in einer mit örtlichen spirituellen Traditionen verbundenen Weise, die eine zentrale Organisation wegen einer gewissen Konkurrenz dieser beiden Aspekte untereinander doch eher erschwert?
Dann kommt weiterhin die Frage hinzu, inwieweit Ablehung eines faktischen oder potentiellen Feindes auch durch Immitation von dessen Handlungsweisen und dem Streben nach Anerkennung durch diese potentiellen Feinde erreicht werden kann.
Das wäre, wenn man so will der japanische Weg sich gegen die europäischen Einflüsse zu wehren.
Insofern sind äußere Einflüsse durchaus denkbar.
Eine Erklärungsanstz, der in Richtung Imitation führte, wäre unter anderem die Ausbildung und sozialisierung kolonialer oder halbkolonialer Eliten innerhalb Europas.
Das könnte man für Ostasien etwa an den Personen Hô Chi Minh und Zhou Enlai festmachen, die sich das geistige Fundament ihres späteren politischen Handelns mindestens zum Teil in Europa erwarben, in beiden Fällen vorwiegend in Frankreich, im Dunstkreis der SFIO, der Union Intercolonial, so wie nach der Spaltung der SFIO im Rahmen des Parteitags von Tours 1920 beim PCF und bei späteren Aufenthalten in der Sowjetunion.
Insofern bin ich bei der weiter oben angebrachten These des Kommunismus als möglicher Abwehrideologie einigermaßen gespalten. In ihrer Funktionalität trifft das sicherlich zu. Das aber der Kommunismus in ostasiatischen Gesellschaften eine Rolle zu spielen begann, ist weitgehend keine lokale Entwicklung, sondern beruht in weiten Teilen auf bewusster Europäisierung der Protestformen.
Zu letzteren Ausführungen empfehle ich:
M. Goebel: Anti-Imperial Metropolis. Interwar Paris and the Seeds of Third World Nationalism
Boittin, Anne-Jeniffer: Colonial Metropolis, The Urban Grounds of Anti-Imperialism and Feminism in Interwar Paris.
Eine Imitation europäischer Normen und Idealbilder vermittels Austausch mobiler Eliten, kann mindestens für Ostasien als durchaus gegeben angesehen und sollte als möglicher Einflussfaktor, da auch berücksichtigt werden.
Wenn das in Ostasien denkbar war, dann spricht auch nichts prinzipiell dagegen, dass es sich mit der "islamischen Welt" in Teilen ähnlich verhalten könnte.
Zumal anders als in anderen Teilen der Welt der Imperialismus selbst, im Besonderen in Algerien, wie eigentlich im gesamten Maghreb etwas anderer Natur war, weil es sich mindestens in Algerien, Tunesien und Lybien um Siedlungskolonien handelte. Die konnten anders als reine Ausbeutungs- oder Handelskolonien durchaus für die lokale Bevölkerung als Schaufenster europäischer Normen hinhalten und im Bezug auf Algerien wurde Anpassung der lokalen Bevölkerung an die europäischen Verhältnisse vom Kolonialherren durchaus honoriert oder honorierung in Aussicht gestellt.
Das hier, wenn auch die auswertige Macht als Herrschaftsform abgelehnt wurde, die gesellschaftlichn Maßstäbe des Kolonialherren trendsetzend gewesen sein könnten, erscheint da nicht so ganz weit hergeholt. Im besonderen auch deswegen, weil die kolonialen Gesellschaften zunächst gar nicht unbedingt danach strebten aus dem Herrschaftsverband ihrer Kolonialmächte auszuscheiden, sondern zunächst einmal versuchten durch Anerkennung Gleichberechtigung und Autonomien innerhalb des Herrschaftsverbandes für sich zu erreichen.
Anders sind nämlich etwa die Freiwilligenverbänden aus den Kolonien, die Briten und Franzosen im Rahmen des ersten Weltkriegs zusammenstellten nicht zu erklären und darauf weißt auch die Anwesenheit und (in der Regel erfolglose) Aktion der kolonialen Delegationen im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz 1918/1919.