fingalo
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Dem kann ich nur zustimmen.pan narrans schrieb:... Ich denke, dass Wissenslücken zu Lücken in Erzählungen wurden. Dort, wo Anachronismen eingefügt wurden, geschah es mit anderer Absicht, als der bloßen Verlegenheit, Lücken schließen zu müssen.
Im übrigen sind die verarbeiteten Sagen zwar älter, aber wie alt sie sind, weiß niemand, denn die Handschriften stammen ja alle aus der Zeit um oder nach 1000. Die Ausnahme ist ein König Gundobar, zuerst in der Lex Burgundorum um 500 fassbar. Da aber Vornamen gleich Leitnamen sind, die vom Vater auf den Sohn gehen, ist es überhaupt nicht ausgemacht, dass dieser König das Vorbild für den König Gunter ist. Die Tatsache, dass das Burgundenreich zu dieser Zeit schwer angeschlagen wurde, wird traditionell ohne weiteres mit der Vernichtung der Hochzeitsgäste am Hofe Etzels gleichgesetzt, obgleich die Parallelen - außer dass es Tote gab - mehr als dürftig sind und auch unter Außerachtlassung, dass die Burgunden nach dem Geleit der Hochzeitsgäste bis an die Donau umgekehrt waren und nach Hause an den Rhein ritten, also das Reich der Burgonden keineswegs entvölkert war.
Natürlich lagen dem Verfasser ältere Geschichten vor, und er hat sicher andere Sagen gelesen, bevor er sein Werk schrieb; das ist ja unbestritten. Da gibt's den Hürnen Seyfried, der Vorbild für durchs Dranchenblut verhornte Haut des Siegfried ist, da gibt's die Brynhildsagen, die Dietrichsage, auch Saxo Grammaticus erwähnt ein Lied über Krimhild, das 1131 vorgetragen sein soll. Auch ganz andere Geschichten mit anderen Personen haben sicher Material beigetragen - unbestritten (Reginsmál und Fáfnirsmál, um nur zwei zu nennen, wo Drachenkampf und Schatzerwerb zusammengestellt werden, und Sigdrífumál). Nur sind diese Geschichten alle ganz anders aufgebaut und konstruiert. Die Personen haben andere Rollen und andere Bedeutung in dortigen Kontext. In nordischem Erzählzusammenhang erschlägt Siegfried seinen Mörder - im Nibelungenlied muss Hagen für die Handlung noch weiter leben.
Da hat also ein bestens belesener Autor aus den vielen ihm vorliegenden Geschichten (von denen heute die Mehrzahl nicht mehr in die Völkerwanderungszeit verlegt wird; das war die in der Romantik vorherrschende Theorie, die vor allem die Autorität eines Andreas Heusler lange Zeit unangreifbar gemacht hat) Elemente herausgenommen und zu einer neuen Geschichte als Großepos zusammengefügt. Und die große Zahl der Abschriften zeigt, welchen erfolg es hatte. Da drängt sich doch die Frage der Aussageabsicht und nach dem Interesse der an den Abschriften interessierten Kreise geradezu auf.