Ich persönlich neige inzwischen zu dem Standpunkt, dass Souveränität nichts weiter einen systemischen Referenzpunkt darstellt. Souverän ist demnach, nach wessen Ansprüchen/Bedürfnissen sich das gesamte gesellschaftliche System zu richten hat. Das meint jetzt nicht nur das politische oder rechtliche System, sondern wirklich alle Teile, wie etwa das wirtschaftliche, soziale, religiöse etc System. So wäre etwa Volkssouveränität dadurch zu verstehen, dass das gesamte System auf die Ansprüche/Bedürfnisse des Gesamtvolkes zugeschnitten sein muss (das Wirtschaftssystem des Fordismus wäre da etwa ein USA-Beispiel). Mit anderen Worten: Überspitzt formuliert: Souveränität ist nichts weiter eine Fiktion, um das System in seinen Prioritäten zu stabilisieren.
Ich glaube daher nicht, dass Souveränität sehr viel mit dieser Schmitt’sche Kraftmeier-Rhetorik zu tun hat, schon gleich gar nicht in den USA. Soweit ich Beispiele aus den USA kenne, wurden dort Freiräume für gewaltsame Übergriffe vor allem
durch Recht, nicht
über das Recht hinweg geschaffen. Der Ausnahmezustand ist eben ein ganz explizit ins Recht eingebetteter Zustand, was nötig ist, damit er stabil bleibt bzw. legitim ist.
Beispiele: In Guantanamo z.B. wurden rechtsfreie Räume dadurch hergestellt, dass Souveränität und damit konstitutionelle Verpflichtung für den Standort auf Kuba zurückgewiesen wurde (nicht etwa, wie bei Schmitt, durch die Exekutive an sich gerissen!). Historisch ist ein interessantes Beispiel auch das rechtliche Aufweichungsmanöver bei der ‚eingebetteten Souveränität’, die eigenhändig für indianische Stämmen erfunden wurde (damit man die Souveränität dieser Stämme über ihre Territorien eben nicht im völkerrechtlichen Sinne anerkennen musste, sondern rechtlich umdefinieren konnte).
Kleine Übersicht zum Indianerbeispiel
hier. Bei diesem Beispiel ist mein Wissen über solche Allgemeinplätze hinaus ein bisschen schwammig; wenn jemand da gut Bescheid weiß, das wäre bestimmt interessant zu verfolgen. Da käme mal wieder was Historisch-Konkretes zu unserem arg theoretischen Thema hier hinzu. Aber weil’s trotzdem so schön ist, schnell zurück zur Theorie.
Wir haben mittlerweile durch unsere Diskussion hier festgestellt, dass ‚Souveränität’ mal ganz grundsätzlich schwer zu definieren ist. Auch meine oben angeführte persönliche Definition (Souveränität als Referenzpunkt) gilt nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen. Louis XIV würde mir was husten bei dieser Definition!
Foucault hat dieses Grundproblem der Definition in einer Vorlesungsreihe [1] sehr schön nachgezeichnet und dabei auch den historischen Hergang des Begriffes „Souverän“ erläutert. (um mal wieder Foucault zu zitieren statt immer nur diesen ollen Schmitt - zumal Foucault im Gegensatz zu Schmitt Historiker war, was man sehr deutlich an der Rechercheleistung merkt. Schmitt neigt zu lausiger Recherche).
In selbiger Vorlesungsreihe jedenfalls legt Foucault den Finger auf zwei Probleme, um die wir hier in der Diskussion ständig rumeiern:
Erstens, dass man ja schön viel zu dem Begriff Souveränität sagen kann, aber nichts davon wirklich griffig auf die Systeme zu passen scheint, die wir uns anschauen. Das resultiert laut Foucault aus dem grundsätzlichen Problem, dass der Begriff „Souverän“ aus vordemokratischen und vorkapitalistischen Zeiten stammt, und es daher schwierig ist, den Begriff in einer westlichen Demokratie nur einem einzigen politischen Player zuzuweisen. Wir sehen hier in der Diskussion, dass dieser Einwurf nicht unberechtigt ist: Für die USA haben wir inzwischen eine ganze Sammlung von Souveränen, nämlich Volk, Kongress (Bodin), Bundesregierung insb. Präsident (Schmitt), Bürokraten (Butler), nicht zu vergessen, wie ich noch spitzfindig hinzufügen möchte, die einzelnen Bundesstaaten (Robert Cover) [2].
Zweitens weist Foucault auf ein Paradox im Souveränitätsbegriff hin, auf das ich mit meiner obrigens Referenzpunkt-Definition ein bisschen anspiele. Kurz vorab zur Begriffserklärung: Mit „Subjekt“ meint er so was wie Intersubjektivität, also dass Souveränität ein politisches Verhältnis verschiedener Menschen ausdrücke.Er schreibt (in meiner ad hoc-Übersetzung, ich hab das Buch nur auf Englisch; Originalzitat ist unten):
„Subjekt, vereinheitlichte Macht und Gesetz: die Theorie der Souveränität kommt, denke ich, im Zusammenspiel dieser Elemente zum Tragen. Sie setzt jene Elemente gleichzeitig voraus und versucht sie zu begründen.“ [3]
Der letzte Satz ist entscheidend: Souveränität ist eben auch ein retrospektiver Legitimitätsanspruch. Um sagen zu können, dass einem System ein Souverän zugrunde liegt der das System aushebeln kann (wie Schmitt argumentieren würde), muss das System erstmal existieren und so stabil sein, dass es durch die Existenz des Souveräns nicht direkt wieder in seinen Grundfesten bedroht wird. Die Katze beißt sich da in den Schwanz.
[1] Michel Foucault: “Society Must Be Defended.“ Lectures at the Collège de France, 1975 - 76. Editors: F. Bertani, A. Fontana. New York: Picador, 2009. (besonders die Sitzungen vom 14. und 21. Januar 1976).
[2] „The Constitution embodied the recognition in some measure of the formal sovereignty of states, with the attendant formal independence of tribunals.“ Robert Cover: Uses of Jurisdictional Redundancy. In: Martha Minow et al (eds): Narrative, Violence, and the Law. The Essays of Robert Cover. University of Michigan Press, 1995. S. 53.
[3] „Subject, unitary power, and law: the theory of sovereignty comes into play, I think, among these elements, and it both takes them as given and tries to found them.“ Society must be defended, S. 44.