Ich persönlich warne davor, die Prozesse damals so stark an Personen fest zu machen. Es gab damals keinen Kampf zwischen Stalin und Trotzki, sondern einen viel breiter angelegten Konflikt, der sich durch die komplette Kommunistische Partei und die russische Gesellschaft zog.
Es gab den Flügel der sogenannten "Linken Opposition", zu der auch Trotzki gehörte und die sich um einen konsequent am Marxismus orientierten Kurs bemühten, der sich auf eine, den Umständen angemessene, Industrialisierungspolitik und eine Perspektive auf die sozialistische Weltrevolution orientieren wollte.
Und es gab den Flügel, dessen repräsentativste Figur Stalin war und der bis in die späten 20er Jahre eine Industrialisierung radikal ablehnte. Stalin verglich den geplanten Bau des Wasserkraftwerkes am Dnjepr noch Mitte der 20er Jahre mit einem Bauern, der sich statt Saatgut ein Grammophon kauft. Außerdem verfolgte dieser Flügel eine nationalistisch ausgerichtete Politik, die sich in Stalins Theorie des sogenannten "Sozialismus in einem Lande" manifestierte. Die erste große Kehrtwende (eine der vielen im Zickzack-Kurs der politischen Führung nach 1924) kam dann Ender der 20er Jahre, als man anfing die Industrialisierung zu brutal wie möglich durchzuführen, um die verlorenen Jahre aufzuholen, was zu weiteren schwerwiegenden Problemen führen musste.
Der Konflikt zwischen Stalin und Trotzki stellt nur ein sehr viel verkleinertes Abbild der tatsächlichen Prozesse dar. Trotzki schreibt auch in "Verratene Revolution", einem seiner Hauptwerke sehr richtig, dass Stalin sich nicht aufgrund einer besonderen Intelligenz, Skrupellosigkeit oder Ähnlichem durchgesetzt hat, sondern aufgrund der Tatsache, dass er der repräsentativste Vertreter jener Schichten war, denen er selbst entsprang. Die Personifizierung der sozialen Zusammenhänge dieser Zeit verschleiern nur den tatsächlichen Charakter der Vorgänge im revolutionären Russland und später der Sowjetunion. Selbst auf Personen wie Sinowjew oder Kamenew wird dabei meist nie eingegangen, was ein objektives Bild der Lage unmöglich macht.
Als Quelle empfehle ich hier übrigens "Geschichte der Russischen Revolution, Band 2" von Leo Trotzki. Soweit ich weiß, kommt bald eine Version vom Verlag Arbeiterpresse heraus, das sind meistens die besten Trotzki Übersetzungen.