Lili
Aktives Mitglied
Ich lese mich momentan in das soziale Konstrukt „Familie“ und „Verwandtschaft“ in seiner historischen Dimension ein und habe dabei ein besonderes Augenmerk auf den Wandel des Familien- und Verwandtschaftsbegriffs; kurzum, auf den Fragen: Wer gehört in welcher Rolle zur Familie und wer nicht? Wer ist mit wem und vor allem mit welchen Konsequenzen verwandt? Dazu lese ich momentan Gestrich et al. "Geschichte der Familie" und bin akut mit dem Beitrag von Michael Mitterauer zum Mittelalter am kämpfen.
Mitterauer argumentiert aufgrund der dünnen Quellenlage vornehmlich linguistisch und beim ersten Lesen klingt das alles auch absolut logisch, je mehr ich mich aber in das Thema vertiefe desto mehr Fragezeichen tauchen auf. Nachdem Mitterauer mit Literaturangaben eher zurückhaltend ist und ich daher zum Thema gefühlt nicht weiterkomme, wende ich mich heute an euch, in der Hoffnung, dass ihr das ein oder andere Fragezeichen eliminieren könnt.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich nun Eulen nach Athen trage, fasse ich die Thesen von Mitterauer mal kurz zusammen:
Beginnend im Frühmittelalter kommt es zu einer Verschiebung in der Verwandtschaftssystematik von einem bifurkativ-kollateralen hin zu einem linearen Verwandtschaftssystem. Mitterauer macht das an einer Bedeutungsverschiebung der Verwandtschaftsbezeichnungen fest. Während zunächst noch zwischen väterlicher und mütterlicher Verwandtschaftslinie in den Bezeichnungen unterschieden wird, werden die Begriffe mit fortschreitender Zeit parallelisiert, zumeist, indem einer der Begriffe auf die andere Linie übertragen wird. So z.B. im Lateinischen mit dem Patruus (Bruder des Vaters) und dem Avunculus (Bruder der Mutter), wo Patruus spätestens mit dem Vulgärlateinischen unüblich wird, und auch der Bruder des Vaters als Avunculus bezeichnet wird. Diesen Prozess der Parallelisierung identifiziert er zunächst im Vulgärlatieinischen und im Griechischen und dann nach und nach in vielen anderen europäischen Sprachen (entsprechende Beispiele führt er in seinen Ausführungen auch auf). Aus dieser Parallelisierung der Begrifflichkeiten leitet er eine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung von väterlicher und mütterlicher Verwandtschaft ab. Nur: wie fügt sich das in das Konzept der Patrilinearität? Ist die Schlussfolgerung nicht etwas weit gesprungen? Ich bin zum Thema Eherecht und Ehehindernisse noch dabei, spätestens bei Erbrechtsfragen würde ich aber ein großes "ja, aber…" platzieren. Und wieso setzen sich beim Großteil der Verwandtenbezeichnungen ausgerechnet die der weiblichen Linie durch? Ich kenne dazu die Ausführungen von Bettini zur römischen Antike, mir fällt der Zugang zu seiner Argumentation von wegen die warme-emotionale-mütterliche Linie vs. die kalte-harte-väterliche Linie allerdings mehr als nur schwer. Gibt es hierzu vertiefendere linguistische Überlegungen?
Was ich nun wieder etwas besser nachvollziehen kann, ist die Parallelisierung von Bluts- und Heiratsverwandten, was mich dazu aber interessieren würde: wie war es denn vorher, also vor der Bedeutungserweiterung des Cognatus im Lateinischen? Gab es differenzierte Bezeichnungen für Affinalbeziehungen, bevor sich die heute in vielen europäischen Sprachen üblichen Begriffsübertragungen und Komposita durchsetzen, oder wurde strikt getrennt zwischen verwandt auf der einen Seite und verschwägert auf der anderen Seite? Wenn ja: mit welchen rechtlichen/gesellschaftlichen Konsequenzen und dabei vor allem in welcher Striktheit?
Ebenfalls gut nachvollziehbar ist für mich die Logik hinter der geistlichen Verwandtschaft, hier allerdings eine ergänzende Frage: hat jemand eventuell einen Literaturtipp für mich, der sich mit dem getrennten Entwicklungswegen von West- und Ostkirchen zum Thema geistlicher Verwandtschaft auseinandersetzt?
Nun wird diese Entwicklung in der Verwandtschaftssystematik schon als europäischer Sonderweg bezeichnet, wie fügt es sich in dieses Bild ein, dass es auf dem Balkan quasi den Sonderweg zum Sonderweg gibt? Gibt es hierzu vertiefendere Erklärungsansätze (die nun nicht unbedingt linguistisch sein müssen)? Mitterauer kratzt hier leider nur sehr arg an der Oberfläche, so dass ich ihm nicht wirklich folgen kann.
Mitterauer argumentiert aufgrund der dünnen Quellenlage vornehmlich linguistisch und beim ersten Lesen klingt das alles auch absolut logisch, je mehr ich mich aber in das Thema vertiefe desto mehr Fragezeichen tauchen auf. Nachdem Mitterauer mit Literaturangaben eher zurückhaltend ist und ich daher zum Thema gefühlt nicht weiterkomme, wende ich mich heute an euch, in der Hoffnung, dass ihr das ein oder andere Fragezeichen eliminieren könnt.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich nun Eulen nach Athen trage, fasse ich die Thesen von Mitterauer mal kurz zusammen:
Beginnend im Frühmittelalter kommt es zu einer Verschiebung in der Verwandtschaftssystematik von einem bifurkativ-kollateralen hin zu einem linearen Verwandtschaftssystem. Mitterauer macht das an einer Bedeutungsverschiebung der Verwandtschaftsbezeichnungen fest. Während zunächst noch zwischen väterlicher und mütterlicher Verwandtschaftslinie in den Bezeichnungen unterschieden wird, werden die Begriffe mit fortschreitender Zeit parallelisiert, zumeist, indem einer der Begriffe auf die andere Linie übertragen wird. So z.B. im Lateinischen mit dem Patruus (Bruder des Vaters) und dem Avunculus (Bruder der Mutter), wo Patruus spätestens mit dem Vulgärlateinischen unüblich wird, und auch der Bruder des Vaters als Avunculus bezeichnet wird. Diesen Prozess der Parallelisierung identifiziert er zunächst im Vulgärlatieinischen und im Griechischen und dann nach und nach in vielen anderen europäischen Sprachen (entsprechende Beispiele führt er in seinen Ausführungen auch auf). Aus dieser Parallelisierung der Begrifflichkeiten leitet er eine gesellschaftliche und rechtliche Gleichstellung von väterlicher und mütterlicher Verwandtschaft ab. Nur: wie fügt sich das in das Konzept der Patrilinearität? Ist die Schlussfolgerung nicht etwas weit gesprungen? Ich bin zum Thema Eherecht und Ehehindernisse noch dabei, spätestens bei Erbrechtsfragen würde ich aber ein großes "ja, aber…" platzieren. Und wieso setzen sich beim Großteil der Verwandtenbezeichnungen ausgerechnet die der weiblichen Linie durch? Ich kenne dazu die Ausführungen von Bettini zur römischen Antike, mir fällt der Zugang zu seiner Argumentation von wegen die warme-emotionale-mütterliche Linie vs. die kalte-harte-väterliche Linie allerdings mehr als nur schwer. Gibt es hierzu vertiefendere linguistische Überlegungen?
Was ich nun wieder etwas besser nachvollziehen kann, ist die Parallelisierung von Bluts- und Heiratsverwandten, was mich dazu aber interessieren würde: wie war es denn vorher, also vor der Bedeutungserweiterung des Cognatus im Lateinischen? Gab es differenzierte Bezeichnungen für Affinalbeziehungen, bevor sich die heute in vielen europäischen Sprachen üblichen Begriffsübertragungen und Komposita durchsetzen, oder wurde strikt getrennt zwischen verwandt auf der einen Seite und verschwägert auf der anderen Seite? Wenn ja: mit welchen rechtlichen/gesellschaftlichen Konsequenzen und dabei vor allem in welcher Striktheit?
Ebenfalls gut nachvollziehbar ist für mich die Logik hinter der geistlichen Verwandtschaft, hier allerdings eine ergänzende Frage: hat jemand eventuell einen Literaturtipp für mich, der sich mit dem getrennten Entwicklungswegen von West- und Ostkirchen zum Thema geistlicher Verwandtschaft auseinandersetzt?
Nun wird diese Entwicklung in der Verwandtschaftssystematik schon als europäischer Sonderweg bezeichnet, wie fügt es sich in dieses Bild ein, dass es auf dem Balkan quasi den Sonderweg zum Sonderweg gibt? Gibt es hierzu vertiefendere Erklärungsansätze (die nun nicht unbedingt linguistisch sein müssen)? Mitterauer kratzt hier leider nur sehr arg an der Oberfläche, so dass ich ihm nicht wirklich folgen kann.